Spruch:
Es verletzen das Gesetz
1. der Vorgang, dass das Bezirksgericht Innsbruck im Verfahren AZ 1 U 88/99s nicht einmal den Versuch unternommen hat, den für die Entscheidung nach § 494a Abs 1 StPO erforderlichen Vorstrafakt AZ 35 Vr 798/97 des Landesgerichtes Innsbruck oder zumindest eine Abschrift des früheren Urteiles beizuschaffen, in der Bestimmung des § 494a Abs 3 StPO;
2. der Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Oktober 1999, GZ 35 Vr 798/97-75, auf Widerruf der mit Urteil vom 5. Juni 1997 (ON 59) gewährten bedingten Strafnachsicht, und der Beschluss des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 23. November 1999, AZ 7 Bs 568/99 (ON 79), mit welchem der gegen die Widerrufsentscheidung gerichteten Beschwerde der Verurteilten Manuela S***** nicht Folge gegeben wurde, in der Bestimmung des § 13 Abs 3 StPO (hinsichtlich der Beschwerdeentscheidung iVm § 114 Abs 4 StPO).
Gemäß § 292 letzter Satz StPO werden diese Beschlüsse aufgehoben und dem Landesgericht Innsbruck die neuerliche Entscheidung über den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 23. September 1999 auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht in der dem Gesetz entsprechenden Zusammensetzung (§ 13 Abs 3 StPO) aufgetragen.
Text
Gründe:
Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Schöffengericht vom 5. Juni 1997, GZ 35 Vr 798/97-59, wurde Manuela S***** des Verbrechens nach § 12 Abs 1 SGG als Beteiligte nach § 12 StGB, des Vergehens nach § 16 Abs 1 SGG sowie des Vergehens des teils vollendeten, teils versuchten Diebstahls nach den §§ 127 und 15 StGB schuldig erkannt und unter Bedachtnahme gemäß §§ 31, 40 StGB auf das Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 11. November 1996, AZ 1 U 1061/96z, zu einer Zusatzfreiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten und fünf Tagen verurteilt; gemäß § 43 Abs 1 StGB wurde diese Strafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
Im Verfahren AZ 27 E Vr 2793/98 des Landesgerichtes Innsbruck wurde Manuela S***** mit Urteil vom 12. Jänner 1999 des Vergehens des unbefugten Gebrauches von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 und 3 erster Fall StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten verurteilt; unter einem wurde vom Widerruf der im Verfahren AZ 35 Vr 798/97 gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.
Mit dem in gekürzter Form (§ 458 Abs 3 StPO) ausgefertigten Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 30. Juni 1999, GZ 1 U 88/99s-11, wurde Manuela S***** wegen des während der Probezeit verwirklichten Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt. Entgegen der im § 494a Abs 1 und 4 StPO normierten Verpflichtung, über einen allfälligen Widerruf gemeinsam mit dem Urteil zu entscheiden, hat das Bezirksgericht Innsbruck - wie dem Akt zu entnehmen ist - nicht einmal den Versuch unternommen, den Akt AZ 35 Vr 798/97 des Landesgerichtes Innsbruck oder eine Abschrift des entsprechenden Vorurteils beizuschaffen und damit die in § 494a Abs 3 StPO vorgesehenen Entscheidungsvoraussetzungen herbeizuführen. Da der bezeichnete Vorstrafakt jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Urteilsfällung dem erkennenden Gericht nicht zur Verfügung stand, hat es die Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht dem gemäß § 495 Abs 1 StPO zuständigen Landesgericht Innsbruck vorbehalten.
Mit Beschluss der Einzelrichterin des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Oktober 1999, GZ 35 Vr 798/97-75, wurde die mit Urteil des Schöffengerichtes vom 5. Juni 1997 gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen.
Der dagegen von Manuela S***** erhobenen Beschwerde hat das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 23. November 1999, AZ 7 Bs 568/99 (= ON 79), nicht Folge gegeben.
Rechtliche Beurteilung
Die Vorgangsweise, dass das Bezirksgericht Innsbruck im Verfahren AZ 1 U 88/99s nicht einmal den Versuch unternommen hat, den für eine Entscheidung nach § 494a Abs 1 StPO unbedingt erforderlichen Vorstrafakt bzw zumindest eine Urteilsabschrift beizuschaffen, entspricht - wie die Generalprokuratur in ihrer (ua auch dagegen) zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend geltend macht - nicht dem Gesetz.
