OGH 10ObS148/01i

OGH10ObS148/01i28.6.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter MR Dr. Robert Göstl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Dagmar Armitter (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz W*****, ohne Beschäftigung, *****, vertreten durch Dr. Edeltraud Fichtenbauer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen vorzeitiger Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 31. Jänner 2001, GZ 7 Rs 371/00f-16, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. Juli 2000, GZ 8 Cgs 300/99k-12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Prozessgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 8. 3. 1942 geborene und daher zum Stichtag 1. 5. 1999 57 Jahre alte Kläger war ab 7. 1. 1987 als Hallenmeister bei der L***** GmbH in P***** beschäftigt, wobei er überwiegend die Tätigkeit eines Lagerarbeiters verrichtete. Er war für die Ein- und Auslagerung sowie die qualitätsmäßige Kontrolle und laufende Beobachtung des Lagergutes (Getreide) zuständig. Die Anlieferung des Getreides erfolgte in Spezialwaggons für Schüttgut; der Transport in die Halle erfolgte mittels einer mechanischen Förderanlage. Auch die Auslieferung des Getreides erfolgte unter Verwendung technischer Hilfsmittel.

Im Zuge der jährlichen Einlagerung (ca 14 Tage pro Jahr) wurden vom Kläger unter Anleitung der Kontrollstellen Getreideproben entnommen. Zur Entnahme einer Getreideprobe musste der Kläger auf einen Getreidekegel steigen, sank dabei etwa 20 - 30 cm ein und nahm ein Getreidekorn heraus, gab dieses in einen Kübel und entnahm nach Anweisung des Kontrollorganes weitere Proben. Das Kontrollorgan bestimmte, ob der Kläger im Zuge der Einlagerung auf den Waggon steigen musste, um dort Proben zu entnehmen oder ob er diese Proben dem Schüttkegel entnehmen musste. Die Waggons konnten vom Kläger nur über 5 - 5,5 m lange Leitern erreicht werden. Nach der Entnahme der Probe musste der Kläger mit 10 kg schweren Kübeln, die er sich am Arm einhängte, wieder über die Leitern der Silowaggons, auf denen keine Steighilfen angebracht waren, hinuntersteigen. Wenn im Zuge der Einlagerung des Getreides der Schüttkegel eine Höhe von 2 - 3 m erreichte, mussten auch die 8 - 12 m langen Förderbänder, die auf Gummireifen standen, händisch verschoben werden. Der Kläger, der grundsätzlich allein arbeitete, erhielt nur bei Arbeitsspitzen (An- und Auslieferung des Getreides) Unterstützung durch eine weitere Arbeitskraft. Außerhalb dieser Arbeitsspitzen war der Kläger vor allem für die Kontrolle des gelagerten Getreides zuständig. Zu diesem Zweck musste die Temperatur gemessen werden, weil das Getreide im Zuge der Lagerung abkühlt. Dafür gab es einige "Thermometer-Stecher", die in die Getreidemasse eingestochen wurden. Falls die vom Kläger abgelesene Temperatur nicht entsprach, waren die Vorgesetzten des Klägers gehalten, diesen Zustand zu ändern.

Der Kläger kann auf Grund der bei ihm bestehenden Leidenszustände noch leichte Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen - vor allem in wechselnder Körperhaltung - verrichten. Die Verrichtung von auch nur gelegentlich mittelschweren Arbeiten ist hingegen ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen sind Arbeiten, die mit häufigem Bücken, Knien und Hocken verbunden sind, sowie auf Grund der Unsicherheit und Bewegungseinschränkung zur Gänze auch Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, somit auch bloß kurzfristige Arbeiten in geringer Höhe. Die vom Kläger verrichtete Tätigkeit ist somit insofern kalkülüberschreitend, als der Kläger im Zuge der Ein- und Auslagerung des Getreides (etwa 14 Tage pro Jahr) auch über 5 - 5,5 m lange Leitern auf die Waggons klettern musste, um dort Kontrollen durchzuführen, und anschließend mit 10 kg schweren Kübeln, die er sich am Arm einhängte, wieder über die Leitern der Silowaggons, auf denen keine Steigehilfen angebracht waren, hinuntersteigen musste.

Nach der Rechtsansicht des Erstgerichtes sei es für die Berechtigung des vom Kläger geltend gemachten Anspruches entscheidend, ob der Kläger die im Beobachtungszeitraum überwiegend ausgeübte Tätigkeit eines Lagerarbeiters weiterhin ausüben könne. Diese Frage sei zu bejahen, weil dem Kläger für die im Zuge der Ein- und Auslagerung des Getreides nur an etwa 14 Tagen im Jahr anfallenden kalkülüberschreitenden Tätigkeiten (auf Leitern) eine Aushilfskraft zur Verfügung stehe und der Kläger daher die Tätigkeiten nicht unbedingt selbst verrichten müsse. Im Übrigen handle es sich bei diesen kalkülüberschreitenden Tätigkeiten um bloße Nebentätigkeiten, welche mit der Haupttätigkeit keinesfalls typischerweise so verbunden seien, dass beide nur gemeinsam auf dem Arbeitsmarkt gefragt seien. Es sei allgemein bekannt, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch genügend Lagerarbeiter beschäftigt werden, die solche für den Kläger kalkülüberschreitenden Tätigkeiten nicht verrichten müssten. Diesen kalkülüberschreitenden Nebentätigkeiten komme daher für die Frage der Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit keine Relevanz zu.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und schloss sich der Rechtsansicht des Erstgerichtes an, wonach es sich bei den kalkülüberschreitenden Tätigkeiten um bloße Nebentätigkeiten handle, sodass die Unfähigkeit des Klägers zur Verrichtung dieser Tätigkeiten die Anspruchsvoraussetzungen für die Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nicht zu begründen vermöge.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Er beantragt die Abänderung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres Eventualantrages berechtigt.

Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (in der hier maßgebenden Fassung des Art 7 des ASRÄG 1997, BGBl 139) hat der Versicherte unter anderem dann, wenn er in mindestens der Hälfte der Beitragsmonate nach diesem Bundesgesetz während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt hat (Z 3), infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch diese Tätigkeit (Z 3) wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (Z 4) und bereits seit mindestens 20 Wochen gemäß Z 4 gemindert arbeitsfähig ist, wobei Zeiten des Anspruches auf Entgeltfortzahlung oder auf Krankengeld zu berücksichtigen sind (Z 5). Kann der Kläger die von ihm im Beobachtungszeitraum überwiegend ausgeübte Tätigkeit auch unter Berücksichtigung der gesundheitsbedingten Einschränkungen seiner Arbeitsfähigkeit weiterhin verrichten, fehlt es an der im § 253d Abs 1 Z 4 ASVG genannten Voraussetzung für den Anspruch auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, weil der Kläger dann noch imstande ist, durch diese Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein völlig gesunder Versicherter regelmäßig dadurch zu erzielen pflegt.

Nach Ansicht des Erstgerichtes kann der Kläger seine bisherige Tätigkeit ohne Schaden für seine Gesundheit weiterhin verrichten, weil er die an nur rund 14 Tagen im Jahr anfallenden kalkülüberschreitenden Tätigkeiten (auf Leitern) an eine Aushilfskraft delegieren könne. Für diese rechtliche Beurteilung liegt jedoch keine ausreichende Tatsachengrundlage vor. So steht nach den Ausführungen des Erstgerichtes nicht eindeutig fest, ob die kalkülsüberschreitenden Arbeiten auf Leitern nur während der ca 14 Tage dauernden Einlagerung des Getreides oder, wie dies in der rechtlichen Beurteilung ausgeführt wird, auch während der Zeit der - allenfalls laufenden - Auslieferung des Getreides an die Kunden angefallen sind. Vor allem aber fehlen konkrete Feststellungen darüber, wieviele Hilfskräfte in welchem zeitlichen Ausmaß für welche Tätigkeiten dem Kläger zur Verfügung standen und ob es daher dem Kläger auch tatsächlich möglich gewesen wäre, die kalkülüberschreitenden Tätigkeiten zur Gänze an diese Mitarbeiter zu delegieren. Dabei wird im Hinblick auf das auf die Verrichtung bloß leichter Arbeiten eingeschränkte medizinische Leistungskalkül des Klägers auch noch zu klären sein, ob auch das von Zeit zu Zeit notwendige händische Verschieben der Förderbänder das medizinische Leistungskalkül des Klägers überstiegen hat und ob gegebenenfalls auch insoweit für den Kläger die Möglichkeit einer Delegierung dieser Arbeit tatsächlich bestanden hat. Für die vom Erstgericht vertretene Auffassung, der Kläger könne weiterhin seine bisherige Tätigkeit verrichten, weil er die kalkülsüberschreitenden Tätigkeiten an andere Mitarbeiter delegieren könne, fehlt daher nach zutreffender Rechtsansicht des Revisionswerbers die notwendige Sachverhaltsgrundlage.

