OGH 2Ob229/01t

OGH2Ob229/01t8.8.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Manfred H*****, S*****, vertreten durch Mag. Sylvia Hafner, Rechtsanwältin in Traiskirchen, gegen die beklagten Parteien 1.) Z*****AG, S*****, 2.) Franz P*****, *****, ***** und 3.) S***** alle vertreten durch Dr. Ingo Ubl, Rechtsanwalt in Wien, wegen EUR 7.666,40 (= S 105.492,-) über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 16. Mai 2001, GZ 35 R 32/01t-21, womit infolge Berufung beider Parteien das Zwischenurteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 7. November 2000, GZ 27 C 624/00t-12 abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass sie zu lauten hat:

"1.) Die Klageforderung von EUR 7.666,40 (= S 105.492,-) besteht zu drei Viertel dem Grunde nach zu Recht.

2.) Die Gegenforderung von EUR 40.835,59 (= S 561.910,-) besteht bis zur Höhe der Klageforderung zu einem Viertel dem Grunde nach zu Recht.

3.) Das Mehrbegehren, die Klageforderung bestehe mit einem weiteren Viertel dem Grunde nach zu Recht, wird abgewiesen."

Die Entscheidung über die Kosten aller Instanzen bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 8. 6. 1999 ereignete sich gegen 8 Uhr 30 auf der A 1 in Fahrtrichtung Wien bei Straßenkilometer 39, 770 ein Verkehrsunfall, bei welchem ein der klagenden Partei gehörender Sattelkraftfahrzug und ein vom Zweitbeklagten gelenkter, von der drittbeklagten Partei gehaltener und bei der erstbeklagten Partei haftpflichtversicherter LKW beteiligt waren.

Die klagende Partei begehrt den Ersatz ihres Fahrzeugschadens. Der LKW-Lenker habe den Sattelkraftfahrzug wegen eines Defekts auf dem ersten Fahrstreifen der Autobahn, die in diesem Bereich keinen Pannenstreifen aufweise, anhalten müssen und die Warnblinkanlage eingeschaltet. Unmittelbar darauf sei der Zweitbeklagte offensichtlich aus Unaufmerksamkeit auf das stehende Fahrzeug aufgefahren, obwohl für einen aufmerksamen Lenker im Nachfolgeverkehr mehr als 100 m weit das mit eingeschalteter Warnblinkanlage stehende Fahrzeug erkennbar gewesen sei. Der Zweitbeklagte sei fast ungebremst auf das stehende Fahrzeug aufgefahren.

Die beklagten Parteien wendete dagegen ein, das überwiegende Verschulden am Zustandekommen des Auffahrunfalls treffe den Lenker des Sattelkraftfahrzuges. Dieser sei wegen Treibstoffmangels zum Stillstand gekommen. Der Lenker habe die Unfallstelle nicht abgesichert und insbesondere kein Pannendreieck aufgestellt. Die klagende Partei habe die von dem am ersten Fahrstreifen der Autobahn stehenden Sattelkraftfahrzug ausgehende außergewöhnliche Betriebsgefahr zu vertreten. Kompensando werde eine Gegenforderung von S 561.910,- eingewendet.

Das Erstgericht hat mit Zwischenurteil die Klageforderung dem Grunde nach mit vier Fünftel, die Gegenforderung dem Grunde nach mit einem Fünftel als zu Recht bestehend festgestellt. Es ging von nachfolgenden Feststellungen aus:

An der Unfallstelle weist die Fahrbahn der A 1 Richtung Wien 3 Fahrstreifen, aber keinen Pannenstreifen auf. In Folge eines technischen Gebrechens, das nicht aus einem Treibstoffmangel resultierte, kam der Sattelkraftfahrzug auf dem ersten Fahrstreifen von rechts zum Stillstand und ließ sich nicht mehr starten. Der Lenker schaltete daraufhin die Warnblinkanlage ein und verließ das Fahrzeug, um an einer Notrufsäule Hilfe zu holen. Die Unfallstelle befindet sich in einer langgezogenen Linkskrümmung am Auslauf einer Fahrbahnkuppe. Die Sichtweite auf den LKW Zug beträgt für nachfolgende Fahrzeuge 200 bis 300 m. Die höchstzulässige Geschwindigkeit an der Unfallstelle beträgt 130 km/h. Der Zweitbeklagte bemerkte aus Unfaufmerksamkeit weder die eingeschaltete Warnblinkanlage am Sattelkraftfahrzug, noch dass er am ersten Fahrstreifen steht und konnte vor dem Zusammenstoß nur mehr kurz nach links auslenken, eine Kollision aber nicht mehr verhindern. Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahingehend, dass den Zweitbeklagten ein erhebliches Verschulden am Zustandekommen des Unfalls treffe, weil er auf einer Strecke von fast 200 Metern reaktionslos auf das stehende Fahrzeug der klagenden Partei zugefahren sei und erst kurz vor der Kollision reagiert habe. Dem Lenker des Sattelkraftfahrzuges könne kein Mitverschulden angelastet werden, weil sein Fahrzeug zufolge eines nicht voraussehbaren Defekts zum Stillstand gekommen sei. Zum Aufstellen eines Pannendreiecks sei er nicht verpflichtet gewesen, weil sein Fahrzeug nicht an einer unübersichtlichen Stelle zum Stillstand gekommen sei. Durch das Anhalten auf der Autobahn werde eine besonders gefährliche Situation herbeigeführt, weil dort höhere Geschwindigkeiten eingehalten würden, weshalb die klagende Partei außergewöhnliche Betriebsgefahr zu verantworten habe. Unter Berücksichtigung der Schwere des Verschuldens des Zweitbeklagten sei von einer Schadensteilung von 4 :

1 zu Gunsten der klagenden Partei auszugehen.

Das von beiden Seiten angerufene Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei nicht, wohl aber jener der beklagten Parteien Folge und sprach aus, dass die Forderung der klagenden Partei dem Grunde nach zu zwei Drittel, die Gegenforderung dem Grunde nach mit einem Drittel zu Recht besteht, maximal jedoch bis zur Höhe der Klageforderung. Die Kostenentscheidung behielt es der Endentscheidung vor. Ausgesprochen wurde weiters, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es traf nach Beweisergänzung folgende - weitere - Feststellungen:

Der Lenker des Sattelkraftfahrzuges betätigte nach einem vergeblichen Versuch, das Fahrzeug neu zu starten, die Warnblinkanlage und verließ es, um nach Hilfe zu telefonieren. Er ging zu einer 70 m entfernten Notrufsäule und verständigte seinen Dienstgeber. Er hatte die Absicht, erst nach Rückkehr zu seinem Fahrzeug die Warneinrichtung (Pannendreieck) aufzustellen. Zwischen dem Stillstand des Fahrzeuges und der Kollision sind 5 - 10 Minuten verstrichen. Bevor der Lenker zur Notrufsäule ging, schaute er in Richtung des herannahenden Verkehrs und meinte, dass die einsehbare Strecke mindestens 200 m reiche.

