OGH 10ObS151/99z

OGH10ObS151/99z14.12.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Werner Hartmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Stöcklmayer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Liselotte K*****, Angestellte, *****, vertreten durch Dr. Ullrich Schubert, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Anton Paul Schaffer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Feststellung von Versicherungszeiten, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. März 1999, GZ 10 Rs 350/98h-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 16. September 1998, GZ 33 Cgs 86/98y-9, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

I. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"Ist Artikel 94 Absatz 1 bis 3 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EWG) Nr 1249/92 des Rates vom 30. April 1992, dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach Zeiten der Kindererziehung im Inland als Ersatzzeiten in der Pensionsversicherung gelten, in einem Mitgliedsstaat des EWR (hier: Belgien) jedoch nur dann, wenn sie nach dem Inkrafttreten dieses Abkommens (1. 1. 1994) liegen und überdies nur unter der Voraussetzung, dass für dieses Kind Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft nach dem (österreichischen) Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) oder einem anderen (österreichischen) Bundesgesetz bzw auf Betriebshilfe nach dem (österreichischen) Betriebshilfegesetz besteht oder bestanden hat?"

II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften ausgesetzt. Nach Einlangen der Vorabentscheidung wird das Revisionsverfahren von Amts wegen fortgesetzt werden.

Text

Begründung

I. Sachverhalt:

Die am 29. 6. 1942 geborene österreichische Klägerin ist Mutter von drei Töchtern:

Michaela, geboren am 25. 6. 1966

Christine, geboren am 15. 11. 1967

Elisabeth, geboren am 16. 3. 1969

Am 28. 4. 1970 verlegte die Klägerin mit ihrer Familie ihren ständigen Wohnsitz von Österreich nach Belgien. Im Jahr 1975 kehrte sie wieder nach Österreich zurück und erwarb ab September 1975 wieder Versicherungszeiten der Pflichtversicherung in Österreich.

Auf Grund des Antrages der Klägerin vom 5. 3. 1998 auf Feststellung der Versicherungszeiten wurden von der beklagten Partei mit Bescheid vom 6. 4. 1998 bis zum Ermittlungsstichtag 1. 4. 1998 in der österreichischen Pensionsversicherung insgesamt 355 Versicherungsmonate festgestellt, die sich wie folgt aufschlüsseln:

"von bis Monate Art der Zeit

3.1958 - 6.1958 4 Schul/Studienzeit anspruchswirks. Überg.Best.-Ersatzzeit

11.1958 - 6.1959 8 Schul/Studienzeit anspruchswirks. Überg.Best.-Ersatzzeit

11.1959 - 6.1960 8 Schul/Studienzeit anspruchswirks. Überg.Best.-Ersatzzeit

7.1960 - 8.1960 2 Pflichtversicherung Arb. PV ARB

7.1961 - 8.1961 2 Pflichtversicherung Arb. PV ARB

7.1962 - 7.1962 1 Pflichtversicherung Arb. PV ARB

8.1963 - 8.1963 1 Pflichtversicherung Arb. PV ARB

9.1963 - 8.1964 12 Pflichtversicherung Arb. PV ANG

7.1966 - 4.1970 46 Kindererziehung - Ersatzzeit

9.1975 - 3.1998 271 Pflichtversicherung Ang. PV ANG"

II. Vorbringen der Parteien:

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage der Klägerin auf Feststellung von insgesamt 82 Monaten Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung, also weiterer 36 Monate. Der Aufenthalt in Belgien sei von vornherein nur für eine bestimmte Zeit beabsichtigt gewesen. Für die jüngste Tochter Elisabeth hätten demnach 48 und nicht bloß 12 Monate der Kindererziehung als Ersatzzeiten anerkannt werden müssen. Die Nichtanerkennung einer Kindererziehung im Ausland sei durch den EU-Vertrag obsolet geworden und verletze überdies den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz. Die Klägerin werde schlechter gestellt als Mütter, die ihre Kinder in Österreich erzogen haben.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, dass eine Kindererziehung im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) nur dann einer Kindererziehung im Inland gleichstehe, wenn die Zeit der Kindererziehung nach dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens (1. 1. 1994) liege. Dies sei hier nicht der Fall, weil die Kindererziehung in die Zeit zwischen 1970 und 1975 gefallen sei. Aus Art 2 der Beitrittsakte zum Beitrittsvertrag, BGBl 1995/45, ergebe sich, dass die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte erst ab dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (1. 1. 1995) verbindlich seien. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden EuGH) wirkten die Bestimmungen des EU-Rechts nicht auf Tatbestände zurück, die vor dem Beitritt eingetreten seien.

