OGH 10ObS39/98b

OGH10ObS39/98b10.3.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Dr.Martha Seböck (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Scheed (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Viktor K*****, Betonierer, ***** vertreten durch Dr.Adolf Kriegler und Dr.Helmut Berger, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner ua, Rechtsanwälte in Wien, wegen Integritätsabgeltung, infolge Rekurses beider Parteien gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15.Oktober 1997, GZ 7 Rs 226/97z-57, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 9.Dezember 1996, GZ 13 Cgs 188/93v-51, aufgehoben wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Den Rekursen wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekursverfahrens der klagenden Partei sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 25.7.1955 geborene Kläger war seit Jänner 1988 als Betonierer bei der Julius E***** Gesellschaft mbH beschäftigt. Er hatte schon früher Kranabladearbeiten verrichtet, wurde jedoch am 9.8.1989 zum erstenmal an der Baustelle in ***** Wien, *****, bei solchen Arbeiten eingesetzt. Der Kläger hatte sich freiwillig gemeldet, Paletten mit Deckenstützen, die mit einem Kran von einem auf der Straße stehenden LKW abgeladen und in eine ca 8 m unter dem Bodenniveau gelegene Baugrube gehoben wurden, auszuhängen und dort abzustellen. Er befand sich zu diesem Zweck mit seinem Arbeitskollegen Manfred G*****, mit dem er vorher noch nie zusammengearbeitet hatte, in der Baugrube. Den Kran bediente Alfred S*****, der die Kranführerprüfung abgelegt hatte und somit berechtigt war, Kräne zu steuern. Ein Kranführer ist (berechtigt und) verpflichtet, die beteiligten Arbeiter ein- und anzuweisen. Im konkreten Fall waren jedoch der Kläger und G***** vom Kranführer nicht über den Arbeitsablauf belehrt worden. Auch die zu erfolgende Zeichenabgabe war weder erklärt noch war besprochen worden, durch wen sie erfolgen sollte.

Die ca 70 cm hohen stapelbaren Paletten waren jeweils als offene Körbe mit einem Boden und an jeder Ecke eingeschweißten Winkeleisen ausgebildet. Die Deckenstützen ragten seitlich über den Korb hinaus und waren zwischen den Seitenstehern eingelagert. Sie waren jedoch nicht zusammengebunden und daher nicht gegen ein Verschieben und Verrutschen gesichert. Die Paletten wurden durch den Kran mit einem sogenannten 4-er-Gehänge transportiert, an dessen Ende sich vier Karabiner befanden, welche die Paletten an dafür vorgesehenen Ringen festhielten.

In der Baugrube klinkten der Kläger und sein Kollege die jeweils auf ihrer Seite befindlichen Karabiner aus. Im Anschluß daran gab einer der beiden das Zeichen für den Kranführer zum Anheben des Krans. Auf diese Weise wurden zunächst zwei Paletten abgeladen. Die dritte Palette wurde auf den beiden bereits abgestellten Paletten aufgesetzt. Da wegen der Höhe der gestapelten Paletten kein Sichtkontakt mehr zwischen den beiden Arbeitern bestand, ging G***** auf die Seite des Klägers, um zu sehen, ob dieser schon bereit war. Als der Kranführer den Kran anhob, kippte die Palette, die auf der Seite G***** noch eingehängt war auf die Seite des Klägers. Der Kranführer hielt beim Anheben des Krans nicht den von ihm grundsätzlich verlangten "langsamen Hub" ein, sodaß er nicht bemerkte, ob die abzusetzende Last noch eingehängt war oder nicht. Dadurch kamen die Deckensteher ins Rutschen und fielen auf den Kläger.

Der Kläger erlitt bei diesem Unfall eine Beckenringsprengung, einen Riß der Harnröhre, multiple Quetschungen und Abschürfungen. Aufgrund der Verletzungen wurde er impotent. Als weitere Unfallfolge stellte sich einige Zeit später ein Bandscheibeneinriß heraus.

