OGH 10ObS232/99m

OGH10ObS232/99m11.1.2000

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Univ. Prof. Dr. Walter Schrammel (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Manfred R*****, Bauarbeiter, *****, vertreten durch Dr. Josef Broinger, Dr. Johannes Hochleitner und Mag. Bernd Thiele, Rechtsanwälte in Eferding, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram und Dr. Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 8. Juni 1999, GZ 12 Rs 103/99z-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. März 1999, GZ 17 Cgs 255/97x-22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Gerichtes erster Instanz zur Gänze wieder hergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 7.184,88 bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens (darin S 1.197,88 Umsatzsteuer) und die mit S 4.058,88 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin S 676,48 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 20. 7. 1944 geborene Kläger erlitt im Mai 1982 im Rahmen seiner unselbständigen Erwerbstätigkeit als Zimmerer und Vizepolier auf einer Baustelle einen Kurbelrückschlag gegen das linke Handgelenk. Bereits Jahre vorher war es zu einem unbemerkten Bruch seines linken Handkahnbeines gekommen; die beiden Bruchflächen hatten sich in der Folge abgedeckelt und es entwickelte sich eine sogenannte Pseudarthrose, die vorerst zu keiner schmerzhaften Bewegungseinschränkung führte. Durch den Unfall im Jahr 1982 wurde diese "klinisch noch stumme" Arthrose in Form von schmerzhaften Bewegungseinschränkungen und einer Kraftminderung aktiviert. Dass innerhalb eines Jahres durch bloß alltägliche Bewegungsabläufe gleichartige Beschwerden aufgetreten wären, konnte nicht festgestellt werden; es ist möglich, dass die Arthrose ohne den Kurbelschlag noch weitere Jahre "klinisch stumm" geblieben wäre. Umgekehrt hätten aber bloße Alltagsbewegungen jedenfalls ausgereicht, um dieselben Folgen zumindest ab November 1996 (Antragstellung am 27. 11. 1996) auszulösen: Seit dieser Zeit wäre es also auch ohne den Kurbelrückschlag zur selben krankhaften Entwicklung und zu derselben Minderung der Erwerbsfähigkeit gekommen, die dauernd mit 20 vH zu beurteilen ist.

Mit Bescheid vom 8. 10. 1997 sprach die beklagte Partei aus, dass das Ereignis vom Mai 1982 nicht als Arbeitsunfall anerkannt werde und ein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung nicht bestehe.

Das Erstgericht gab der dagegen erhobenen Klage statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls vom Mai 1982, bei dem er eine Prellung der linken Handwurzel erlitten habe, ab dem 27. 11. 1996 eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß von 20 vH der Vollrente als Dauerrente zu gewähren und bis zur bescheidmäßigen Festsetzung des Geldbetrages eine vorläufige Zahlung von S 1.000,-- monatlich zu erbringen. Den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt beurteilte es rechtlich wie folgt:

Der Unfall habe sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der der Versicherung begründenden Beschäftigung ereignet (§ 175 Abs 1 ASVG) und die eingetretenen Beschwerden wesentlich mitverursacht. Wesentlich seien jene Bedingungen, ohne deren Mitwirkung der Körperschaden zu einem erheblich späteren Zeitpunkt oder nur in erheblich geringerem Umfang eingetreten wäre. Eine Verfrühung des Körperschadens durch den Unfall um ein Jahr sei jedenfalls erheblich; der Unfall sei dann wesentliche Bedingung für den gesamten Körperschaden, möge er auch erst lange Jahre nach dem Unfall aufgetreten sein (SSV-NF 5/22 = SZ 64/28). Werde aber der Arbeitsunfall als wesentliche Mitursache des im Übrigen anlagebedingten Leidens anerkannt, dann würden sämtliche Leidenszustände, die sich in der Folge wenn auch vielleicht erst Jahre später entwickeln, der Unfallversicherung zugerechnet. § 86 Abs 4 ASVG regle nur den Anfall der Leistungen aus der Unfallversicherung bei verspäteter Antragstellung, verschiebe aber nicht den Zeitpunkt, zu dem das Vorliegen des Versicherungsfalles zu beurteilen sei. Der Kläger habe daher wegen der festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit ab Antragstellung Anspruch auf eine Versehrtenrente von 20 vH der Vollrente.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Urteil des Erstgerichtes im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens ab. Es billigte die Ansicht, dass der Kläger im Mai 1982 einen Arbeitsunfall erlitten habe; der Kurbelrückschlag sei als adäquates Trauma für die Aktivierung der vorher bestandenen Pseudarthrose anzusehen. Hingegen stehe nicht fest, dass diese Aktivierung mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch bei bloß alltäglichen Belastungen innerhalb eines Jahres erfolgt wäre. Dennoch steht dem Kläger keine Versehrtenrente zu. Dieser Anspruch sei nicht - wie der Eintritt des Versicherungsfalls - rückwirkend zu beurteilen, sondern mangels rechtzeitiger Erstattung einer Unfallanzeige ausschließlich nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der verspäteten Antragstellung (27. 11. 1996). Zu diesem Zeitpunkt wäre aber auch ohne den Arbeitsunfall schicksalhaft durch bloße Alltagsbewegungen derselbe Leidenszustand vorgelegen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers sei daher nicht durch den Arbeitsunfall bedingt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Er beantragt die Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des Urteils erster Instanz und stellt hilfsweise einen Aufhebungsantrag.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Nach ständiger Rechtsprechung werden Versehrtenrenten in sogenannten Anlagefällen nur dann zuerkannt, wenn das der Unfallversicherung zuzurechnende Ereignis unter anderem zu einer erheblichen Verfrühung des Körperschadens geführt hat (vgl SSV-NF 5/22, 9/17 ua). Diese Überlegung ist allerdings erst bei der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen für die Rente anzustellen, nicht schon bei der Prüfung, ob überhaupt ein Versicherungsfall vorliegt (Tomandl, SV-System 8. ErgLfg 308 f). Dass es sich bei dem Unfall des Klägers im Mai 1982 um einen Arbeitsunfall im Sinn des § 175 Abs 1 ASVG handelte, ist nicht zweifelhaft und auch nicht mehr strittig.