III. Die Entscheidungen der Vorinstanzen:

Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Feststellung weiterer Versicherungszeiten unter Zugrundelegung des eingangs wiedergegebenen Sachverhaltes ab. Es vertrat die Rechtsauffassung, dass die Klägerin nach den Geburten ihrer drei Töchter bis zur Wohnsitzverlegung nach Belgien am 28. 4. 1970 insgesamt 46 Monate Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung erworben habe. § 227a Allgemeines Sozialversicherungsgesetz ASVG stelle auf die Kindererziehung im Inland ab. Zeiten der Kindererziehung im EWR seien der Kindererziehung im Inland erst für die Zeit ab dem Inkrafttreten des Abkommens über den EWR (1. 1. 1994) gleichgestellt. Die gegenständlichen Kindererziehungszeiten in Belgien seien hingegen noch vor diesem Zeitraum gelegen. Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften gelten erst ab 1. 1. 1995 für Österreich. Die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts wirkten nicht auf vor diesem Zeitpunkt liegende Tatbestände zurück. Der verfassungsrechtliche Gleichheitsgrundsatz verbiete keine unterschiedliche Regelung unterschiedlicher Sachverhalte. Der Klägerin stünden daher keine Ersatzzeiten für die Zeiten der Kindererziehung im Ausland zu.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin teilweise Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass es jene Versicherungszeiten feststellte, die bereits von der beklagten Partei im durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid festgestellt worden waren. Das Mehrbegehren auf Feststellung von weiteren 36 Monaten Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung wies das Berufungsgericht jedoch ab. Rechtlich ging es davon aus, dass die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Kindererziehungszeiten sachlich gerechtfertigt sei. Voraussetzung für die Anerkennung als Ersatzzeiten sei, dass die Versicherte ihr Kind tatsächlich und überwiegend erzogen habe. Diese Voraussetzung lasse sich aber im Inland ungleich leichter beweisen als im Ausland, etwa durch Einsicht in Pflegschaftsakten oder durch die Einholung von Auskünften der Jugendwohlfahrtsbehörden. Derartige Erhebungen im Ausland wären viel schwieriger und brächten häufig kein verlässliches Ergebnis. Ein Wegfall der Beschränkung der Anerkennung von Ersatzzeiten für Kindererziehung auf das Inland könnte zu ähnlichen Missbräuchen wie in der Vergangenheit bei der Familienbeihilfe für Kinder im Ausland führen. Durch die Erhebung der Klage sei der Bescheid der beklagten Partei zur Gänze außer Kraft getreten, sodass auch über jene Versicherungszeiten zu entscheiden sei, die bereits im Bescheid der Beklagten festgestellt worden seien. Insoweit sei daher der Berufung der Klägerin Folge zu geben.

IV. Das dem Obersten Gerichtshof vorgelegte Rechtsmittel:

Gegen den klageabweisenden Teil des Berufungsurteils richtet sich die Revision der Klägerin wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, der Oberste Gerichtshof wolle das Verfahren unterbrechen und die Aufhebung der Worte "im Inland" in § 227a Abs 1 ASVG durch den Verfassungsgerichtshof beantragen und nach dessen Entscheidung das Berufungsurteil dahin abändern, dass der Klägerin die im Ausland verbrachten Zeiten der Kindererziehung angerechnet werden; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin führt auch ins Treffen, die angefochtene Entscheidung lasse die Bestimmungen der VO (EWG) 1408/71 außer Acht.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Während die Klägerin argumentiert, die Unterscheidung zwischen einer Kindererziehung im Inland und einer Kindererziehung im Ausland sei unsachlich und lasse die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 unberücksichtigt, erachtet die Beklagte den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt; auf den Einwand, die österreichische Regelung lasse die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 unberücksichtigt, geht sie nicht ein.