Mit Bescheid vom 14.5.1990 anerkannte die Beklagte den Unfall des Klägers vom 9.8.1989 als Arbeitsunfall und gewährte ihm ab 19.2.1990 eine Versehrtenrente als vorläufige Rente im Ausmaß von 60 vH. der Vollrente samt Zusatzrente und drei Kinderzuschüssen (für ein eigenes und zwei Stiefkinder). Mit Bescheid vom 31.7.1991 stellte die Beklagte anstelle der vorläufigen Rente ab 1.10.1991 eine Dauerrente für die Folgen des Unfalles mit 40 vH der Vollrente fest. Die Zusatzrente und die Kinderzuschüsse wurde ab dem 1.10.1991 nicht mehr gewährt.

Aus psychiatrischer Sicht besteht beim Kläger als Folge des Unfalls eine reaktiv depressive Stimmungslage. Der psychiatrische Sachverständige bewertete die durch den Unfall eingetretene komplette Impotenz des Klägers als schwere seelische Störung.

Mit Bescheid vom 17.9.1992 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Integritätsabgeltung wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 9.8.1989 ab.

Gegen den letztgenannten Bescheid richtet sich die Klage auf Gewährung einer Integritätsabgeltung in der Höhe von 60 % des Höchstausmaßes. Der Arbeitsunfall des Klägers sei durch eine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften (Verordnung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 10.11.1954, BGBl Nr 267, über die Vorschriften zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Dienstnehmern bei Ausführung von Bauarbeiten, Bauneben- und Bauhilfsarbeiten) durch den Kranführer als Aufseher im Betrieb verursacht worden. Dieser sei auch rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt worden. Die unfallbedingte Impotenz des Klägers stelle eine schwere psychische Belastung dar. Der Grad des Integritätsschadens des Klägers betrage jedenfalls 50 %.

Die Beklagte räumte ein, daß durch die strafgerichtliche Verurteilung des Kranführers außer Zweifel stehe, daß ihm ein Aufmerksamkeitsfehler hinsichtlich der Einhaltung der Kommunikation durch Handzeichen und die nichtgehörige Absicherung der Eisensteher in den Paletten vorzuwerfen sei. Von einer groben Fahrlässigkeit könne jedoch keine Rede sein. Im übrigen bestehe beim Kläger kein Integritätsschaden von 50 %. In der urologischen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei die seelische Störung bereits mitbeurteilt worden. Für die Ermittlung des Integritätsschadens sei auf den Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente abzustellen. Auf eine nachträgliche Verschlimmerung der Unfallfolgen sei daher nicht Bedacht zu nehmen.

Das Erstgericht stellte mit seinem Urteil den Grad des Integritätsschadens des Klägers aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 9.8.1989 mit 50 % fest und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger eine Integritätsabgeltung im Ausmaß von S 218.403,36, das sind 20 % der doppelten Höchstbemessungsgrundlage des § 178 Abs 2 ASVG gemäß den Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213 a ASVG, zu gewähren; das Mehrbegehren, dem Kläger eine Integritätsabgeltung in der Höhe von 60 % des gesetzlichen Höchstausmaßes zu gewähren, wurde abgewiesen.

Unter Zugrundelegung des eingangs wiedergegebenen unstrittigen Sachverhaltes und der weiteren, allerdings im Berufungsverfahren bekämpften Feststellung, daß der Kranführer den Kran angehoben habe, ohne daß einer der beiden Arbeiter ein Zeichen zum Anheben gegeben hätte, vertrat es die Rechtsansicht, daß der Arbeitsunfall des Klägers durch eine grob fahrlässige Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht worden sei. Der Kranführer, wieder Kranführerausbildung abgeschlossen habe, gelte als Aufseher im Betrieb. Ihm dürften während des Kranbetriebes weder ein Vorgesetzter noch andere Arbeitnehmer Anweisungen geben oder in den Arbeitsvorgang eingreifen. Er wäre verpflichtet gewesen, alle notwendigen sicherheitstechnischen Maßnahmen zu greifen, insbesondere das Transportgut so fest zu bündeln, daß es beim Transport, beim Absetzen oder Abkippen nicht herausfallen könne. Gerade beim Absetzen befänden sich die Arbeitnehmer im unmittelbaren Gefahrenbereich. Ferner hätte er eine Belehrung der beteiligten Arbeiter über die Art der Befestigung, die Handhabung der Karabiner, die gegenseitige Absprache und das Zurücktreten aus dem engsten Gefahrenbereich durchführen und schließlich jenen Arbeitnehmer bestimmen müssen, der die Zeichenabgabe durchzuführen habe. Weder eine Sicherung des Transportgutes noch eine Belehrung der Arbeitnehmer seien erfolgt. Dazu komme, daß der Kranführer den Kran zu schnell angehoben und dadurch zu spät bemerkt habe, daß ein Zweiergehänge noch nicht gelöst gewesen sei. Insgesamt liege sohin ein extremes Abweichen von der gebotenen Sorgfalt und damit eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung von Sorgfaltspflichten vor. Der Kranführer habe als Aufseher im Betrieb ganz einfache und naheliegende Überlegungen unterlassen. Es habe daher geradezu mit dem Eintritt eines Unfalls gerechnet werden müssen.

