Spruch:
Die (pauschale) Ablehnung aller Richter des Oberlandesgerichtes Graz (einschließlich dessen Präsidenten) ist gerechtfertigt.
Das (gesamte) Rechtsmittelverfahren in Folge des Urteils des Landesgerichtes Leoben vom 28. Juni 2000, 10 EVr 676/98-528, wird dem Oberlandesgericht Wien übertragen.
Der Delegierungsantrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Mit dem oben bezeichneten Urteil wurden in der in der Öffentlichkeit unter dem Schlagwort "Grubenunglück Lassing" bekannt gewordenen Strafsache die Angeklagten DI Hermann S***** und DI Mag. Dr. Wolfgang W***** je des Vergehens der fahrlässigen Gemeingefährdung nach § 177 Abs 1 und 2 (§ 170 Abs 2 letzter Fall) StGB schuldig erkannt und zu Strafenkombinationen im Sinne des § 43a Abs 2 StGB verurteilt.
Die Mitangeklagten DI Josef J*****, DI Mag. Alfred Z***** und DI Mag. Hans Dieter F***** wurden von der wider sie erhobenen Anklage gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.
Gegen dieses Urteil meldeten die beiden schuldig erkannten Angeklagten die Rechtsmittel der "vollen Berufung", sowie die Staatsanwaltschaft Leoben ihrerseits zum Nachteil der Angeklagten S***** und W***** die Strafberufung und zum Nachteil der übrigen Angeklagten die zuletzt auf vorliegende Nichtigkeitsgründe eingeschränkte Berufung an.
Während seitens des öffentlichen Anklägers und des Angeklagten DI Hermann S***** (unbeschadet seines Antrages auf Fristverlängerung) Rechtsmittelausführungen vorliegen, beantragte der Angeklagte DI Mag. Dr. W***** nach Auflösung des Vollmachtsverhältnisses hinsichtlich beider eingeschrittenen Verteidiger die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers. Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Erstgerichtes vom 21. 11. 2000 (ON 553) abgewiesen.
Mit seiner am 7. 12. 2000 dem Landesgericht Leoben überreichten Eingabe (ON 554) erhebt DI Mag. Dr. W***** nunmehr Beschwerde gegen diesen Beschluss und verbindet damit gleichzeitig die Anträge,
1. die Berufungsausführungsfrist gemäß § 489 Abs 1 iVm § 285 Abs 2 bis 5 StPO zu verlängern,
2. die Strafsache aus wichtigen Gründen gemäß §§ 62, 63 Abs 1 StPO an das Oberlandesgericht Linz zu delegieren und
3. (eventualiter) die Strafsache wegen Befangenheit aller Richter des Oberlandesgerichtes Graz (einschließlich des Präsidenten) diesem Gericht abzunehmen und einem anderen Gerichtshof zweiter Instanz (nach Möglichkeit dem Oberlandesgericht Linz) zu übertragen.
Sowohl der Delegierungs- als auch der Ablehnungsantrag bringen im Wesentlichen vor, dass der Bruder des Zweitangeklagten DI Mag. Dr. Wolfgang W*****, Dr. Paul E. W***** in Strafsachen tätiger Richter des Oberlandesgerichtes Graz sei, desgleichen nunmehr auch der seinerzeitige Erstrichter Dr. H*****. Dadurch sei in der Öffentlichkeit zumindest der Anschein einer besonders milden oder unangemessenen strengen, jedenfalls nicht unbefangenen Behandlung der Sache gegeben.
Nach dem Bericht des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Graz ist zur Entscheidung über die Beschwerde nach der für das laufende Geschäftsverteilungsjahr geltenden Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichtes Graz der 10. Rechtsmittelsenat berufen, dessen Vorsitzender Senatspräsident des Oberlandesgerichtes Dr. Heinz-Joachim G***** ihm die Akten mit der Anzeige seiner Befangenheit zur Entscheidung vorlegte.
Unter Aktenvorlage an den Obersten Gerichtshof berichtete der Präsident des Oberlandesgerichtes Graz, der sich persönlich für nicht befangen erachtet, wie folgt:
"Der Bruder des als ehemaliger Leiter der Berghauptmannschaft Leoben schuldig erkannten Zweitangeklagten DI Mag. Dr. Wolfgang W***** Dr. Paul W***** ist seit Jahren als Richter des Oberlandesgerichtes Graz in Strafsachen (derzeit Senat 11) tätig, wobei er allein schon aufgrund seines familiären Naheverhältnisses naturgemäß ein persönliches Interesse am Freispruch seines Bruders hat und eine unbefangene Verfahrensführung und Entscheidungsfindung in erster Instanz stets in Zweifel zog. Dr. Paul W***** war im Laufe der vergangenen Jahre in unterschiedlichsten Senatszusammensetzungen mit einer Vielzahl von Richterkollegen tätig.
Mit Wirksamkeit vom 1. August 2000 wurde zudem mit Dr. Andreas H***** jener Mann zum Richter des Oberlandesgerichtes Graz ernannt, der den "Lassing-Prozess" in erster Instanz geführt hatte und daher in dieser Sache von einer Tätigkeit im Rechtsmittelsenat ausgeschlossen ist. Auch Dr. H***** ist mit einem Anteil von 50 % seiner Arbeitskapazität in Strafsachen tätig.