Die mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1987 (BGBl 1987/605) neu eingeführte Bestimmung des § 494a StPO enthält eine Neuordnung des Verfahrens für die Widerrufsentscheidung nach § 53 Abs 1 StGB. Nach der früheren Gesetzeslage oblag die Prüfung, ob die neuerliche Straffälligkeit den Widerruf erforderlich macht, dem Gericht, das die bedingte Strafnachsicht ausgesprochen hatte. Nach dem StRÄG 1987 kommt sie grundsätzlich dem Gericht zu, das über die neue Tat erkennt. Dieses Gericht soll in möglichst weitem Umfang eine kriminalpolitisch wünschenswerte "Gesamtregelung" in der Straffrage vornehmen (JAB zum StRÄG 1987, 359 BlgNR XVII. GP, 53; Jerabek im WK2 § 53 Rz 24). Davon ausgehend ergibt sich aber für das erkennende Gericht die Verpflichtung, die für eine derartige Entscheidung erforderlichen Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Ein Ausspruch nach § 494a Abs 1 StPO setzt grundsätzlich die Anhörung des Anklägers, des Angeklagten und (gegebenenfalls) des Bewährungshelfers sowie (in jedem Fall) die Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung oder zumindest in die Abschrift des früheren Urteils voraus. Dieser nach § 494a Abs 3 StPO bestehenden Verpflichtung ist das Bezirksgericht Innsbruck jedoch nicht nachgekommen, indem es nicht einmal den Versuch unternommen hat, den bezughabenden Vorstrafakt AZ 35 Vr 798/97 des Landesgerichtes Innsbruck beizuschaffen.
Demnach fehlte dem Bezirksgericht Innsbruck aber im Zeitpunkt der Urteilsfällung die Befugnis zum (von ihm für geboten erachteten) Ausspruch des Widerrufs der bedingten Strafnachsicht, weil es (wenngleich auf Grund eigener Säumnis durch Unterlassung der Aktenbeischaffung) an der in § 494a Abs 3 StPO zwingend vorgeschriebenen Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung mangelte. Eine Widerrufsentscheidung durch das erkennende Gericht wäre daher vorliegendenfalls nicht zulässig gewesen und hätte eine (der Verurteilten zum Nachteil gereichende) Gesetzesverletzung bewirkt (vgl 14 Os 37, 38/91).
Der bloß deklarative Vorbehaltsbeschluss des Bezirksgerichtes Innsbruck (die Entscheidungskompetenz für den Widerruf der bedingten Strafnachsicht ist unter den gegebenen Umständen ex lege auf das gemäß § 495 Abs 1 StPO zuständige Landesgericht Innsbruck übergegangen; Jerabek aaO Rz 25; EvBl 1999/153; SSt 60/17) stellt sich als zwangsläufige Konsequenz der vorausgegangenen Gesetzesverletzung dar, ohne selbst inhaltlich auf eine eigenständige Gesetzesverletzung hinauszulaufen.
Im Sinne der weiteren Beschwerdeausführungen stehen aber auch die Beschlüsse des Landesgerichtes Innsbruck vom 8. Oktober 1999 und des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 23. November 1999 mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Gemäß § 13 Abs 3 StPO entscheiden die Gerichtshöfe erster Instanz (unter anderem) in den im § 495 StPO vorgesehenen Fällen eines im schöffengerichtlichen Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung zu fassenden Beschlusses, zu denen auch die Entscheidung über den Widerruf der bedingten Nachsicht einer Strafe außer den Fällen des § 494a StPO zählt (§ 495 Abs 1 StPO), durch einen Senat von drei Richtern (Foregger/Fabrizy StPO8 § 495 Rz 3).
Der von einer Einzelrichterin gefasste Beschluss vom 8. Oktober 1999 auf Widerruf der bedingten Strafnachsicht und die diesen (entgegen § 114 Abs 4 StPO) bestätigende Entscheidung des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 23. November 1999 verletzen sohin das Gesetz in der Bestimmung des § 13 Abs 3 StPO, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies der Verurteilten zum Nachteil gereichte, weshalb nach § 292 letzter Satz StPO vorzugehen war (vgl 15 Os 70/91).
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