Die Höhe des Integritätsschadens sei gemäß den Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung zu ermitteln. Gemäß § 2 Abs 2 der Richtlinien sei vom Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente auszugehen. Dieser betrage im Fall des Klägers insgesamt 40 %. Dazu trete eine unfallbedingte schwere seelische Störung des Klägers. Eine Impotenz in jungen Jahren sei als schwere psychische Belastung anzusehen. Der Kläger sei verheiratet und sei nun nicht mehr in der Lage, ein weiteres Kind zu zeugen. Seine Eheleben sei durch die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Geschlechtslebens starken Belastungen ausgesetzt, was zu einer schweren seelischen Störung führe. Diese sei unabhängig von den Auswirkungen der Impotenz auf die Erwerbsfähigkeit zu bewerten. Der Hundertsatz aufgrund des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit erhöhe sich daher aufgrund der bestehenden schweren seelischen Störung um weitere 10 vH, sodaß der Grad des Integritätsschadens nach § 2 der Richtlinien insgesamt 50 % betrage.

Gemäß § 3 der Richtlinien betrage die Höhe der Integritätsabgeltung bei einem Integritätsschaden von 50 vH bis unter 60 vH 20 vH der im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles jeweils geltenden doppelten Höchstbemessungsgrundlage gemäß § 178 Abs 2 ASVG unter Berücksichtigung der Anpassung gemäß § 213 a Abs 3 ASVG, im gegenständlichen Fall sohin im Jahr 1989 S 157.920,--. In Anwendung des Faktors von 1,383 gemäß § 213a Abs 3 ASVG errechne sich die dem Kläger zustehende Integritätsabgeltung mit S 218.403,36.

Mit dem angefochtenen Beschluß gab das Berufungsgericht den Berufungen beider Parteien Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurück, wobei es den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig erklärte.

Ohne vorerst auf die von der Beklagten bekämpfte Tatfrage der unterbliebenen Zeichengebung beim Unfall einzugehen, erachtete das Berufungsgericht das Verfahren in zweifacher Hinsicht als ergänzungsbedürftig:

Zum einen sei durch entsprechende Sachverständigengutachten zu klären, inwieweit die Wirbel- bzw Rückgratverletzungen des Klägers mit Beeinträchtigungen der Bandscheiben unfallkausal seien. Zum anderen seien noch die Besonderheiten im Kranführerbetrieb beim Anheben, Wiederauffahren, Stoppen und Langsamfahren im Zusammenhang mit damit verbundenen Schwingungen zu klären, um die grobe Fahrlässigkeit beurteilen zu können.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zuzulassen, weil bisher eine oberstgerichtliche Rechtsprechung fehle, wie nach § 2 Abs 1 Richtlinien der Grad des Integritätsschadens zum Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente zu ermitteln sei, insbesondere im Zusammenhang mit im Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente vorhandenen, aber nicht erkannten Unfallsfolgen. Es sei auch noch keine Judikatur des Obersten Gerichtshofes vorhanden, ob die sonst zur Beurteilung der groben Fahrlässigkeit entwickelten Maßstäbe auch bei der Integritätsabgeltung "im strengen Ausmaß" heranzuziehen seien. Die Bindungswirkung einer strafgerichtlichen Verurteilung erstrecke sich nicht auf den Sozialversicherungsträger; es hätte jedoch eine gewisse "Orientierung" am strafgerichtlichen Erkenntnis und eine Zugrundelegung der darin enthaltenen "Prämissen" zu erfolgen.

