OGH 10ObS130/99m

OGH10ObS130/99m30.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Walter Kraft (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Nadezda S*****, vertreten durch Dr. Viktor Thurnher, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Februar 1999, GZ 10 Rs 354/98x-17, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 9. Juni 1998, GZ 3 Cgs 30/98t-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die am 14. 2. 1948 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt, insbesondere auch nicht jenen der Kellnerin. Sie arbeitete in verschiedenen Gastgewerbebetrieben, und zwar

1. bei der Vladimir & Tomas D***** Gesellschaft mbH an der Kasse,

2. bei der Josef D***** Gesellschaft mbH an der Kasse,

3. bei der Karl K***** Gesellschaft mbH in der Küche,

4. bei der Albert M***** & Co Gesellschaft mbH i. L., Cafe E*****, als Kellnerin vom 22. 7. bis 16. 9. 1982,

5. bei der Ö***** AG, G*****, als Wirtschafterin,

6. bei der W***** Gesellschaft mbH im Bereich der S***** während Konzert- und ähnlichen Veranstaltungen hinter der Theke (Getränkeausgabe),

7. bei Herbert S*****, Cafe-Konditorei, als Kellnerin vom 6. 8. 1984 bis 8. 5. 1987,

8. bei der L***** Gesellschaft mbH, Restaurant, hinter der Theke (Getränkeausgabe).

Die Tätigkeiten laut 1. bis 3. liegen laut den Angaben im Pensionsakt ebenso wie die Tätigkeit laut 4. außerhalb des 15jährigen Beobachtungszeitraums vor dem Stichtag (1. 11. 1997).

Die Klägerin ist auf Grund ihrer leidensbedingten Zustände (Wirbelsäulenfehlhaltung, mäßige Hüftkontraktur links nach Schenkelhalsfraktur) nur mehr in der Lage, eingeschränkt mittelschwere Arbeiten zu leisten. Die maximale Hebe- und Trageleistung beträgt 15 kg. Ein Drittel der Arbeitszeit, bezogen auf einen 8stündigen Arbeitstag, muss im Sitzen gearbeitet werden. Ausgenommen sind Arbeiten in gebückter Haltung.

Mit Bescheid vom 11. 2. 1998 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass sie nicht invalid sei. Die Klägerin, die keinen Berufsschutz genieße, sei noch im Stande, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben.

Dagegen richtet sich die Klage auf Gewährung der Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab dem Stichtag. Die Klägerin sei 1969 aus der Tschechoslowakei nach Österreich gekommen und habe seither im Gastgewerbe gearbeitet. Auf Grund ihres Gesundheitszustandes sei sie nicht mehr im Stande, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, dass die Klägerin, die in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag als Serviererin gearbeitet habe, noch im Stande sei, ausreichende Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren unter Zugrundelegung der eingangs wiedergegebenen Feststellungen ab. Dabei vertrat es die Rechtsauffassung, dass die Klägerin den Beruf der Kellnerin auch nicht angelernt habe. Die Klägerin habe zwar bei zwei Arbeitgebern als Kellnerin gearbeitet, sonst jedoch lediglich im Bereich der Getränkeausschank, als Wirtschafterin oder in der Küche. Als ungelernte Arbeiterin müsse sich die Klägerin auf dem gesamten Arbeitsmarkt verweisen lassen. Das medizinische Leistungskalkül erlaube der Klägerin noch die Tätigkeiten einer Aufseherin, Bürodienerin, Parkgaragenkassiererin oder Verpackungs- oder Einschlichtungstätigkeiten in der Elektro-, Elektronik- oder Kunststoffbranche.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Dem Anstaltsakt sei zu entnehmen, dass die Klägerin innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag 70 Beitragsmonate erworben habe, wovon mehr als die Hälfte auf die Tätigkeit als Kellnerin entfielen. Die Klägerin sei jedoch immer nur mit Teiltätigkeiten dieses Berufsbildes befasst gewesen. Das Anlernen von korrektem Tischdecken, Begrüssen, Empfang und Beratung der Gäste, Servieren, Kenntnis und Zubereitung von Speisen und Getränken habe gar nicht stattfinden können. Die Klägerin genieße daher keinen Berufsschutz; ihre Verweisung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei möglich.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Aktenwidrigkeit und unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne der Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (§ 503 Z 2 ZPO) und Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO). Berechtigt ist jedoch die Rechtsrüge der Klägerin, der auch die Revisionsausführungen zu den beiden vorgenannten Rechtsmittelgründen überwiegend zuzuordnen sind.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 255 Abs 1 ASVG gilt ein Versicherter, der überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig war, als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe abgesunken ist. Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild des Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, dass er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Es reicht allerdings nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrerer Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von angelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 1/48, 3/70, 5/122, 7/108, 9/96 ua). Das Fehlen von einzelnen, nicht zentralen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Lehrberufes steht dagegen der Annahme des Berufsschutzes nicht entgegen (10 ObS 301/97f).

