Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, der Wahrspruch der Geschworenen und das darauf beruhende Urteil werden aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Geschworenengericht beim Landesgericht Steyr verwiesen. Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Harald S***** wurde auf Grund des Wahrspruchs der Geschworenen (1) des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 zweiter Fall StGB und (2) des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
Darnach hat er im Jänner 1999 in Steyr
(1) mit einer unmündigen Person den Beischlaf unternommen, indem er mit der am 22. November 1985 geborenen Cinderella G***** in zumindest zwei Fällen einen Geschlechtsverkehr vollzog, wobei die Tat eine Schwangerschaft der Unmündigen zur Folge hatte;
(2) durch die unter Punkt 1 geschilderten Tathandlungen als mit der Aufsicht über die Kinder der Gabriela G***** Beauftragter unter Ausnützung seiner Stellung die ihm anvertraute Cinderella G***** zur Unzucht missbraucht.
Die Geschworenen bejahten die auf das Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen gerichtete Hauptfrage 1 samt der Zusatzfrage 2 bezüglich der eingetretenen Schwangerschaft sowie die auf das Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB gerichtete Hauptfrage 3.
Die vom Angeklagten gegen den Schuldspruch aus Z 4 und 5 des § 345 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich im Ergebnis als berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen der Kritik der Rüge nach Z 4 wurde durch die Vorhalte aus den Aussagen der Zeugen Josef und Franziska G***** im Rahmen der Vernehmung des Angeklagten (§ 245 Abs 1 StPO) nicht gegen die Bestimmung des § 252 Abs 4 StPO verstoßen.
Nachdem diese Zeugen der Hauptverhandlung ferngeblieben waren, hatte der Verteidiger zwar auf ihre Vernehmung verzichtet, sich jedoch gegen die Verlesung ihrer Aussagen ausgesprochen, wonach der Vorsitzende antragsgemäß von der Verlesung dieser Zeugenaussagen absah.
Gemäß § 245 Abs 1 StPO wird der Angeklagte vom Vorsitzenden über den Inhalt der Anklage vernommen. Beantwortet der Angeklagte die Anklage mit der Erklärung, er sei nicht schuldig, so hat ihm der Vorsitzende zu eröffnen, dass er berechtigt sei, der Anklage eine zusammenhängende Erklärung des Sachverhaltes entgegenzustellen und nach "Anführung" jedes einzelnen Beweismittels seine Bemerkungen darüber vorzubringen. Davon ausgehend, dass bei verständiger Lesart das in der genannten Gesetzesstelle verwendete "Anführen eines Beweismittels" nicht nur als dessen Benennung aufgefasst werden kann, sondern als Vorhalt seines Inhaltes, zu dem "Bemerkungen" vorgebracht werden können, fällt die auf dieser gesetzlichen Grundlage geschehene "Anführung" - anders als deren "Vorführung" im Rahmen des Beweisverfahrens (siehe § 246 Abs 1 sowie § 325 Abs 1 StPO) - einer Aussage nicht unter die Verlesung und die damit verbundenen Beschränkungen des § 252 Abs 1 StPO. Damit stellt sich die Frage nach (unzulässiger) Umgehung im Sinn des § 252 Abs 4 StPO selbst dann nicht, wenn es bei der gemäß § 245 Abs 1 StPO vorgesehenen Vernehmung des leugnenden Angeklagten erforderlich sein sollte, diesem die Aussage eines Belastungszeugen vorzuhalten, die er im Vorverfahren unter Verzicht auf sein Entschlagungsrecht abgelegt hatte (Mayerhofer StPO4 § 245 E 2).