Gegen diesen Beschluß richten sich der Revisionsrekurs (richtig: Rekurs) des Klägers und der Rekurs der Beklagten. Der Kläger beantragt aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, den angefochtenen Beschluß dahin abzuändern, daß der Berufung der Beklagten nicht Folge gegeben werde. Die Beklagte beantragt aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinne der Klageabweisung abzuändern.

Der Kläger beantragt in seiner Rekursbeantwortung, dem Rekurs der Beklagten nicht Folge zu geben. Die Beklagte hat keine Rekursbeantwortung erstattet.

Die Rekurse sind zulässig; sie sind jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Berufungsgericht angestellten Überlegungen zur "Orientierung" am Strafurteil und Zugrundelegung "von im Strafurteil enthaltenen Prämissen" können dahingestellt bleiben. Die Beklagte bestritt nie die (leichte) Fahrlässigkeit des strafgerichtlich verurteilten Kranführers, sondern erklärte vielmehr im Gegenteil, daß es für sie außer Zweifel stehe, daß dem Kranführer ein Aufmerksamkeitsfehler hinsichtlich der gebotenen Kommunikation durch Handzeichen und der nicht gehörigen Absicherung der Eisensteher in den Paletten vorzuhalten sei (ON 3, AS 19). Für die hier relevante Unterscheidung zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit ist jedoch aus dem im Strafurteil zugrunde gelegten Straftatbestand (§ 88 Abs 1 und 4, 1. Fall StGB) nichts Unmittelbares zu gewinnen.

Unrichtig ist die Auffassung des Berufungsgerichtes, daß eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Beurteilung der groben Fahrlässigkeit im Bereich der Integritätsabgeltung fehlt. Wie der Oberste Gerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen hat, ist die grobe Fahrlässigkeit nach § 213a ASVG im Sinne der zu § 334 ASVG ergangenen einschlägigen Judikatur zu beurteilen. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 334 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit im Sinne des § 1324 ABGB gleichzusetzen und nur dann anzunehmen, wenn eine ungewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht vorliegt, die den Eintritt eines Schadens nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen läßt. Sie erfordert, daß ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist. Eine strafgerichtliche Verurteilung reicht für sich allein für die Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus. Der Unterschied zwischer leichter und grober Fahrlässigkeit ist rein maßlich und nur aus den Umständen des Einzelfalles ableitbar. Nicht jede Übertretung einer Unfallverhütungsvorschrift bedeutet bereits grobe Fahrlässigkeit. Für die Beurteilung des Verschuldens ist ein objektiver, jedoch nach Betriebshierarchie typisierender Maßstab anzulegen. Entscheidende Kriterien für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades sind nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes. Dabei ist im wesentlichen zu prüfen, ob der Betreffende ganz einfache und naheliegende Überlegungen nicht angestellt hatte (SSV-NF 6/61, 8/122, 9/3, 9/9, 9/12, 9/51 ua). Diese Grundsätze werden im fortgesetzten Verfahren anzuwenden sein, sobald der Unfallsachverhalt umfassend und abschließend feststeht.

Ob der gegenständliche Arbeitsunfall durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften verursacht wurde, wird an Hand des genauen Ablaufes des Unfalles zu prüfen sein. Die hier relevanten Arbeitnehmerschutzvorschriften finden sich vor allem in der schon oben erwähnten, am Unfalltag geltenden Verordnunng vom 10. November 1954, BGBl Nr 267, über Vorschriften zum Schutze des Lebens und der Gesundheit von Dienstnehmern bei Ausführung von Bauarbeiten, Bauneben- und Bauhilfsarbeiten. Danach gelten für Lasthebemaschinen unter anderem die folgenden allgemeinen Bestimmungen (§ 68 Abs 3 und Abs 5):

