OGH 14Os109/01

OGH14Os109/0127.11.2001

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. November 2001 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Massauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Mayrhofer, Dr. Holzweber, Dr. Ratz und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Pripfl als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Thomas T***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB, AZU 153/95 des Bezirksgerichtes Silz, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Verfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Antrag wird stattgegeben.

Das Urteil des Bezirksgerichtes Silz vom 2. Feber 1996, GZ U 153/95-9, das in seinem freisprechenden Teil unberührt bleibt, sowie das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 23. Juli 1996, AZ I Bl 211/96 (= GZ U 153/95-14 des Bezirksgerichtes Silz), werden aufgehoben und die Sache gemäß § 363 b Abs 3 StPO an das Erstgericht verwiesen.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Bezirksgerichtes Silz vom 2. Feber 1996, GZ U 153/95-9, wurde Thomas T***** des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig erkannt, weil er am 8. April 1995 in Obsteig (Tirol) als Lenker eines PKWs dadurch, dass er beim kurvenschneidenden (sohin das Rechtsfahrgebot missachtenden) Befahren einer Linkskurve derart weit zum linken Fahrbahnrand geriet, dass er dort den ihm entgegenkommenden Fußgänger Josef K***** streifte, den Genannten, der hiedurch eine Prellung am linken Unterarm bzw am Handrücken und eine schmerzhafte Verletzung an der linken Schulter erlitt, fahrlässig am Körper verletzt hat. Vom weiteren (in Richtung des Vergehens nach § 94 Abs 1 StGB) erhobenen Anklagevorwurf, es nach dem Unfall unterlassen zu haben, Josef K***** die erforderliche Hilfe zu leisten, wurde Thomas T***** rechtskräftig gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Auf Grund der Angaben des Unfallopfers konnte von den ermittelnden Gendarmeriebeamten nach dem Unfall einwandfrei nur das auf Friederike G***** zugelassene (mit abgerissenem linken Außenspiegel vor deren Wohnhaus abgestellte) Unfallfahrzeug, nicht aber der fahrerflüchtige Unfalllenker ausgeforscht werden. Hiefür kam neben der Halterin Friederike G*****, die die Lenkung des Fahrzeuges im Unfallzeitpunkt bestritt und weiters erklärte, keine Kenntnis über die Identität des Unfalllenkers zu haben, zumal das Fahrzeug von mehreren Familienangehörigen benützt werde, vor allem der bei ihr wohnhafte Sohn Thomas T***** in Betracht, weil jener von Beamten des zuständigen Gendarmeriepostens ansonst "hauptsächlich immer" als Lenker des Unfallfahrzeuges wahrgenommen wurde. Wo sich Thomas T***** im Unfallzeitpunkt (ca 5,00Uhr früh) und danach den ganzen Tag über bis 20,00Uhr tatsächlich aufgehalten hat, konnte durch die Gendarmerieermittlungen nicht geklärt werden.

In dem gegen ihn eingeleiteten gerichtlichen Strafverfahren bestritt Thomas T***** Lenker des Unfallfahrzeuges gewesen zu sein und verweigerte im Übrigen jegliche weitere Sachverhaltsangabe. Seine Mutter Friederike G***** und seine Schwester Melanie G*****, die auch schon fallweise das Fahrzeug gelenkt hat, entschlugen sich der Zeugenaussage. Der einzige Unfallzeuge (Josef K*****) konnte über die Identität des Lenkers keinerlei Angaben machen.

Seine Überzeugung von der Schuld des Thomas T***** gründete das Bezirksgericht Silz schließlich allein darauf, dass am zuständigen Gendarmerieposten amtsbekannt sei, dass das gegenständliche Fahrzeug hauptsächlich von ihm gelenkt werde. Dass er dies auch im Unfallzeitpunkt getan habe, sei daraus abzuleiten, dass er zur Zeit der (noch in den Morgenstunden des Unfalltages vorgenommenen) Unfallerhebungen und offensichtlich auch noch bis 20 Uhr dieses Tages nicht zu Hause war und auch sonst niemand Kenntnis von seinem Aufenthaltsort hatte. Demzufolge könne mangels entsprechender Beweise zwar nicht festgestellt, aber vermutet werden, dass sich Thomas T***** wegen Beeinträchtigung durch Alkohol der Verantwortung zu entziehen versucht habe.

Der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Berufung des Thomas T***** gab das Landesgericht Innsbruck mit Urteil vom 23. Juli 1996, AZ I Bl 211/96 (= GZ U 153/95-14), nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied mit Urteil vom 20. März 2001, Beschwerde Nr 33501/96, dass im Fall T***** gegen Österreich durch das Urteil des Bezirksgerichtes Silz vom 2. Feber 1996 und das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 23. Juli 1996 eine Verletzung des Art 6 Abs 2 MRK stattgefunden hat, weil die Gerichte, ohne dass ein Anscheinsbeweis für die Schuld vorgelegen wäre, den Beschwerdeführer zu einer Aussage verhalten und damit die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlagert hätten. Auch wenn die spekulative Annahme der Gerichte, der Beschwerdeführer sei unter Alkoholeinfluss gestanden, nicht unmittelbar von Bedeutung gewesen sei, trage sie zum Eindruck bei, dass die Gerichte eine voreingenommene Sicht von der Schuld des Beschwerdeführers hatten. Zwar sei es in vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung beherrschten Systemen, wie dem österreichischem Strafprozess, zulässig, Schlussfolgerungen auch aus dem Schweigen des Beschuldigten zu ziehen, doch setze dies voraus, dass der in der Verhandlung beigebrachte Beweis einen derart schweren Verdacht begründet, dass aus diesem Schweigen nach dem gesunden Menschenverstand die einzige Schlussfolgerung zu ziehen ist, dass der Beschuldigte keine Antwort auf den gegen ihn erbrachten Beweis hätte. Ein derart überzeugender prima-facie-Beweis lag nach Überzeugung des EGMR in diesem Fall jedoch nicht vor, zumal mehrere Personen die Gelegenheit zur Lenkung des Unfallfahrzeuges gehabt hätten und das Unfallopfer selbst den Lenker nicht identifizieren, ja nicht einmal sagen konnte, ob der Lenker männlich oder weiblich war. Da nicht auszuschließen ist, dass die (durch die Überwälzung der Beweislast bewirkte) Verletzung der Unschuldvermutung (Art 6 Abs 2 MRK) einen für Thomas T***** nachteiligen Einfluss auf den Inhalt der strafgerichtlichen Entscheidungen des Bezirksgerichtes Silz und des Landesgerichtes Innsbruck ausüben konnte, ist eine Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO unumgänglich.

In Stattgebung des Antrages des Thomas T***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO waren daher schon bei der nichtöffentlichen Beratung (§ 363b Abs 3 StPO) die Urteile des Bezirksgerichtes Silz vom 2. Feber 1996, GZ U 153/95-9 (mit Ausnahme des Freispruchs), und des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 23. Juli 1996, AZ I Bl 211/96 (= GZ U 153/95-14 des Bezirksgerichtes Silz), aufzuheben und die Strafsache an das Gericht erster Instanz zur Erneuerung des Verfahrens zu verweisen.

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