V. Österreichische Rechtslage:

Rechtliche Beurteilung

Der Versicherte ist berechtigt, frühestens zwei Jahre vor Vollendung eines für eine Leistung aus einem Versicherungsfall des Alters maßgebenden Lebensalters beim leistungszuständigen Pensionsversicherungsträger einen Antrag auf Feststellung der nach den österreichischen Rechtsvorschriften zu berücksichtigenden Versicherungszeiten zu stellen. Für die Antragstellung und die Feststellung der Leistungszuständigkeit ist § 223 Abs 2 ASVG entsprechend anzuwenden (§ 247 ASVG). Der Stichtag für die Feststellung, ob der Versicherungsfall eingetreten ist und auch die anderen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, sowie in welchem Zweig der Pensionsversicherung und in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt, ist bei Anträgen auf eine Leistung aus den Versicherungsfällen des Alters der Tag der Antragstellung, wenn dieser auf einen Monatsersten fällt, sonst der dem Tag der Antragstellung folgende Monatserste (§ 223 Abs 2 ASVG).

Versicherungszeiten sind jene Zeiträume, in denen eine Person entweder durch Entrichtung von Versicherungsbeiträgen oder in einer sonstigen gesetzlich anerkannten Form zur Versichertengemeinschaft in einer Beziehung steht. Dementsprechend ist zu unterscheiden zwischen Beitragszeiten und Ersatzzeiten. Letztere sind also bestimmte Zeiten, die, ohne dass für sie ein Beitrag entrichtet worden wäre, als leistungswirksam berücksichtigt werden. Es sind in der Regel Zeiten, während derer der Versicherte aus verschiedenen vom Gesetzgeber anerkannten Gründen nicht in der Lage war, Beiträge zu entrichten. Wegen der besonderen finanziellen Belastung, die die Versichertengemeinschaft durch solche beitragsfrei anzurechnenden Ersatzzeiten trifft, sieht der Gesetzgeber bei verschiedenen Ersatzzeiten Beschränkungen vor.

Im Zuge der Pensionsreform 1993 (51. ASVG-Novelle, SRÄG 1993, BGBl 1993/335) erfolgte ab 1. 7. 1993 eine Neuregelung der Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung. Diese ersetzte die bisherigen Bestimmungen über die Anrechnung von 12 bzw 24 Kalendermonaten (seit 1971 bzw seit Mitte 1990) nach einer Entbindung als Ersatzzeit, über den Kinderzuschlag zur Pension für Frauen mit kurzer Versicherungsdauer und über die Selbstversicherung für Zeiten der Kindererziehung durch eine einheitliche Regelung. Die durch die 51. ASVG-Novelle eingeführte neue Art der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten erfuhr durch die 52. ASVG-Novelle, BGBl 1994/20, eine weitere teilweise Neuregelung einschließlich neuer Paragraphenbezeichnungen, die jedoch für das streitgegenständliche Problem der Kindererziehung im Inland/Ausland nicht weiter von Bedeutung ist.

Der hier maßgebliche § 227a ASVG, der die Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung nach dem 31. 12. 1955 regelt, lautet in der Fassung BGBl 1997/47 auszugsweise wie folgt:

"(1) Als Ersatzzeiten aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1955 gelten

überdies in dem Zweig der Pensionsversicherung, in dem die letzte

vorangegangene Beitragszeit bzw beim Fehlen einer solchen, in dem die

erste nachfolgende Beitragszeit vorliegt, bei einer ... Versicherten,

die ... ihr ... Kind (Abs 2) tatsächlich und überwiegend erzogen hat,

die Zeit dieser Erziehung im Inland im Ausmaß von höchstens 48 Kalendermonaten, gezählt ab der Geburt des Kindes.

