OGH 11Os108/00 (11Os109/00)

OGH11Os108/00 (11Os109/00)21.11.2000

Der Oberste Gerichtshof hat am 21. November 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kuch als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner, Dr. Habl, Dr. Zehetner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Krüger als Schriftführer, in der Strafsache gegen Sabinus J***** wegen § 28 Abs 1, Abs 2, Abs 4 Z 2 SMG über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 9. März 2000, GZ 6b Vr 9785/99-107, weiters über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Widerruf der bedingten Entlassung (§§ 494a Abs 4, 498 Abs 3 StPO) nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das Urteil, welches in seinem freisprechenden Teil unberührt bleibt, aufgehoben und die Strafsache an das Erstgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung zurückverwiesen.

Mit seiner Berufung und Beschwerde wird der Angeklagte, mit ihrer Berufung auch die Staatsanwaltschaft hierauf verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil, welches auch einen rechtskräftig gewordenen Freispruch enthält, wurde der liberianische Staatsangehörige Sabinus J***** des Verbrechens nach § 28 Abs 2 und Abs 4 Z 2 SMG (Punkt A des Urteilssatzes) sowie des Vergehens nach § 28 Abs 1 SMG (B) schuldig erkannt.

Darnach hat er in Wien

(zu A) von Februar 1999 bis zum 26. Mai 1999 den bestehenden Vorschriften zuwider Suchtgift in einer großen Menge, nämlich Heroin und Kokain in Straßenqualität in Verkehr gesetzt, und zwar

1. im Frühjahr 1999 zusammen mit dem gesondert verfolgten Williams Jones S***** insgesamt 20 bis 25 Gramm Heroin und geringe Mengen Kokain durch Verkauf in Teilmengen an die gesondert verfolgte Gerda K*****;

2. durch Verkauf einer insgesamt großen Menge in der Größenordnung einiger hundert Gramm Heroin und Kokain an unbekannt gebliebene Endabnehmer sowie an weitere Organisationsmitglieder, nämlich den gesondert verfolgten Christopher S***** sowie die unter den Spitznamen "More", "Paul" und "Frank", bekannten Organisationsmitglieder, wobei er die Taten als Mitglied einer Verbindung einer größeren Zahl von Menschen zur Begehung solcher strafbarer Handlungen beging;

(zu B) am 19. April 1999 zusammen mit dem gesondert verfolgten Williams Jones S***** Suchtgift in einer großen Menge, nämlich rund 101 Gramm Kokain und 39.3. Gramm Heroin mit dem Vorsatz besessen, dass es in Verkehr gesetzt werde.

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Schuldspruch richtet sich die auf die Gründe der Z 2, 3, 4, und 5a des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der Berechtigung zukommt:

Zutreffend reklamiert der Beschwerdeführer zunächst die Nichtigkeit der Aussage der in der Hauptverhandlung vom 9. März 2000 vernommenen Zeugin Gerda K***** (S 220 ff/VII). Die Genannte war bereits vor der Polizei des Suchtgiftkonsums verdächtig (S 511 ff/V = ON 19 in ON 70), und auch die Anklage (ON 60, siehe dazu auch das Urteilsfaktum A 1) ging von einer strafgerichtlichen Verfolgung dieser nach eigenen Angaben (S 229/VII) vor Gericht noch nie vernommenen Zeugin aus. Obgleich ihr demnach das Zeugnisbefreiungsrecht nach § 152 Abs 1 Z 1 StPO zukam - dass sie vor der Polizei ein volles Geständnis abgelegt hatte, vermag die Gefahr der Selbstbelastung nicht zu bannen (vgl 14 Os 107/99, 13 Os 109, 110/00) - unterließ das Gericht, sie iSd zitierten Bestimmung zu belehren. Weil die Zeugin (demzufolge) auf das ihr zustehende Entschlagungsrecht auch nicht verzichtet hat, ist sowohl der auf ihrer damit nichtigen Aussage (§ 152 Abs 5 StPO) beruhende Schuldspruch A 1, aber auch der Urteilsspruch B, der von den Tatrichtern ebenfalls auf die Aussage dieser Zeugin gestützt wurde (US 11 und US 12), mit dem Nichtigkeitsgrund nach § 281 Abs 1 Z 3 StPO behaftet. Im Hinblick auf die beweiswürdigenden Erwägungen des Schöffengerichts, wonach unter Berücksichtigung dieser Zeugenaussage der den Suchtgifthandel insgesamt leugnenden Einlassung des Angeklagten kein Glauben geschenkt wurde (US 11), kann darüber hinaus nicht ausgeschlossen werden, dass die zu Recht gerügte Formverletzung auf die Entscheidung auch im Umfang des Schuldspruches A 2 einen nachteiligen Einfluss geübt hat (§ 281 Abs 3 StPO), sodass sich das Urteil im vollen Umfang als nichtig erweist.

