OGH 1Ob218/98k

OGH1Ob218/98k25.8.1998

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Pamela W*****, geboren am *****, infolge Revisionsrekurses der Mutter Martina W*****, vertreten durch Dr.Alfons Adam, Rechtsanwalt in Neulengbach, gegen den Beschluß des Jugendgerichtshofs Wien als Rekursgericht vom 5.Juni 1998, GZ 1 RM 25/98m-40, womit der Beschluß des Jugendgerichtshofs Wien vom 4.Februar 1998, GZ 7 P 14/97v-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen, deren Punkte b und c des erstinstanzlichen Beschlusses als nicht in Beschwerde gezogen unberührt bleiben, werden im übrigen Umfang aufgehoben und dem Erstgericht wird insoweit die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung

Auf Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers übertrug das Erstgericht die Obsorge für das Kind im Bereich der Pflege und Erziehung an den Jugendwohlfahrtsträger und verfügte die „volle Erziehung“ im Rahmen der Gemeindepflege (Punkt a). Den darüber hinausgehenden Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, ihm die volle Obsorge zu übertragen, wies es ab (Punkt c) und sprach aus, daß über das Besuchsrecht (der Mutter) gesondert entschieden werde (Punkt b). Es ergebe sich insbesondere aus dem Gutachten des beigezogenen Sachverständigen (aus dem Fachgebiet der Psychiatrie), daß die Mutter derzeit nicht ausreichend imstande sei, dem Kind die erforderliche emotionale und soziale Konstanz für dessen gedeihliche Entwicklung und Entfaltung zu bieten. Es liege zwar keine schwere, akute psychiatrische Störung im Sinne eines psychotischen Krankheitsgeschehens, einer schweren depressiven Verstimmung oder aktuellen Suizidalität vor, doch seien Auffälligkeiten gegeben, die für die Betreuung eines Kleinstkindes aus kinder- und jugendneuropsychiatrischer Sicht deutliche Risikofaktoren für eine geeignete Mutter-Kind-Interaktion darstellten.

Das Rekursgericht bestätigte die lediglich in ihrem Punkt a) angefochtene Entscheidung und sprach aus, daß der Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Das Sachverständigengutachten, auf das sich die Entscheidung des Erstgerichts vor allem gestützt habe, sei schlüssig und nachvollziehbar. Der Mutter sei hinreichend Möglichkeit geboten gewesen, sich zur Sache zu äußern. Auf die Zustellung des Sachverständigengutachtens habe deren Rechtsvertreter ausdrücklich verzichtet und um eine rasche Entscheidung gebeten. In dem Umstand, daß dem Rechtsvertreter der Mutter das Sachverständigengutachten nicht zugestellt wurde, sei demnach kein Verfahrensmangel zu erblicken. Im übrigen habe die Mutter ihren Standpunkt im Rekurs vertreten können. Die Frage nach „alternativen Unterbringungsmöglichkeiten“ (bei Familienmitgliedern) sei schon dadurch ausreichend geklärt worden, daß die „Jugendgerichtshilfe“ im Auftrag des Gerichts einen umfassenden Gesamtbericht erstellt habe, dem auch Erhebungen bei Familienangehörigen der Mutter zugrundegelegen seien. Die Entscheidung sei im Wohl des Kindes begründet. Das (derzeitige) erzieherische Unvermögen der Mutter und die damit verbundene Gefährdung des Kindeswohls sei durch das Sachverständigengutachten belegt. Eine Befristung der Entziehung der Obsorge sei nicht nötig, weil jederzeit eine neue Antragstellung möglich sei.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung des Rekursgerichts gerichtete Revisionsrekurs der Mutter, die bei der Ausführung ihrer Anfechtungsgründe die grundlegenden Änderungen des Revisionsrekursrechts im Verfahren außer Streitsachen durch die Erweiterte Wertgrenzen-Novelle 1989 allerdings völlig außer acht läßt, ist zulässig und berechtigt.

Gemäß § 176 Abs 1 ABGB hat das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Eine Gefährdung des Kindeswohls setzt nicht geradezu einen Mißbrauch der elterlichen Befugnisse voraus. Es genügt, daß elterliche Pflichten objektiv nicht erfüllt oder gröblich vernachlässigt werden. Die Entziehung der Obsorge darf aber nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs angeordnet werden. Das Gericht kann auch die aus der Obsorge erfließenden Befugnisse der Eltern unter den Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB zum Wohl des Kindes einschränken (1 Ob 57/97g; 2 Ob 299/97b; 1 Ob 2078/96m; 3 Ob 2157/96v; JBl 1996, 714 uva). Ob die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger gemäß § 176a ABGB geboten ist, läßt sich derzeit aber noch nicht verläßlich beurteilen:

Die Vorinstanzen begründen ihre Entscheidungen im wesentlichen damit, daß der Mutter in Anbetracht des als schlüssig und nachvollziehbar erachteten Sachverständigengutachtens derzeit die Fähigkeit abzusprechen sei, ihrem Kleinstkind die erforderliche emotionale und soziale Konstanz für dessen gedeihliche Entwicklung und Entfaltung zu bieten. Diese Schlußfolgerung des Sachverständigen läßt sich aber aus den von ihm bei der Mutter festgestellten Auffälligkeiten nicht verläßlich ableiten. Der Sachverständige konstatierte bei der Mutter einen „auffälligen Gedankenductus“, ohne darzulegen, worin diese Auffälligkeit gelegen sein sollte. Er spricht weiters von einer „vermutlichen“ Einschränkung der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung und einer deutlichen Dissimulationstendenz in Ansehung der psychischen Befindlichkeit in der Vergangenheit. Somit lägen Züge eines organischen Psychosyndroms im Sinne eines Restzustands nach abgelaufener Meningitis bei primärer Persönlichkeitsentwicklungsstörung respektive histrionischer Persönlichkeitsstörung vor. Weiters attestiert der Sachverständige der Mutter „offensichtliche Defizite in der psychosozialen Integrationsfähigkeit“ im Sinne der ausreichenden Fähigkeit zur Inanspruchnahme von sozialen Ressourcen sowie der realistischen Einschätzung von Beziehungs- und Bindungsstabilität. Dies deute auf eine ausgeprägte Schwäche der Ich-Struktur in der Persönlichkeitsausformung der Mutter hin. Diese - von der Mutter nicht weiter bestrittenen - Untersuchungsergebnisse rechtfertigen für sich allein gesehen noch nicht die Schlußfolgerung, daß die Mutter nicht imstande sei, einem Kleinstkind die erforderliche emotionale und soziale Konstanz für dessen gedeihliche Entwicklung und Entfaltung zu bieten, insbesondere wenn man bedenkt, daß der Sachverständige und mit ihm die Vorinstanzen ausdrücklich davon ausgingen, eine schwere, akute psychiatrische Störung im Sinne eines psychotischen Krankheitsgeschehens, einer schweren depressiven Verstimmung oder aktueller Selbstmordgefahr lägen nicht vor. Der Sachverständige wird daher näher darzulegen haben, ob noch weitere, im Gutachten nicht zum Ausdruck kommende Kriterien für dessen Einschätzung der Persönlichkeitsentwicklung der Mutter vorliegen. Erst nach entsprechender Gutachtensergänzung wird verläßlich beurteilt werden können, ob eine Einschränkung oder Entziehung der Obsorge geboten ist, etwa weil die Mutter allenfalls ihren Erziehungsaufgaben nicht gewachsen wäre, darf doch eine Änderung in den Obsorgeverhältnissen nur als äußerste Notmaßnahme zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindes angeordnet werden (3 Ob 2157/96v; JBl 1996, 714; EFSlg 71.825; 71.834 f; 71.873; 68.845 uva).

Entgegen der Ansicht des Rekursgerichts werden die Vorinstanzen auch Feststellungen dahin zu treffen haben, ob und inwiefern - sollte die Mutter tatsächlich zur Ausübung der Obsorge nicht in der Lage sein - die Unterbringung bei Verwandten oder anderen geeigneten nahestehenden Personen möglich wäre, hat doch die Unterbringung bei solchen Personen nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 176a ABGB Vorrang vor der Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger. Allein der Umstand, daß „die Jugendgerichtshilfe“ im Auftrag des Gerichts einen Bericht erstellte, ersetzt, selbst wenn auch Erhebungen bei Familienangehörigen durchgeführt wurden, Feststellungen in der aufgezeigten Richtung nicht. Es bedarf vielmehr einer eingehenden Erörterung jener Umstände, die eine Unterbringung etwa bei der Urgroßmutter des Kindes ausschließen, werden doch die beiden Geschwister des Kindes nach wie vor von dieser wenngleich bereits betagten Person versorgt und erzogen und ergibt sich jedenfalls aus dem Akteninhalt nichts für die Erziehungsfähigkeit der Urgroßmutter Abträgliches. Allein die lakonische Äußerung des Jugendwohlfahrtsträgers, der Urgroßmutter sei es wohl nicht zuzumuten, ein weiteres Kind bei sich aufzunehmen, genügt nicht, um die Unterbringung bei dieser Verwandten von vornherein auszuschließen. Es kommt nämlich nicht darauf an, ob die Erziehung bei dritten Personen für das Kind besser wäre als die ordnungsgemäße Erziehung bei der Mutter oder bei Verwandten, vielmehr ist maßgeblich, ob bei der Übertragung der Obsorge an ein Familienmitglied eine Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten wäre (EFSlg 71.872 uva).

Insoweit die Mutter im Revisionsrekurs die Verletzung des rechtlichen Gehörs releviert, ist sie darauf zu verweisen, daß sie Gelegenheit hatte, in ihren Rechtsmitteln zum Sachverständigengutachten Stellung zu nehmen (vgl 8 Ob 1670/92) und daß ohnehin dessen Erörterung - wie schon dargelegt - vorzunehmen sein wird.

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