OGH 10ObS385/98k

OGH10ObS385/98k1.12.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Michael Zerdik und Mag. Eva Pernt (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ludwig W*****, vertreten durch Dr. Ekardt Blahut, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86, vertreten durch Dr. Paul Bachmann, Dr. Eva-Maria Bachmann und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Erwerbsunfähigkeitspension infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 10. Juli 1998, GZ 8 Rs 169/98a-47, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 17. März 1998, GZ 2 Cgs 201/96d-36, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine Erwerbspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 7. 1996 zu gewähren sowie die Prozeßkosten zu ersetzen, abgewiesen wird.

Der Kläger hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 24. 9. 1948 geborene Kläger hat den Beruf eines Kellners erlernt, jedoch bis 1995 eine Tabaktrafik mit einem Beschäftigten in Wien geführt. Seither ist er ohne Beschäftigung. Er leidet an einer schlecht eingestellten Diabeteserkrankung und muß fünfmal täglich Insulin spritzen und Blutzucker messen, wofür er jeweils einen Aufwand von mindestens 10 Minuten anfällt. Darüber hinaus muß er noch vor dem Frühstück und vor dem Schlafengehen spritzen, wobei er vor dem Schlafengehen eine Depotspritze nimmt. Diese vielen Spritzen während der normalen Arbeitszeit sind notwendig, weil sein Blutzucker stark schwankt. Insgesamt benötigt der Kläger während der normalen Arbeitszeit zu den normalen Pausen 50 Minuten zusätzlich Pausen zur Blutzuckermessung und zum Insulinspritzen.

Abgesehen von dieser gesundheitsmäßigen Einschränkung ist der Kläger allerdings weiterhin für leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten unter ständig durchschnittlichem Zeitdruck, zeitweilig auch unter besonderem Zeitdruck geeignet. Auszuschließen sind Akkord- und Fließbandtätigkeiten. Einordbarkeit in den Produktionsbetrieb einer Fabrik ist ausgeschlossen. Die Ausdauer und Handkraft liegen im Normalbereich, die Handgeschicklichkeit und die Fingerfertigkeit sind nicht beeinträchtigt.

Mit Bescheid vom 14. 10. 1996 wurde der Antrag des Klägers vom 7. 6. 1996 auf Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension von der beklagten Partei abgelehnt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Klage mit dem Begehren, ihm die Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab Antragstellung zuzuerkennen.

Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei im zweiten Rechtsgang schuldig, dem Kläger eine Erwerbsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. 7. 1996 zu gewähren. Es beurteilte den eingangs zusammengefaßt wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß der Kläger die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit gemäß § 133 Abs 1 GSVG erfülle. Eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt komme nicht in Betracht, weil 50 Minuten zusätzliche Pause zu den normalen Arbeitspausen während der täglichen normalen Arbeitszeit immer ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers erforderten und daher einen Ausschluß vom allgemeinen Arbeitsmarkt bewirkten.

Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei erhobenen Berufung nicht Folge. Es schloß sich der Auffassung des Erstgerichtes an, daß 50 Minuten zusätzliche Pausen zur normalen Arbeitszeit "zu viel" seien und immer ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers nötig sei. Auch eine selbständige Tätigkeit bei Einlegung derartiger Pausen sei bei Beschäftigung eines Dienstnehmers nicht denkbar, weil der Arbeitgeber, dessen Mitarbeit ja notwendig sei, praktisch eine Stunde zusätzlich pro Tag ausfalle.

Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung dahin abzuändern, daß die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer Klageabweisung abgeändert werden; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

Die Revision ist gemäß § 46 Abs 3 ASGG auch ohne Vorliegen der besonderen Voraussetzungen des Abs 1 leg cit zulässig und auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Frage der Erwerbsunfähigkeit des Klägers ist im Hinblick auf den Stichtag 1. 7. 1996 (§ 113 Abs 1 Z 2 GSVG), zu welchem Datum er das 50. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, auf der Grundlage des strengen Erwerbsunfähigkeitsbegriffes des § 133 Abs 1 GSVG idF des Art 35 Z 50 Strukturanpassungsgesetz 1996 BGBl 201 zu beurteilen. Danach gilt als erwerbsunfähig ein Versicherter, der infolge Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen. Der Begriff der (vormals: dauernden) Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 133 Abs 1 GSVG bedeutet hiebei nach der Rechtsprechung die gänzliche Unfähigkeit, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen; ein Versicherter muß sich daher auf jede wie immer geartete - selbständige oder unselbständige - Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt verweisen lassen (SSV-NF 4/81, 8/83, 10 ObS 2206/96i); damit besteht in den Fällen des § 133 Abs 1 GSVG praktisch überhaupt keine Verweisungsbeschränkung.

Als vom Arbeitsmarkt ausschließend wirkendes Kriterium beim Kläger wurde von den Vorinstanzen dessen häufiges, fünfmal täglich erforderliches Insulinspritzen und Blutzuckermessen während der üblichen Arbeitszeit mit einer Dauer von jeweils mindestens 10 Minuten, zusammen täglich sohin rund 50 Minuten, gewertet. Darüber hinaus ist der Kläger jedoch weiterhin für leichte und mittelstarke körperliche Arbeiten, sogar unter ständigem durchschnittlichen Zeitdruck, zeitweilig auch besonderem Zeitdruck geeignet.

Wie bereits einleitend ausgeführt, hat die Prüfung des Anspruches auf Erwerbsunfähigkeitspension auf der Grundlage des strengen (SSV-NF 10/29) Erwerbsunfähigkeitsbegriffes des § 133 Abs 1 GSVG zu erfolgen. Der Kläger ist damit auf alle in Frage kommenden Erwerbstätigkeiten, sohin auch auf Heimarbeiten verweisbar. Der Senat hat hiezu bereits in der Entscheidung 10 ObS 172/97k (infas 1997 S 66) in einem ebenfalls die Zuerkennung einer Erwerbsunfähigkeitspension nach § 133 Abs 1 GSVG betreffenden Fall ausgesprochen, daß der Umstand daß Heimarbeiten in einem für eine Verweisung ausreichenden Umfang auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, notorisch ist. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall. Daß aber bei solchen Tätigkeiten die mehrmals tägliche Blutzuckermessung samt Insulinspritzen möglich ist, liegt auf der Hand. Damit kommt es aber auf die vom Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Ausschließungskriterien insbesondere von Arbeitnehmern im unselbständigen Bereich außer Haus ebensowenig an wie es (im Sinne der Ausführungen der Revisionsbeantwortung) noch prüfungsrelevant ist, welche konkreten Öffnungszeiten der Kläger in seiner Tabaktrafik bisher einhielt, zu welchen Zeiten konkret sein teilzeitbeschäftigter Mitarbeiter dort anwesend war und ob es ihm (so auch die Revisionswerberin in ihrem Rechtsmittel) - allenfalls unter Einkommenseinbußen - zugemutet werden könnte, eine zweite Teilzeit- oder gar Ganztagsarbeitskraft zusätzlich einzustellen.

Die Sozialrechtssache ist daher im Sinne einer Abweisung des gestellten Klagebegehrens spruchreif. In Stattgebung der Revision der beklagten Partei waren daher die Urteile der Vorinstanzen in diesem Sinne abzuändern.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit sind nicht ersichtlich.

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