Der Beschwerdeführer ist aber auch mit seiner Verfahrensrüge (Z 4) insoweit im Recht, als er die Abweisung seines in Bezug auf die Zielsetzung zwar unpräzise begründeten, sich aus dem Zusammenhang aber schlüssig ergebenden Antrages auf Vernehmung des Zeugen Christopher S***** zum Beweis dafür, dass der Angeklagte dieser Person weder Heroin noch Kokain verkaufte noch Mitglied einer kriminellen Organisation war (S 249/VII), bekämpft:

Die prozeßordnungswidrig erst im Urteil nachgeholte Begründung dieses Zwischenerkenntnisses, dass nämlich die eindeutigen Ergebnisse der Videoaufzeichnung die Frage der Involvierung des Angeklagten in Suchtgiftgeschäfte sowie Suchtgiftverkäufe an Christopher S***** dokumentieren (US 24), lässt eine vorgreifende Beweiswürdigung erkennen. Denn weil das Erstgericht - ohne die als Entlastungsbeweis geführte Aussage des Christopher S***** zu hören - die bis dahin schon vorliegenden Belastungsbeweise für ausreichend hielt, verletzte es seine sich aus §§ 3, 258 StPO ergebende Pflicht, den Umfang des Beweisverfahrens nicht von einer vorzeitig gewonnenen Überzeugung von der Schuld des Angeklagten bestimmen zu lassen (Mayerhofer StPO4 § 281 Z 4 E 80).

Diese vorgreifende Beweiswürdigung betrifft aber nicht nur die Suchtgifttransaktionen mit dem im Urteilstenor zum Faktum A 2 genannten Christopher S***** sondern auch die Suchtgiftgeschäfte mit den nur mit ihren Spitznamen angeführten, sonst aber nicht bekannten Organisationsmitgliedern, die der Angeklagte nach dem Schuldspruch zu A 2 beliefert hat, lässt sich doch eine abschließende Beurteilung dieses Vorwurfs erst nach Würdigung des Beweiswertes des einzig greifbaren Zeugen Christopher S***** vornehmen; damit kann wiederum ein nachteiliger Einfluss der Formverletzung auf den gesamten Umfang dieses Schuldspruchs nicht ausgeschlossen werden (§ 281 Abs 3 StPO). Der Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten war daher bereits in nichtöffentlicher Sitzung gemäß § 285e StPO Folge zu geben, das angefochtene Urteil in seinem schuldig sprechenden Teil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an den Gerichtshof erster Instanz zu verweisen.

Mit seiner Berufung und Beschwerde war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

Im Hinblick darauf erübrigt sich zwar eine Erörterung des weiteren Beschwerdevorbringens. Der Vollständigkeit halber ist allerdings noch festzuhalten:

Auch die gerügte (Z 4) Abweisung (S 255/VII) des Antrags auf Anhörung der akustischen Überwachung unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Ibosprache (S 248/VII iVm Blg A zu ON 105) verletzt die Verteidigungsrechte des Angeklagten. Gleiches gilt für die Abweisung (S 255/VII) der vom Beschwerdeführer beantragten (S 254/VII) Abhörung der aufgezeichneten und ihn betreffenden Telefongespräche sowie der begehrten (S 249 f/VII) Vorführung jener Sequenz der Videoaufzeichnung vom 28. Februar 1999, in welcher die Sicherheitsbehörden und die Staatsanwaltschaft ursprünglich den Angeklagten beim Geldzählen zu sehen vermeinten.

Die (entgegen der Bestimmung des § 238 Abs 2 StPO) erst im Urteil nachgeholte Ablehnungsbegründung (US 22 ff), wonach eine Anhörung der anlässlich der optischen und akustischen Überwachung von Personen unter Verwendung technischer Mittel und anlässlich der Telefonüberwachung aufgezeichneten Gespräche abzuweisen war, weil ein Großteil der Gespräche in Ibo geführt wurde, somit eine Anhörung mangels Beherrschung der Ibosprache keinerlei Ergebnisse erwarten lasse, und überdies eine Übersetzung dieser Gespräche durch einen gerichtlich beeideten Dolmetscher bereits vorliege, sodass die "neuerliche" (eine schon einmal erfolgte Kenntnisnahme der Aufnahme durch den Angeklagten ist im Akt allerdings nicht dokumentiert) Anhörung der Aufnahmen der akustischen Überwachung und der Überwachung des Fernmeldeverkehrs nicht mehr notwendig sei, übergeht den klaren und unmissverständlichen Gesetzeswortlaut sowohl des § 149c Abs 4 StPO als auch des inhaltsgleichen § 149g Abs 3 StPO. Danach muss zur Sicherung der Verteidigungsinteressen (JAB 812 BlgNR XX. GP 8) die (hier im Übrigen gar nicht beantragte) gesamte Aufnahme (und nicht nur allenfalls schon hergestellte schriftliche Übertragungen verfahrensrelevanter Inhalte aus diesen Aufnahmen iSd § 149g Abs 1 und Abs 5 StPO bzw § 149c Abs 1 und Abs 6 StPO) einer Augenscheinnahme zugänglich sein, wenn von dieser Aufnahme in der Hauptverhandlung Gebrauch gemacht wird. Da nach den Erhebungsergebnissen die aufgezeichnete Kommunikation in der Ibosprache geführt wurde, ist im Sinne der §§ 100, 163 und 198 Abs 3 StPO und in Entsprechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes des § 258 Abs 1 StPO die Vorführung dieser Aufname unter Beiziehung eines dieser Sprache mächtigen Dolmetschers geboten, um dem Gericht und den Parteien Gelegenheit zu geben, dieses Gespräch in übersetzter Form mitverfolgen zu können.