Für die Bewertung des Ausmaßes des unfallbedingten Schadens kommt es grundsätzlich nicht auf die Verhältnisse zu dem Zeitpunkt an, in dem über den Rentenantrag entschieden wird, sondern auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Eintrittes der Schädigung, weil nur auf diese Weise eine gleiche Behandlung aller durch einen vergleichbaren Arbeitsunfall Beschädigten gewährleistet ist (vgl SSV-NF 10/107 = SZ 69/234). Maßgebender Zeitpunkt für die Feststellung der aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens resultierenden Minderung der Erwerbsfähigkeit ist hingegen der Zeitpunkt der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (Burchardt in Brackmann, Handbuch der SV, Band 3/1, Rz 82 zu § 56 SGB VII). Anspruch auf Versehrtenrente besteht nach § 203 Abs 1 ASVG, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder eine Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 vH vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 vH. Im vorliegenden Fall ist ausschlaggebend, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers nach den Feststellungen dauernd 20 vH beträgt, also auch im Zeitpunkt der Antragstellung.

Wie die Vorinstanzen zutreffend dargelegt haben, regelt § 86 Abs 4 ASVG (lediglich) den Anfall der Leistungen aus der Unfallversicherung: Wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt wurde, fallen diese Leistungen (erst) mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens an, das zur Feststellung des Anspruchs führt. Daraus folgt aber nur, dass der Anspruch des Klägers auf Versehrtenrente frühestens mit dem Tag der Antragstellung (27. 11. 1996) anfallen konnte. Hingegen ist die Frage der Kausalität des Arbeitsunfalls für die derzeit bestehenden Beschwerden des Klägers bzw die Abgrenzung des rechtlich relevanten Schadens (Tomandl aaO 11. ErgLfg 350) im Sinne der obigen Ausführungen nach den Verhältnissen bei Eintritt des Versicherungsfalles zu beantworten. Dass diese Beschwerden ohne das Unfallereignis allein anlagebedingt innerhalb eines Jahres aufgetreten wären, konnte aber gerade nicht festgestellt werden. Die den Kläger treffenden Folgen seiner verspäteten Antragstellung bestehen im Verlust des Rentenanspruchs für den davorliegenden Zeitraum, nicht aber in der Aufhebung der Kausalität bzw rechtlichen Relevanz des Unfalls für Körperschäden trotz anlagebedingter Vorschädigung. Wäre dem Kläger etwa schon vor 15 Jahren eine Versehrtenrente zuerkannt worden, könnte sie ihm nunmehr auch nicht mit der Begründung entzogen werden, anlagebedingte Vorschäden hätten inzwischen zu denselben Folgen (Nachschäden) geführt. Insoweit können schicksalhafte Verschlechterungen des Körperzustandes dem Versicherten nicht nachteilig angerechnet werden.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die beklagte Partei in ihrer Berufung die Feststellung des Erstgerichtes bekämpft hatte, wonach der Arbeitsunfall die Arthrose "dauerhaft" aktiviert habe, weil der Sachverständige von einer "vorübergehenden" Aktivierung ausgegangen sei. Das Berufungsgericht hat jedoch im Ergebnis zutreffend die Frage der vorübergehenden oder dauernden "Aktivierung" der Arthrose für nicht rechtserheblich angesehen, weil unbestritten ist, dass der Zustand des Klägers (nämlich schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und Kraftminderung der linken Hand) nach wie vor gegeben ist, also andauert, weshalb es sich in diesem Belang nicht um eine unrichtige Tatsachenfeststellung, sondern nur um eine Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks handeln kann, die auf das Ergebnis ohne Einfluss bleibt.

Der Revision des Klägers war daher Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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