Zutreffend macht die Klägerin geltend, dass der Inhalt ihrer Berufstätigkeit nicht ausreichend geprüft wurde. Das Erstgericht stellte zwar fest, dass die Klägerin unter anderem als "Kellnerin" und "Wirtschafterin" bzw teilweise "in der Küche", "an der Kasse" und "in der Theke" gearbeitet habe, ohne aber weiter zu klären, welche Tätigkeit die Klägerin dabei im einzelnen tatsächlich in welchen Zeitperioden verrichtete. Zur Prüfung der Frage, ob der Versicherte Berufsschutz erworben hat, reicht die Feststellung der Bezeichnung eines ausgeübten Berufes nicht aus, es ist vielmehr der genaue Inhalt der Tätigkeit festzustellen, die der Versicherte tatsächlich verrichtet hat (SSV-NF 7/33, 8/119). Ohne genaue Feststellung des Inhaltes der verrichteten Tätigkeiten kann nicht beurteilt werden, ob diese im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG qualifiziert waren.

Die Klärung der Frage, ob ein Versicherter Berufsschutz genießt, ist in allen Fällen, in denen ausgehend vom Bestehen eines Berufsschutzes die Verweisbarkeit in Frage gestellt ist, unabdingbare Entscheidungsvoraussetzung. Wenn nach dem Inhalt des Prozessvorbringens hierüber keine ausreichende Klarheit besteht und nach der Aktenlage nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden kann, dass der Versicherte nur als einfacher Hilfsarbeiter tätig war, hat das Gericht auf Grund der Bestimmung des § 87 Abs 1 ASGG diese Frage von Amts wegen zu überprüfen und hierüber Feststellungen zu treffen. Nur dann, wenn jeglicher Anhaltspunkt dafür fehlt, dass ein Versicherter eine angelernte Tätigkeit ausgeübt hat, bedarf es keiner weiteren Erhebungen und Feststellungen über die genaue Art der Tätigkeit (SSV-NF 3/46, 3/136, 4/119, 6/46, 8/21 ua). Vom Fehlen jeglichen Anhaltspunktes kann hier jedoch nicht gesprochen werden.

In der Entscheidung SSV-NF 8/21 wurde einer Versicherten, die innerhalb der letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als "Serviererin" im Gastgewerbe, daneben aber auch als selbständige Gastwirtin und als Hilfskraft in einer Rechtsanwaltskanzlei tätig gewesen war, der Berufsschutz - entgegen der Ansicht der Vorinstanzen - nicht von vornherein abgesprochen; vielmehr wurde über Revision der Klägerin die Sozialrechtssache unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen, da nach den bisherigen Feststellungen nicht beurteilt werden konnte, ob die Pensionswerberin lediglich derartige einfache Serviertätigkeiten (wie etwa im Falle der Entscheidung SSV-NF 4/166) oder aber wesentliche Teiltätigkeiten des Kellnerinnenberufes verrichtet hatte. Eben dies blieb auch im vorliegenden Fall von den Vorinstanzen unerhoben, sodass auch hier ausreichende Feststellungen zum tatsächlichen Tätigkeits- und Aufgabenbereich der Klägerin im maßgeblichen Zeitraum fehlen.

Derzeit fehlt für den vom Berufungsgericht angestellten Vergleich der von der Klägerin angelernten und ausgeübten Kenntnisse und Fähigkeiten mit jenen, die im Lehrberuf Restaurantfachfrau (vormals Kellnerin) erforderlich sind (Restaurantfachmann - Ausbildungsverordnung BGBl 1994/1095; Berufslexikon des AMS Österreich, Band 1 Lehrberufe 1997, 389 f) die notwendige Tatsachengrundlage. Es kann daher derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, dass bei der Klägerin das Anlernen von korrektem Tischdecken, Begrüssung, Empfang und Beratung der Gäste, Servieren, Kenntnis von Zubereitung von Speisen und Getränken gar nicht stattfinden habe können.

Im fortgesetzten Verfahren wird in Abhängigkeit von der Frage, ob die Klägerin jemals im Beruf der Kellnerin angelernt wurde, auch die Frage, wann dieser Anlernvorgang abgeschlossen war (vgl SSV-NF 7/129) und ob die Klägerin schließlich im Beobachtungszeitraum in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate eine Berufstätigkeit ausübte, für die Kenntnisse und Fähigkeiten des angelernten Berufes erforderlich waren (SSV-NF 2/98, 4/166, 8/103) zu klären sein. Ist der Berufsschutz der Klägerin zu bejahen, wird auch im Hinblick auf eine allfällige Verweisbarkeit zu prüfen sein, welche beruflichen Anforderungen derzeit an Küchenkassiererinnen oder auch an Sitzkassiererinnen in einem Selbstbedienungsrestaurant gestellt werden und wieviele Arbeitsplätze auf dem österreichischen Arbeitsmarkt in diesen Berufen zur Verfügung stehen (SSV-NF 2/128, 6/4, 7/88).

Da die genannten Fragen bisher nicht erörtert und die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen wurden, kann noch nicht beurteilt werden, ob die Klägerin Berufsschutz genießt und welche Verweisungstätigkeiten für sie in Frage kommen. Das Verfahren erweist sich daher als ergänzungsbedürftig; der Revision war Folge zu geben. Da es offenbar einer Verhandlung in erster Instanz bedarf, um die Sache spruchreif zu machen, war unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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