(2) ...

(3) Liegt die Geburt ... eines weiteren Kindes vor dem Ablauf der

48-Kalendermonate-Frist, so erstreckt sich diese nur bis zu dieser neuerlichen Geburt ...; endet die Erziehung des weiteren Kindes (Abs 1) vor Ablauf dieser 48-Kalendermonate-Frist, sind die folgenden Kalendermonate bis zum Ablauf wieder zu zählen. Der Erziehung des Kindes im Inland steht eine solche in einem Mitgliedstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gleich, wenn für dieses Kind Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz bzw auf Betriebshilfe nach dem Betriebshilfegesetz besteht bzw bestanden hat und die Zeit der Kindererziehung nach dem Inkrafttreten dieses Abkommens liegt.

..."

In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage der 51. ASVG-Novelle wurde festgehalten, dass durch die Pensionsreform das österreichische Altersversorgungsrecht in Richtung von mehr Verteilungsgerechtigkeit weiterentwickelt werden solle, wozu vor allem die Schließung von im derzeitigen Leistungsrecht noch bestehenden Versorgungslücken (zB Anrechnung von Kinderziehungszeiten) gehöre (RV 932 BlgNR 18. GP, 34). Dass nur die Zeiten der Kindererziehung im Inland Ersatzzeiten begründen können, wurde in der Regierungsvorlage nicht besonders begründet. Ein Hinweis auf die Relevanz der Beweisschwierigkeiten im Zusammenhang mit der Ermittlung von Versicherungszeiten, worauf vor allem das Berufungsgericht abstellt, findet sich in der Regierungsvorlage zur 51. ASVG-Novelle nur hinsichtlich der Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei Geburten vor dem 1. 1. 1956; diesbezüglich wird nämlich auch noch der Wohnsitz des (der) Versicherten im Inland im Zeitpunkt der Geburt verlangt (§ 228a Abs 1 Z 1 ASVG; RV 932 BlgNR 18. GP, 46).

Die Regierungsvorlage zur 51. ASVG-Novelle bemühte sich jedoch auch im Zusammenhang mit dem Ort der Vornahme der Kindererziehung ausdrücklich um EG-Konformität der Neuregelung der Ersatzzeiten (RV 932 BlgNR 18. GP, 46). Die diesbezüglichen Überlegungen lauten:

"Im Hinblick auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes betreffend die Freizügigkeit (insbesondere betreffend Artikel 51 des EWG-Vertrages - Artikel 29 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum) musste ferner sichergestellt werden, dass die Gewährung von Kindererziehungszeiten nicht nur auf Personen eingeschränkt wird, die die Kindererziehung im Inland vornehmen. In Anlehnung an eine diesbezügliche deutsche Regelung im Rahmen der EG (Anhang VI/C.Deutschland/19 zur Verordnung des Rates [EWG] Nr 1408/71 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung [EWG] Nr 2195/91 vom 25. Juni 1991, ABl Nr L 206 vom 29. Juli 1991, Seite 2-Anhang VI zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum) wird die Kindererziehungszeit auch jenen Personen gewährt, die sich der Kindererziehung zwar in einem anderen EWR-Staat widmen, aber Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft bzw auf Betriebshilfe nach den österreichischen Rechtsvorschriften haben oder hatten.

Im Übrigen wird klargestellt, dass die in einem EWR-Staat zurückgelegten Kindererziehungszeiten nur in dem Ausmaß zu berücksichtigen sind, als sie nach dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens liegen und die Mutter einen Anspruch auf eine Geldleistung aus der österreichischen Sozialversicherung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft hat."