Schon das Verfahren erster Instanz fand ein großes mediales Echo, wobei die Berichterstattung hierüber im In- und Ausland eine breite Öffentlichkeit erreichte.
In diesem Zusammenhang wurden gegen den damaligen Erstrichter Dr. H***** Vorwürfe erhoben, er habe das Verfahren nur deshalb (unter Verneinung von Befangenheitsgründen) übernommen, um seine Ernennung zum Oberlandesgericht Graz zu erreichen. Letztlich wurde dem von der Verteidigung gebrauchten Argument, er lehne zur Klärung der Schuldfrage erforderliche ergänzende Beweisaufnahmen nur bzw auch deshalb ab, um das Verfahren rasch zu Ende zu führen und seine in Aussicht stehende Ernennung nicht zu gefährden bzw zu verzögern, in der medialen Berichterstattung große Aufmerksamkeit geschenkt".
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof führte zur Problematik der Befangenheit zur GZ 13 Ns 13/92-7 und auch GZ 13 Ns 6/94-11 unter anderem aus:
"Befangenheit liegt vor, wenn ein Richter an eine Rechtssache nicht mit voller Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit herantritt (11 Ns 14/90, 11 Ns 3/88, 14 Os 141/87, 11 Ns 20/86 ua), somit eine Hemmung zu unparteiischer Entscheidung durch sachfremde psychologische Motive gegeben ist (Mayerhofer-Rieder StPO3 § 72 E 5; JBl 1990, 122; RZ 1989/110; EvBl 1988/153; EvBl 1988/43 ua).
Den unmittelbaren Zugang zur Erkenntnis eines solchen inneren Zustandes hat naturgemäß der betreffende Richter selbst (11 Ns 14/90, 8 Ob 546/82, 6 Ob 549/78). Es kommt jedoch nicht nur darauf an, ob er sich befangen fühlt oder nicht, es genügt grundsätzlich schon der Anschein einer Befangenheit, wofür freilich zureichende Anhaltspunkte gegeben sein müssen, die geeignet sind, bei einem verständig würdigenden objektiven Beurteiler die volle Unbefangenheit des Richters in Zweifel zu ziehen (s erneut EvBl 1988/153; 11 Ns 14/90;
vgl auch Pfeiffer im Karlsruher Kommentar zur dStPO2 § 24 RN 3 und
Loewe-Rosenberg dStPO24 § 24 RN 5 f) .... Wohl aber bietet der
exzeptionelle Umstand, dass ein Richter dieses Gerichtshofes
Angehöriger eines der ... Beschuldigten ist, einen zureichenden
Anhaltspunkt dafür, dass auch bei einem verständig würdigenden objektiven Beurteiler der Anschein einer Befangenheit der Richter dieses Gerichtshofes entstehen kann. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß der richterliche Personalstand des Oberlandesgerichtes ... nicht allzu groß ist und dieser Gerichtshof grundsätzlich in Senaten zu judizieren hat, sodass notwendigerweise eine Vielzahl beruflicher Kontakte zwischen den Richtern gegeben ist.
Der besondere Umstand des andauernden kollegialen Kontaktes mit einem Richter, der Angehöriger eines der beiden Beschuldigten ist, lässt somit den Anschein zu, es könnten die zur Erledigung der Rechtsmittel zuständigen Richter des Oberlandesgerichtes ... aus psychologischen Motiven heraus nicht mit voller Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit an die Sache herantreten."
Der hier zu beurteilende Ablehnungsantrag ist aus den soeben dargelegten Gründen gerechtfertigt. Denn es ist zu erwarten, dass das Berufungsverfahren nicht nur auf ebenso großes Interesse der Medien und der Öffentlichkeit stoßen, sondern im Hinblick auf die (langjährige) Tätigkeit eines nahen Angehörigen eines der Angeklagten und des seinerzeitigen Erstrichters nunmehr beim Rechtsmittelgericht von vornherein mit dem Anschein der Befangenheit konfrontiert sein wird; die mittlerweilige Ernennung des RidOLG Dr. Paul W*****, zum Vizepräsidenten des LG Leoben ändert daran grundsätzlich nichts.
Welchen Ausgang das Verfahren auch immer nehmen würde, würden außenstehende Beobachter unter Berufung auf die dargelegten besonderen Umstände diese als Indiz dafür erblicken, dass der erkennende Senat in die eine oder andere Richtung nicht mit voller Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit zu seiner Entscheidung gelangte.
Es war daher die (eventualiter erfolgte) Ablehnung aller Richter des Oberlandesgerichtes Graz einschließlich dessen Präsidenten als gerechtfertigt zu erkennen und gemäß § 74 Abs 3 StPO die anstehende Entscheidung und das gesamte Rechtsmittelverfahren einem anderen Oberlandesgericht, und zwar aus personellen und Zweckmäßigkeitsgründen dem Oberlandesgericht Wien zu übertragen.
Der (primär gestellte) Delegierungantrag war jedoch ohne weiteres Verfahren sogleich zurückzuweisen, weil er sich allein auf die behauptete Befangenheit stützt, die aber kraft der Spezialbestimmungen der §§ 72 bis 74a StPO als Grund für eine Delegierung nach §§ 62, 63 StPO ausscheidet (SSt 46/57).
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