Rechtlich erörterte das Berufungsgericht, dass zufolge des pannenbedingten Abstellens am ersten Fahrstreifen der Autobahn die Bestimmung des § 89 Abs 2 StVO anzuwenden sei. Danach habe der Lenker eines mehrspurigen Fahrzeuges, das auf einer Freilandstraße auf einer unübersichtlichen Straßenstelle zum Stillstand gelange, diesen Umstand den Lenkern anderer auf den verlegten Fahrstreifen herannahender Fahrzeuge durch das Aufstellen einer nach den kraftfahrrechtlichen Vorschriften genehmigten Warneinrichtung anzuzeigen. Hier liege eine unübersichtliche Straßenstelle vor, weil eine Sichtweite von 200 bis 300 Metern im Bereich einer langgezogenen Linkskrümmung am Auslauf einer Fahrbahnkuppe gegeben sei, wenn man bedenke, dass Autobahn zulässigerweise mit einer Fahrgeschwindigkeit von 130 km/h befahren werden dürften. Der Sekundenweg bei 130 km/h betrage 36,11 Meter, der Bremsweg bei einer Bremsverzögerung von 2,5 m/sec2 260,8 Meter, der Anhalteweg knapp unter 300 Meter. Da nachkommende Fahrzeuglenker insbesondere auf Autobahnen nicht mit am ersten Fahrstreifen abgestellten Fahrzeugen rechneten, wäre der Lenker des Sattelkraftfahrzuges zur unverzüglichen Aufstellung des Warndreiecks verhalten gewesen. Das Unterlassen der Aufstellung einer solchen Warneinrichtung sei als Verschulden anzulasten, wobei im Hinblick auf das Verschulden des Zweitbeklagten, der bei einer Sichtweite von zumindest 200 Metern über mehrere Sekunden reaktionslos auf das stehende Fahrzeug zugefahren sei und erst kurz vor der Kollision reagiert habe, eine Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten der beklagten Partei angemessen erscheine. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil keine Judikatur des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, welche Sichtweite auf Autobahnen vorliegen müsse, damit nicht von einer "unübersichtlichen Straßenstelle" gesprochen werden können, insbesondere wenn in diesem Bereich kein Pannenstreifen vorhanden sei.

Die klagende Partei beantragt in ihrem Rechtsmittel die Entscheidungen der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass dem Klagebegehren zur Gänze stattgegeben werde. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagten Parteien beantragen, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht aufgezeigten Gründen zulässig und teilweise berechtigt.

Nach § 89 Abs 2 StVO hat einer Lenker eines mehrspurigen Fahrzeuges, das auf einer Freilandstraße auf einer unübersichtlichen Straßenstelle, bei durch Witterung bedingter schlechter Sicht, Dämmerung oder Dunkelheit zum Stillstand gelangt, diesen Umstand unverzüglich den Lenkern anderer, auf dem verlegten Fahrstreifen herannahender Fahrzeuge durch das Aufstellen einer nach den kraftfahrrechtlichen Vorschriften genehmigten Warneinrichtung anzuzeigen. Diese Warneinrichtung ist auf dem verlegten Fahrstreifen in der Richtung des ankommenden Verkehrs in einer der Verkehrssicherheit entsprechenden Entfernung von dem zum Stillstand gelangten Fahrzeug aufzustellen, damit sich die Lenker herannahender Fahrzeuge rechtzeitig auf das Verkehrshindernis einstellen können. Da das Gesetz nicht zwischen den verschiedenen Arten von Freilandstraßen unterscheidet, besteht auf Autobahnen oder Autostraßen keine "strengere" Anzeigepflicht als auf "normalen" Freilandstraßen (Dittrich/Stolzlechner StVO3 Rz 2 zu § 89). Damit wäre der Lenker des klägerischen Fahrzeuges zur Aufstellung der Warnvorrichtung (Pannendreieck) dann verpflichtet gewesen, wenn eine unübersichtliche Straßenstelle vorgelegen wäre, weil von den Vorinstanzen weder witterungsbedingte schlechte Sicht; Dämmerung oder Dunkelheit festgestellt wurden (Unfallszeitpunkt 8. 6. 1999, 8 Uhr 30). Ob eine "unübersichtliche" Straßenstelle vorliegt, ist objektiv zu bewerten, und zwar von dem Fahrzeug aus, dessen Lenker die schlechteste Sicht hat (Messiner StVO 10 Anm 2 zu § 24). Unübersichtlich ist eine Straßenstelle dann, wenn für nachkommende Verkehrsteilnehmer die Sicht auf das zum Stillstand gebrachte Fahrzeug so verstellt ist, dass bei Einhaltung der gesetzlich zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Kollision praktisch unvermeidlich ist (zB unübersichtliche Kurven, Fahrbahnkuppen, Engstellen). Die Unübersichtlichkeit einer Straßenstelle kann nicht schematisch beurteilt werden, sondern sie hängt vom Verlauf (zB kurvenreiche oder steile Straße) sowie von der Art der Straße ab; so ist etwa auf Autobahnen wegen der dort geltenden höheren Höchstgeschwindigkeiten ein weiteres Blickfeld zu fordern als auf "normalen" Freilandstraßen (Dittrich/Stolzlechner StVO 3 Rz 20 zu § 89).