VI. Vorlagefrage:

Der Oberste Gerichtshof sieht sich aus folgenden Erwägungen veranlasst, den EuGH um eine Vorabentscheidung zu der oben formulierten Frage zu ersuchen:

Das europäische Sozialrecht soll grundsätzlich kein einheitliches europäisches soziales Sachrecht hervorbringen. Das Gemeinschaftsrecht lässt vielmehr das soziale Sachrecht der Mitgliedsstaaten - jedenfalls grundsätzlich - unberührt. Der Gemeinschaft steht auch keine allgemeine Rechtsetzungsbefugnis für das sozialrechtliche Sachrecht zu, weshalb sie auch nicht eine Harmonisierung der Sozialleistungssysteme schaffen kann (Eichenhofer, Sozialrecht als Gegenstand des Gemeinschaftsrechts, in Oetker/Preis, EAS 8. ErgLfg B 1200 Rz 50; Schrammel in ZAS 1999, 33 [34] ua). Die Verordnung (EWG) Nr 1408/71, die in Österreich zugleich mit dem Inkrafttreten des EWR (1. 1. 1994) wirksam wurde, enthält im Wesentlichen internationale Kollisionsnormen, die den Rechtsanwender jeweils nur dazu berechtigen, das eigene Sachrecht auf die ihm zur Gestaltung oder Entscheidung überantworteten Sachverhalte anzuwenden (SSV-NF 11/18 = DRdA 1997/49 [Eichenhofer]).

Wie auch der EuGH in seiner Judikatur festgestellt hat, sind die Mitgliedsstaaten bei der Festlegung, unter welcher Voraussetzung jemand einem nationalen System angehört somit nach den nationalen Rechtsvorschriften Versicherungszeiten entstehen, autonom. (EuGH 12. 7. 1979, 266/78, Brunori - Slg 1979, 2705; EuGH 24. 4. 1980, 110/79, Coonan - Slg 1980, 1445; EuGH 4. 10. 1991, 349/87, Paraschi - Slg 1991, I-4501).

Da der zentrale Gegenstand des europäischen Sozialrechts die kollisions- und koordinationsrechtlichen Regelungen sind, stehen im Mittelpunkt seines sachlichen Geltungsbereichs die Leistungsgattungen der sozialen Sicherheit (Eichenhofer aaO Rz 69 mwN). Dieser Begriff wird in Artikel 4 der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 definiert. Er umfasst unter anderem auch die Leistungen bei Alter.

Das internationale Sozialrecht soll im Wesentlichen folgende Ziele erreichen (Eichenhofer aaO Rz 84 mwN):

1. Gleichstellung der Staatsangehörigen, das heißt Einebnung aller sozialrechtlichen Unterschiede, die auf der Staatsangehörigkeit beruhen.

2. Erhaltung der wohlerworbenen Rechte auch bei Auslandsaufenthalt des Berechtigten; dies ist durch Ausfuhr von Geldleistungen und Erbringung von Sach- und Dienstleistungen im Ausland zu gewährleisten.

3. Erhaltung der Anwartschaft im Zuge ihres Erwerbs durch Bildung von internationalen Versicherungsverläufen, Zusammenrechnung der in mehreren Staaten zurückgelegten Zeiten für den Anspruchserwerb und Regelung der Anspruchshöhe in solchen Fällen.

4. Gebietsgleichstellung für sonstige anspruchsbegründende Merkmale durch Berücksichtigung von im Ausland erfüllten Tatbestandsmerkmalen, wie wenn sie im Recht des zuständigen Staates erfüllt worden wären.

5. Internationale Amtshilfe durch Einsatz der den Verwaltungen oder Gerichten eines Staates zustehenden Befugnisse zur Verwirklichung von Zwecken zu Gunsten der Verwaltung oder Gerichte anderer Staaten.