Nach § 149c Abs 4 StPO bzw § 149g Abs 3 StPO sind in der Hauptverhandlung über Antrag des Staatsanwaltes oder des Angeklagten selbst jene Teile der Aufnahme vorzuführen, die im Vorverfahren von der Augenscheinnahme ausgeschlossen werden könnten, weil dadurch berechtigte Interessen Dritter beeinträchtigt würden und diese Teile der Aufnahme (aus der Sicht des Untersuchungsrichters) für das Verfahren nicht von Bedeutung sind. Solche Anträge bedürfen keiner Begründung, weil die Verfahrensrelevanz dieses Begehrens vom Gesetzgeber wegen der von weiteren Bedingungen nicht abhängigen Antragslegitimation unwiderlegbar vermutet wird.

Im Übrigen kommt der vom Beschwerdeführer zum Antrag auf Vorführung der Sequenz vom 28. Februar 1999, in der die Sicherheitsbehörden und die Staatsanwaltschaft ursprünglich den Angeklagten beim Geldzählen zu sehen vermeinten, vorgebrachten Begründung, dass aus der Vorführung dieses Teils des Videobandes abzuleiten wäre, dass in der optischen Aufzeichnung eine Person aufscheint, die ihm ähnlich sieht, sodass auch die übrigen dem Angeklagten zugeordneten Aufnahmen wegen der unter Beweis zu stellenden Verwechslungsgefahr keinen eindeutigen Schluss auf die Identität der dort abgebildeten Person mit dem Angeklagten zulassen (S 249 f/VII sowie Blg A zu ON 105), jedenfalls verfahrensrelevante Bedeutung zu:

Diese Antragstellung zielt nicht auf einen Erkundungsbeweis, verantwortete sich doch der Beschwerdeführer dahingehend, dass er verwechselt wurde (vgl S 237 f/VII), sodass die Beweisaufnahme seinen (schuldrelevanten) Prozessstandpunkt, er sei lediglich Opfer eines solchen bereits einmal aufgetretenen Irrtums, bestätigen sollte. Die vom Schöffensenat im Urteil nachgeholte Begründung für die Abweisung dieses Beweisantrages, wonach das Erstgericht sich - unabhängig von der abgelehnten Demonstration der Videoaufzeichnung vom 28. Februar 1999 - bereits überzeugt habe, dass es sich bei der in den vorgeführten Sequenzen zu sehenden Person um den Angeklagten handle, beinhaltet somit abermals eine die Verteidigungsrechte beeinträchtigende vorgreifende Beweiswürdigung, weil eine die Verwechslungsgefahr dokumentierende Filmsequenz in das Verfahren nicht eingeführt wurde. Dass das Erstgericht diesen Irrtum der Sicherheitsbehörde und der Staatsanwaltschaft als aufgeklärt erachtet, bedeutet aber noch kein für-wahr-Halten der zu beweisenden Tatsache einer auch bei den schon vorgeführten Videoaufnahmen auftretenden Verwechslungsgefahr, deren Beurteilung, obgleich sie vor allem den Laienrichtern mangels vorheriger Akteneinsicht erst durch eine Augenscheinnahme möglich gewesen wäre, in der weiteren Urteilsbegründung ausdrücklich ausgeschlossen wurde (US 22: "... ein Irrtum über die Person des Angeklagten auszuschließen ist ..."; vgl auch US 24 f).

Der die Abweisung dieser Beweisanträge kritisierenden Verfahrensrüge (Z 4) kommt daher (auch) Berechtigung zu, wäre doch das Gericht verhalten gewesen, dem Begehren auf Vorführung der audiovisuellen und akustischen Überwachungsaufnahmen jedenfalls nachzukommen. Aus S 51/I geht hervor, dass der Angeklagte Sabinus J***** als UP 15 einer jener vom Beschluss auf Genehmigung des Lauschangriffs im Sinn des § 149d Abs 1 Z 3 StPO erfassten unbekannten Täter war, weil die sich gegen ihn als unbekannten Täter ergebenden Verdachtsmomente aus Observationsergebnissen stammen, die ab dem 16. Jänner 1999 gewonnen wurden und daher vor der Beschlussfassung durch die Ratskammer des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 10. Februar 1999 (ON 31) liegen. Überlegungen, inwieweit die den Beschwerdeführer betreffenden Überwachungsergebnisse sogenannte Zufallsfunde im Sinne des § 149h StPO darstellen, die einer eingeschränkten Verwertung unterliegen, können daher auf sich beruhen.

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