Zu Recht erblickt allerdings die Verfahrensrüge (Z 5) eine Verletzung von Verteidigungsrechten, weil nach dem Widerspruch des Angeklagten und ohne über den diesbezüglichen Antrag des Verteidigers an den Senat, derartige Vorhalte zu unterbinden, abzusprechen, weitere Vorhalte aus den Aussagen der Zeugen G***** betreffend die (entscheidungswesentliche) Frage, ob der Angeklagte in Kenntnis des Alters des Tatopfers unter 14 Jahren war, gemacht wurden. Denn die Beobachtung der Grundsätze eines das Wesen eines die Verteidigung sichernden fairen (siehe Art 6 EMRK) Verfahrens gebietet, das in der Vorschrift des § 245 Abs 1 gelegene Recht des Angeklagten nicht im Sinne eines privilegium odiosum zu seinem Nachteil ausschlagen zu lassen (Ratz, Zweifelsfragen beim [eingeschränkten] Verlesungsverbot nach § 252 StPO, ÖJZ 2000 [in Druck]). Dies könnte der Fall sein bei früheren Aussagen von Zeugen, deren Angaben den Angeklagten belasten, die somit von den Geschworenen in der Hauptverhandlung gehört, dann aber im Beweisverfahren nicht vorgekommen sind (vgl § 305 StPO). Der Senat hätte daher über den Antrag der Verteidigung, weitere Vorhalte zu unterbinden, entscheiden und im Sinn des Gesagten Vorhalte aus den Zeugenaussagen erst nach der Vernehmung dieser Zeugen in der Hauptverhandlung machen dürfen (§ 248 Abs 4 StPO). Dies trifft allerdings auf die in der Beschwerde ebenfalls kritisierten Vorhalte aus den Aussagen der Zeugin Gabriela G***** (Hauptverhandlungsprotokoll S 11 unten) nicht zu, da diese vor der erwähnten Antragstellung gemacht wurden. Auf die anderen (in der Beschwerde zwar nicht namentlich angeführten, jedoch durch die zitatbezogenen Seitenanzahlen hinreichend konkretisierten) Zeugen Benjamin T*****, Claudia W***** und Theresia W***** deshalb nicht, weil diese ohnehin in der Hauptverhandlung nachher vernommen wurden. Durch die Vorhalte aus den Aussagen der Zeugen Josef und Franziska G***** (wonach der Angeklagte ihnen selbst gesagt hätte, dass das Tatopfer erst dreizehn Jahre alt sei [ON 24 und 25]) nach dem Widerspruch und der beantragten jedoch nicht gefällten Senatsentscheidung ist - mangels späterer Vernehmung dieser Zeugen in der Hauptverhandlung oder Verlesung ihrer Angaben - dem Erstgericht ein Verfahrensfehler unterlaufen, der sich (im Wahrspruch der Geschworenen) zum Nachteil des Angeklagten auswirken konnte. Der Umstand, dass in der Hauptverhandlung vernommene Zeugen den Angeklagten gleichermaßen belastet haben, wie die bloß "angeführten" Aussagen (später) nicht vernommener Zeugen, ändert daran nichts. Denn inwieweit die Geschworenen durch letztere Ausssage bei Fällung ihres Wahrspruchs (sei es auch nur indirekt) beeinflusst wurden, bleibt offen, jedenfalls erschienen sie sogar dem Vorsitzenden so bedeutsam, dass er sie schon vorweg dem Angeklagten (gegen dessen Willen und Antrag) intensiv vorhielt. Dies erfordert die Urteilsaufhebung und Anordnung der Verfahrenserneuerung in erster Instanz bei einer nichtöffentlichen Beratung (§ 285e, § 344 StPO), weshalb sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen erübrigte. Die Verweisung hinsichtlich der Berufung ist eine Folge der kassatorischen Entscheidung.
Im durch den Verfahrensfehler notwendig gewordenen weiteren Verfahrensgang wird das Gericht im besonderen Maße in die Überlegung einzutreten haben, ob die psychische Entwicklung des Tatopfers durch eine abermalige Vorladung und Vernehmung gestört und nicht mit einer (rechtmäßigen) Verlesung dieser Aussage das Auslangen zu finden sein wird.
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