Zum zeitlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 liegen bereits inländische Urteile vor. In einem Urteil zur Berufsunfähigkeitspension hat etwa der Oberste Gerichtshof darauf abgestellt, dass der Arbeitnehmer die Freizügigkeit für einen Zeitraum in Anspruch genommen habe, in dem Österreich weder dem EWR noch der EU angehört habe. Die Rechtsgrundlage für die unmittelbare Wirksamkeit der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 sei das EWR-BVG, BGBl 1993/115, das zugleich mit dem Inkrafttreten des EWR in Kraft getreten sei; eine Rückwirkung sei dort nicht vorgesehen. Wenn der anspruchsauslösende Sachverhalt vor dem inländischen zeitlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 liege, sei diese auf den Sachverhalt nicht anwendbar. Auch nach Gemeinschaftsrecht gelte grundsätzlich das Verbot der Rückwirkung von Normen, wonach es aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit unzulässig sei, gesetzliche Bestimmungen entweder unmittelbar oder mittelbar auf abgeschlossene in der Vergangenheit liegende Tatbestände einwirken zu lassen (OGH 15. 4. 1997, 10 ObS 2334/96z). Bereits im Jahre 1996 (OGH 13. 6. 1996, 8 ObS 2141/96b) hatte der Oberste Gerichtshof ausgeführt, dass eine Rückwirkung des EWR-Abkommens nicht vorgesehen sei. Liege der Sachverhalt, auf den ein Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Insolvenz-Ausfallgeld stützte, vor dem inländischen zeitlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71, so seien deren Bestimmungen auf ihn nicht anwendbar.

Während ein Teil der österreichischen Lehre der obigen Rechtsprechung Europarechtskonformität zubilligt, und ebenfalls davon ausgeht, dass vor dem 1. 1. 1994 gelegene Sachverhalte mit Österreichbezug nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 fallen, wurde vor allem die Entscheidung 10 ObS 2334/96z im Schrifttum mehrheitlich insbesondere unter Hinweis auf die Übergangsvorschriften für Arbeitnehmer in Artikel 94 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 kritisiert.

Artikel 94 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 lautet auszugsweise wie folgt:

"(1) Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem 1. Oktober 1972 oder vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon.

(2) Für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach dieser Verordnung werden sämtliche Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungs- und Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats oder in einem Teil davon zurückgelegt worden sind.

(3) Ein Leistungsanspruch wird auch für Ereignisse begründet, die vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon liegen, soweit Absatz 1 nicht etwas anderes bestimmt.

..."

Von jenen österreichischen Autoren, die die Entscheidung 10 ObS 2334/96z kritisch besprochen haben, wird insbesondere betont, dass der Wortlaut des Artikel 94 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 für die Anwendbarkeit der Verordnung auf vor ihrem Inkrafttreten zurückgelegte Versicherungskarrieren und leistungsbegründende Ereignisse spreche. Dass das Übergangsrecht gerade nicht auf den formellen Wanderarbeitnehmerbegriff abstellen könne, sondern insofern einen etwas modifizierten Begriff vor Augen habe, sei logisch naheliegend. Immerhin gehe es doch um Versicherungszeiten, die vor Beitritt des jeweiligen Staates erworben worden seien, also um Zeiten, wo schon begrifflich keine Wanderarbeitnehmereigenschaft im Sinne des Artikel 48 EGV vorliegen könne, da dem Versicherten zu diesem Zeitpunkt auch die Staatsangehörigkeit eines EG- bzw EWR-Bürgers gefehlt habe. Wichtig sei nur, dass er die erforderliche Staatsangehörigkeit jedenfalls noch nach dem Beitritt habe (Buhari Haji - Slg 1990 I-4211 [4238f RdNr 23]). Ausgehend vom Normzweck des Artikel 94 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 müsste der Begriff "Ereignis" im Interesse einer Rechtsvereinheitlichung weit interpretiert werden. Ausgehend von einem weiten Begriffsverständnis fiele darunter jedes für den Leistungsanspruch relevante Tatbestandselement. Die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 sei hinsichtlich der Versicherungszeiten und der leistungsbegründenden Ereignisse rückzuerstrecken, während die Leistungsansprüche erst mit dem Stichtag beginnen können. Es sei zwischen dem "Rechtsbedingungsbereich" und dem "Rechtsfolgenbereich" zu unterscheiden. Hinsichtlich des ersteren sollte eine Rückerstreckung erfolgen, der zweitere sollte hingegen erst mit dem Inkrafttreten beginnen.

