OGH 10ObS105/99k

OGH10ObS105/99k1.6.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Stattmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alfred W*****, vertreten durch Dr. Paul Friedl, Rechtsanwalt in Eibiswald, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Jänner 1999, GZ 7 Rs 288/98x-23, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. August 1998, GZ 38 Cgs 412/97i-14, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 28. 4. 1997 lehnte die Beklagte den Antrag des am 21. 7. 1953 geborenen Klägers vom 10. 2. 1997 auf Zuerkennung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, der keinen Berufsschutz genießende Kläger sei noch im Stande, eine auf dem Arbeitsmarkt bewertete Tätigkeit auszuüben.

Dagegen richtet sich die Klage auf Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß mit der Begründung, der Kläger sei aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und bestritt das Vorliegen einer Invalidität.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach den wesentlichen Feststellungen hat der Kläger keine qualifizierte Berufsausbildung erworben und war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 3. 1997) nicht mehr beschäftigt. Aufgrund der im Detail festgestellten gesundheitlichen Leiden, insbesondere einem Zustand nach Kinderlähmung mit schlaffer Lähmung beider Beine, sind dem Kläger nur mehr leichte körperliche Arbeiten zumutbar. Arbeiten im Gehen und Stehen sind nur mehr für ein Drittel des Tages möglich, wenn sie über den Tag gleichmäßig verteilt sind. Arbeiten im Sitzen sind ganztägig möglich, wobei aber ein gelegentlicher Haltungswechsel erfolgen soll. Überkopf-, Bück- und Hebearbeiten sind um die Hälfte eines Arbeitstages zu verkürzen und gleichmäßig zu verteilen. Arbeiten im knieender und hockender Körperhaltung, Akkord- und Fließbandarbeiten und Arbeiten an exponierten Stellen sind ausgeschlossen. Einem forcierten Arbeitstempo ist der Kläger bis zur Hälfte eines Arbeitstages gewachsen. Umschul- und Anlernbarkeit sind beim Kläger nicht mehr gegeben; den üblichen Arbeitsanweisungen ist er jedoch gewachsen. Die Verweisungstätigkeiten dürfen in intellektueller und struktureller Hinsicht an den Kläger keine größeren Anforderungen stellen als die bisher geleisteten Arbeiten. Der Kläger ist durchschnittlich kontaktfähig. Die intellektuelle Leistungsbreite liegt im unteren Normbereich. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bestehen nicht.

Rechtlich folgerte das Erstgericht, der Kläger sei nicht invalid gemäß § 255 Abs 3 ASVG, weil er nach dem medizinischen Leistungskalkül noch in der Lage sei, die Tätigkeit eines Portiers, eines Wächters im Standpostendienst oder eines Kontrollarbeiters auszuüben.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers aus den Gründen der unrichtigen Tatsachenfeststellungen infolge unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht Folge. Es trat der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes bei. Da jeglicher Anhaltspunkt dafür fehle, daß der Kläger eine angelernte Tätigkeit ausgeübt habe, hätte es auch keiner Feststellungen über die Art der vom Kläger jemals ausgeübten Hilfsarbeitertätigkeiten bedurft.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes richtet sich die Revision des Klägers aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Rechtssache an das Berufungsgericht oder an das Erstgericht zurückzuverweisen; alternativ wird die Abänderung im Sinne der Klagestattgebung begehrt.

Die Beklagte hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrages berechtigt.

War der Versicherte nicht überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig - wovon im Fall des Klägers auszugehen ist - gilt er als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, daß ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt (§ 255 Abs 3 ASVG).

Die Frage, auf welche Tätigkeiten ein Versicherter verwiesen werden darf, ist eine Rechtsfrage; ihre Lösung bedingt jedoch das Vorliegen der erforderlichen Tatsachenfeststellungen (RIS-Justiz RS0043194). Das Berufungsgericht mißverstand offenbar den vom Kläger schon in der Berufung erhobenen Einwand, daß im Ersturteil Feststellungen darüber fehlen, welche Tätigkeiten der Kläger jemals ausgeübt hat. Dem Kläger ging es nicht um die Begründung eines Berufsschutzes im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG, sondern vielmehr um eine Einengung der aufgrund des medizinischen Leistungskalküls für ihn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten. Das Erstgericht stellte nämlich wie bereits erwähnt ausdrücklich fest, daß die Verweisungstätigkeiten "in intellektueller und struktueller Hinsicht" an den Kläger keine größeren Anforderungen stellen dürfen als die bisher geleisteten Arbeiten. Die Frage, ob die vom Erstgericht angenommenen Verweisungsberufe eines Portiers, eines Wächters im Standpostendienst oder eines Kontrollarbeiters beim Kläger "in intellektueller und struktueller Hinsicht" in Frage kommen, kann nämlich erst dann verläßlich beurteilt werden, wenn die vom Kläger bisher geleisteten Arbeiten und deren Anforderungen "in intellektueller und struktureller Hinsicht" festgestellt werden.

Die Verweisungstätigkeit eines Portiers stellt zwar keine besonderen geistigen Anforderungen und kann auch kurzfristig angelernt werden (SVSlg 38.242); diese (relativ) geringen geistigen Anforderungen müssen jedoch beim Kläger in Relation zu den bisher geleisteten Arbeiten gesetzt werden, wozu jedoch Feststellungen fehlen. Wie das Erstgericht ohne diese Feststellungen zu den von ihm angenommenen Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kam, ist aus dem Ersturteil selbst nicht nachvollziehbar.

Fehlen aber die erforderlichen Feststellungen infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung dann liegt ein "rechtlicher Feststellungsmangel" vor (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 4 zu § 496), der vom Revisionswerber zu Recht gerügt wird. Da demnach wesentliche, für die Entscheidung relevante Fragen ungeprüft geblieben sind und Feststellungen nicht getroffen wurden, ist die Sache noch nicht reif zur Entscheidung. Um die Sache spruchreif zu machen, bedarf es insoweit einer Verhandlung erster Instanz, weshalb die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht spruchgemäß zurückzuverweisen war.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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