Der Revisionswerber zeigt aber in seinen Ausführungen zutreffend auch die Notwendigkeit einer weiteren Verfahrensergänzung auf. Nach ständiger Rechtsprechung darf der Versicherte im Rahmen seines Anspruches auf vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nach § 253d ASVG auf Arbeiten verwiesen werden, die zwar im Kernbereich völlig mit der bisher geleisteten Tätigkeit übereinstimmen, bei denen jedoch Nebentätigkeiten wegfallen, die am Arbeitsmarkt mit der Haupttätigkeit nicht typischerweise verbunden sind. Der Kernbereich einer Tätigkeit ergibt sich aus den Umständen, die ihr Wesen ausmachen und diese von anderen Tätigkeiten unterscheiden (SSV-NF 11/53 uva; RIS-Justiz RS0085453; RS0087659 ua). In der Entscheidung SSV-NF 6/35 wurde demgemäß ausgesprochen, dass insbesondere das Tragen und Vorzeigen von Stoffballen und die Tätigkeit bei der Dekoration von Schaufenstern im Kernbereich der Tätigkeit einer Stoffverkäuferin liegen. Die Entscheidung SSV-NF 11/53 betraf einen Versicherten, der in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag ausschließlich als Mechanikermeister im Baumaschinenbereich tätig war, mit welcher Tätigkeit das Arbeiten in exponierten Lagen geradezu berufstypisch verbunden ist. Das Arbeiten in exponierten Lagen, insbesondere auf Baukränen wurde damit dem Kernbereich einer solchen Tätigkeit zugerechnet, weil dies Umstände sind, die das Wesen dieser Tätigkeit ausmachen und sie von anderen Tätigkeiten eines KFZ-Mechanikers unterscheiden. Die Entscheidung SSV-NF 11/62 betraf einen Versicherten, der als Berufskraftfahrer für einen Automobilklub Abschleppfahrten mittels schwerer Lastkraftwagen in ganz Europa durchführte. Auch in diesem Fall wurde dieses Lenken von Abschleppfahrzeugen und die damit verbundenen Tätigkeiten wie das Anlegen von Schneeketten, das Benützen von Auffahrtshilfen und das Arbeiten an exponierten Stellen zum Kernbereich einer solchen Tätigkeit gezählt. Hingegen wurde in der Entscheidung SSV-NF 10/42 ausgesprochen, dass ein Versicherter, der die Tätigkeit eines KFZ-Meisters und Werkstättenmeisters ausübte, nicht von diesem Beruf ausgeschlossen ist, wenn er die dabei anfallenden gelegentlichen schweren körperlichen Tätigkeiten nicht mehr verrichten kann, weil das Verrichten schwerer Arbeiten nicht dem üblichen Berufsbild eines KFZ-Meisters und Werkstättenleiters entsprechend befunden wurde. In der Entscheidung SSV-NF 12/121 wurde schließlich ausgeführt, dass das Einrichten und die Beschickung von Hochregalen nicht zum Kernbereich der Tätigkeit eines Gebietsleiters für den Vertrieb von Autozubehörteilen gehört. Von Bedeutung ist in allen diesen Fällen, dass der Gesetzgeber im Fall des § 253d Abs 1 Z 4 ASVG wie schon in den früheren Fällen der §§ 255 Abs 4 und 273 Abs 3 ASVG nicht nur von einem Berufsschutz im Sinne einer Verweisbarkeit innerhalb der Berufsgruppe, sondern von einem "Tätigkeitsschutz" ausging (SSV-NF 11/62 mwN uva).

Im Fall des Klägers ist davon auszugehen, dass er im maßgeblichen Zeitraum als Hallenmeister für die Ein- und Auslagerung sowie die qualitätsmäßige Kontrolle und laufende Beobachtung des Lagergutes (Getreide) zuständig war. Mit der Kontrolltätigkeit des Klägers waren zeitweise auch Tätigkeiten (auf Leitern) verbunden, die der Kläger unbestritten nicht mehr leisten kann. Es wurde aber von den Vorinstanzen nicht festgestellt, ob die Tätigkeit eines Hallenmeisters mit dem beschriebenen Aufgabenbereich des Klägers in einem Betrieb, der Getreidelagerungen in Lagerhallen zum Gegenstand hat, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise mit den vom Kläger geforderten körperlichen Tätigkeiten, insbesondere der Entnahme von Getreideproben unter Verwendung von Leitern, verbunden ist. Da es dazu an Beweisergebnissen und damit auch an Feststellungen mangelt, werden diese vom Erstgericht nachzuholen sein. Der Hinweis der Vorinstanzen, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt genügend Lagerarbeiter beschäftigt werden, die solche für den Kläger kalkülüberschreitenden Arbeiten nicht ausführen müssen, vernachlässigt den Umstand, dass im Falle des Klägers nicht ein Berufsschutz, sondern ein Tätigkeitsschutz im Sinn des § 253d Abs 1 Z 4 ASVG ausschlaggebend ist (SSV-NF 11/62; 11/110 ua). Das Abstellen auf die an einen Lagerarbeiter (schlechthin) gestellten Anforderungen lässt diesen Unterschied zwischen Berufsschutz und Tätigkeitsschutz außer Acht (vgl SSV-NF 12/50 mwN = ZAS 1999/9 Anm Karl).

Da somit für die abschließende Beurteilung des Falles wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung der Feststellungen im aufgezeigten Sinn durch das Erstgericht aufzuheben. Sollte sich auf Grund der ergänzenden Feststellungen ergeben, dass ein Anspruch des Klägers auf die begehrte Pensionsleistung zu Recht besteht, werden vom Erstgericht im Hinblick auf das Vorbringen der beklagten Partei in der Tagsatzung vom 12. 7. 2000 über das Vorliegen einer Pflichtversicherung nach dem ASVG beim Kläger bis 27. 12. 1999 auch die Voraussetzungen für den Wegfall dieser Leistung gemäß § 253d Abs 2 ASVG zu prüfen sein (vgl 10 ObS 129/99i ua).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO, wobei darauf hinzuweisen ist, dass gemäß § 80 ASGG in Sozialrechtssachen keine Pauschalgebühr anfällt.

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