Nach den Feststellungen betrug die Sicht auf den pannenbedingt zum Stillstand gekommenen LKW Zug 200 bis 300 Meter. Da die beklagten Parteien ein Verschulden des Lenkers des klägerischen LKW Zuges behaupten, ist zu Gunsten der klagenden Partei von einer Sichtweite von 300 Metern auszugehen. In dieser Entfernung war der auf dem ersten Fahrstreifen der Autobahn zum Stillstand gekommene Sattelkraftfahrzug mit eingeschalteter Warnblinkanlage bei Tageslicht erkennbar. Damit war eine Kollision für einen nachfolgenden Verkehrsteilnehmer nicht "praktisch unvermeidlich" im Sinne der obigen Ausführungen, weil eine Bremsung mit einer Bremsverzögerung von nur 2,5 m/sec2 ausgereicht hätte, um auch bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h ein Fahrzeug zum Stillstand zu bringen (Anhalteweg 289,9 m), bzw unfallverhütend durch Ausweichen zu reagieren. Eine unübersichtliche Straßenstelle im Sinne des § 89 Abs 2 StVO liegt daher hier nicht vor. Die weiters vom Berufungsgericht hervorgehobenen Merkmale (langgezogene Linkskurve im Auslauf einer Fahrbahnkuppe) haben aber nach den Feststellungen auf die Sichtverhältnisse keinen Einfluss. Dem Lenker des klägerischen LKW Zuges ist die Unterlassung der Aufstellung eines Pannendreiecks im konkreten Fall nicht vorzuwerfen.

Es ist aber zu prüfen, ob nicht die klagende Partei für eine von ihrem Fahrzeug ausgehende außergewöhnliche Betriebsgefahr einzustehen hat. Der Unterschied zwischen gewöhnlicher und außergewöhnlicher Betriebsgefahr ist funktionell darin zu erblicken, dass zur gewöhnlichen Betriebsgefahr besondere Gefahrenmomente hinzutreten, die nach dem normalen Ablauf der Dinge nicht schon dadurch gegeben waren, dass ein Fahrzeug überhaupt in Betrieb gesetzt wurde (RIS Justiz RS0058467; ZVR 2000/62; 2 Ob 35/01p; 2 Ob 314/00s). Ein auf einem Fahrstreifen einer Autobahn zum Stillstand gebrachter LKW Zug schafft zweifellos eine äußerst gefährliche Situation, die weit über die vom gewöhnlichen Betrieb ausgehende Gefahr hinausgeht (ZVR 2000/62). Treffen Verschuldens- und Gefährdungshaftung zusammen, so besteht zwischen mehreren beteiligten Fahrzeugen eine Ausgleichspflicht gemäß § 11 Abs 1 letzter Satz EKHG. Stehen einander grobes Verschulden und außergewöhnliche Betriebsgefahr gegenüber, wird für letzte in der Regel eine Quote von 25 % in Ansatz gebracht (ZVR 2000/62), handelt es sich um ein gravierendes (wenngleich nicht grobes) Verschulden, so ist für die außergewöhnliche Betriebsgefahr eine Quote von 1/3 zu veranschlagen (2 Ob 35/01/p; 2 Ob 314/00s). Von dieser Rechtsprechung abzugehen, besteht hier kein Anlass. Da der Zweitbeklagte bei einer Sichtweite von 300 Metern mehrere Sekunden reaktionslos auf den bereits 5 bis 10 Minuten auf dem ersten Fahrstreifen stehenden LKW Zug, dessen Warnblinkanlage eingeschaltet war, reaktionslos aufgefahren ist stehen hier dessen grobes Verschulden der vom klägerischen LKW Zug ausgehenden außergewöhnlichen Betriebsgefahr gegenüber. Danach war die Haftung der beklagten Parteien zu drei Viertel dem Grunde nach auszusprechen. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

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