Die österreichische Regelung hinsichtlich der Anrechnung der Kindererziehung als Ersatzzeit in § 227a ASVG betrifft nach ihrem Wortlaut grundsätzlich alle Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleichermaßen. Die bereits erwähnte "Klarstellung" in der Regierungsvorlage zur 51. ASVG-Novelle, dass die in einem EWR-Staat zurückgelegten Kindererziehungszeiten nur in dem Ausmaß zu berücksichtigen seien, als sie nach dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens liegen (RV 932 BlgNR 18. GP, 46), scheint auf den ersten Blick nicht im Widerspruch zu den Erfordernissen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu stehen. Denn rund 20 Jahre vor der Einführung der Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung als Ersatzzeiten einerseits und dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens in Österreich andererseits konnten die jetzt angestellten Überlegungen die Klägerin jedenfalls nicht von der Ausübung der Kindererziehung in Belgien abhalten (vgl Paraschi - Slg 1991, I - 4501 [RdNr 25]; EuGH 9. 12. 1993, C-45/92 und C-46/92 , Lepore und Scamuffa - Slg 1993, I - 6497 [RdNr 21 f]). Fraglich ist aber dennoch, ob die Regelung des § 227a Abs 3 ASVG, die die Erziehung eines Kindes im Inland einer solchen in einem Mitgliedstaat des EWR-Abkommens erst für die Zeit gleichstellt, die nach dem Inkrafttreten des Abkommens liegt (1. 1. 1994), mit Artikel 94 Absatz 1 bis 3 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 in Einklang steht. Dazu kommt, dass die Ersatzzeitenregelung für Kindererziehung im Inland ohne weitere Voraussetzung gilt, während § 227a Abs 3 ASVG im Falle der Erziehung eines Kindes in einem Mitgliedstaat des EWR-Abkommens überdies noch zusätzlich verlangt, dass für dieses Kind Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft nach diesem oder einem anderen (jeweils österreichischen) Bundesgesetz bzw auf Betriebshilfe nach dem Betriebshilfegesetz besteht bzw bestanden hat. Zwar begründet die Verordnung (EWG) Nr 1408/71 nach der genannten Bestimmung keinen Anspruch für einen Zeitraum vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats (Absatz 1), doch werden für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach dieser Verordnung sämtliche Versicherungszeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaats vor der Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedsstaats zurückgelegt worden sind (Absatz 2). Ein Leistungsanspruch wird auch für Ereignisse begründet, die vor der Anwendung dieser Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedsstaats liegen, soweit Absatz 1 nicht etwas anderes bestimmt (Absatz 3). Fraglich ist nun einerseits, ob die "Kindererziehung" (im Inland) nach § 227a ASVG ein "Ereignis" im Sinne des Artikel 94 Absatz 3 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 ist, andererseits, ob Absatz 1 des Artikel 94 Verordnung (EWG) Nr 1408/71 etwas anderes für die Anwendung der Verordnung auf die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verordnung im Gebiet des betreffenden Mitgliedsstaats bestimmt. Dies stünde nämlich nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Absatz 3, letzter Halbsatz der Rückwirkung für Ereignisse vor Anwendung der Verordnung in Österreich ab 1. 1. 1994 entgegen.

Nach Artikel 177 Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) sind alle Gerichte der Mitgliedsstaaten, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, also insbesondere der Oberste Gerichtshof, zur Anrufung des EuGH verpflichtet, wenn sich eine entscheidungserhebliche Frage der Auslegung von Gemeinschaftsrecht stellt.

Im vorliegenden Fall liegt - soweit überblickbar - eine Rechtsprechung des EuGH zur Anwendung der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 auf lange vor dem Beitritt eines Mitgliedstaates verwirklichte Sachverhalte, insbesondere im Zusammenhang mit der Kindererziehung nicht vor. Die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist angesichts der dargestellten Argumente auch nicht derartig offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bliebe ("acte clair").

Die Aussetzung des Revisionsverfahrens bis zur Beendigung des Vorabentscheidungsverfahrens beruht auf § 90a Gerichtsorganisationsgesetz (GOG).

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