Fördergefäße sind so zu beladen, daß das Fördergut nicht herausfallen kann. Sperrige Gegenstände sind so anzubinden, daß ein Herabfallen sicher vermieden wird. Die Beförderung ist mit besonderer Umsicht durchzuführen; insbesondere ist auf die Gefahr des Auspendelns oder Kippens der Last zu achten. Für die Beförderung von Lasten durch Lasthebemaschinen sind erforderlichenfalls besondere einheitliche Signale festzusetzen, die den bei der Beförderung Beschäftigten vertraut sein müssen. Kann vom Bedienungsplatz einer Lasthebemaschine aus die Last nicht in allen Stellungen beobachtet werden, ist für eine geeignete Verständigung der mit der Beförderung Beschäftigten über die auszuführenden Bewegungen Sorge zu tragen.

Abgesehen vom unstrittigen Fehlen einer Sicherung des Transportgutes im vorliegenden Fall und einer vorherigen Festsetzung von einheitlichen Signalen, ist hier entscheidend für die Beurteilung des Vorliegens grober Fahrlässigkeit, inwieweit die Last vom Kranführer in allen Stellungen beobachtet werden konnte. War letzteres nicht der Fall, worüber noch konkrete Feststellungen des Erstgerichtes fehlen, dann gewinnen die Fragen der geeigneten Verständigung der Beteiligten, des langsamen Anhebens und des Anhebens mit und ohne Zeichen an zusätzlicher Bedeutung. Wesentlich ist auch, daß der Kranführer die Beförderung mit besonderer Umsicht durchzuführen hat. Im Zusammenhang mit dem "langsamen Hub" deutet das Berufungsgericht Unterschiede zwischen langsamem Wiederauffahren ohne Last und langsamem Heben der Last und damit zusammenhängenden Schwingungen an. Da der Kranfahrer auch auf die Gefahr des Auspendelns oder Kippen der Last, wohl aber auch auf die Gefahr des Auspendelns des (vermeintlich schon leeren) Fördergefäßes, zu achten hat, werden auch in diesem Zusammenhang noch präzisere Feststellungen zum Ablauf des Unfalles zu treffen sein.

Daß das Berufungsgericht die in der Berufung der Beklagten enthaltene Beweisrüge vorerst nicht behandelte, wurde schon erwähnt. Dies bewirkt jedoch entgegen der Ansicht der Beklagten keine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens, da es im Ermessen des Berufungsgerichtes steht, ob es die Beweisrüge behandelt, wenn es den Sachverhalt insgesamt noch nicht umfassend geklärt erachtet. Ob eine dem Berufungsgericht erforderlich erscheinende Verfahrensergänzung tatsächlich notwendig ist, ist vom Obersten Gerichtshof aufgrund eines Rekurses gegen einen Aufhebungsbeschluß nicht zu prüfen (Kodek in Rechberger, ZPO Rz 5 zu § 519 mwN).

Der Grad des Integritätsschadens ist gemäß § 2 Abs 1 der Richtlinien über die Leistung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213 a ASVG (Soziale Sicherheit, Amtl Verlautbarung Nr 28/1991) zum Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente zu ermitteln. Er ergibt sich aus:

1. dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit;

2. dem Grad der Beeinträchtigung von Körperfunktionen, soweit diese Beeinträchtigung nicht für die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen ist; der gemäß Z 1 zu ermittelte Hundersatz erhöht sich danach

a) bei schwerer Beeinträchtigung..... um 10 vH

b) bei mittlerer Beeinträchtigung ...... um 5 vH;

3. dem Grad der Verunstaltung des äußerlichen Erscheinungsbildes; der der gemäß Z 1 zu ermittelnde Hundertsatz erhöht sich danach

a) bei schwerer Verunstaltung.... um 10 vH

b) bei mittlerer Verunstaltung ..... um 5 vH;

4. dem Grad der unfall- oder berufskrankheitsbedingten seelischen Störung; der gemäß Z 1 zu ermittelnde Hundersatz erhöht sich danach

a) bei schwerer seelischer Störung... um 10 vH

b) bei mittlerer seelischer Störung.... um 5 vH.

Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß bei Ermittlung des Grades des Integritätsschadens zum Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente alle Unfallsfolgen, die die Erwerbsfähigkeit des Versicherten mindern, einzubeziehen sind. Voraussetzung der Integritätsabgeltung ist, daß wegen der Folgen des Arbeitsunfalles auch ein Anspruch auf Versehrtenrente (§ 203 Abs 1 ASVG) besteht (§ 213a ASVG; SSV-NF 9/60). Aus der Voraussetzung eines Anspruches des Versicherten auf Versehrtenrente folgt jedoch entgegen der Ansicht der Beklagten bei der Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit keine Bindung an die Rentenentscheidung. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ist Ausgangspunkt für die Ermittlung des Grades des Integritätsschadens; es besteht jedoch keine Bindung an das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit, das der Feststellung der Dauerrente zugrundegelegt wurde. Im Rentenbescheid wird keine feststellende Entscheidung über die Minderung der Erwerbsfähigkeit getroffen, sondern über die Leistung der Versehrtenrente abgesprochen, wofür die Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Vorfrage ist. Aus der Rechtskraft des Rentenbescheides folgt daher nur, ob und in welchem Ausmaß der Versicherte Anspruch auf eine Versehrtenrente hat. Das Ausmaß des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit, das dem Grad des Integritätsschadens zugrundezulegen ist, ist daher im Verfahren auf Gewährung einer Integritätsabgeltung selbständig, also ohne Bindung an das Rentenverfahren, zu prüfen. Richtig weist die Beklagte in diesem Zusammenhang darauf hin, daß hinsichtlich des Grades des Integritätsschadens auf den Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente abzustellen ist. Spätere Änderungen (§ 183 Abs 1 ASVG) sind nicht zu berücksichtigen (§ 1 Abs 1 Richtlinien). Aus dem zeitlichen Konnex folgt aber entgegen ihrer Ansicht keine inhaltliche Bindung im Verfahren über die Integritätsabgeltung. Die ebenfalls eine inhaltliche Bindung bejahende Entscheidung des OLG Graz in SVSlg

40.386 überzeugt nicht. Sie versucht, gestützt auf den zeitlichen Konnex und § 2 Abs 1 Z 2 Richtlinien, eine Bindung hinsichtlich der Minderung der Erwerbsfähigkeit aus der "Rechtskraft des Bescheides auf Gewährung einer Dauerrente" abzuleiten. Die zitierte Bestimmung der Richtlinien besagt jedoch nur, daß bei der Ermittlung des Grades der Beeinträchtigung von Körperfunktionen nur jene Beeinträchtigung zu berücksichtigen ist, die nicht für die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen ist. Daraus folgt jedoch keine Bindung bei der Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Mit dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit steht der Grad des Integritätsschadens noch nicht abschließend fest. Zum Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit können nämlich noch weitere Hundertsätze aufgrund einer Beeinträchtigung von Körperfunktionen, einer Verunstaltung des äußeren Erscheinungsbildes oder einer unfallbedingten seelischen Störung kommen (§ 2 Abs 1 Z 2-4 Richtlinie). Erachtet das Berufungsgericht auch in diesem Zusammenhang den festgestellten Sachverhalt für ergänzungsbedürftig, so kann dem ebenfalls vom Obersten Gerichtshof aufgrund eines Rekurses gegen den Aufhebungsbeschluß nicht entgegengetreten werden (SSV-NF 8/64 ua).

Anspruch auf eine Integritätsabgeltung besteht, wenn ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit durch die grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften versacht wurde und der Versehrte dadurch eine erhebliche und dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität erlitten hat, sofern zum Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Dauerrente aus diesem Versicherungsfall der Grad des Integritätsschadens mindestens 50 vH beträgt. Spätere Änderungen (§ 183 Abs 1 ASVG) sind nicht zu berücksichtigen (§ 1 Abs 1 Richtlinie).

Während die Beeinträchtigung von Körperfunktionen nur Berücksichtigung finden kann, soweit diese Beeinträchtigung nicht für die Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen ist, findet sich diese Einschränkung nicht beim Grad der Verunstaltung des äußerlichen Erscheinungsbildes oder der unfallbedingten seelischen Störung. Das Fehlen der Bezugnahme auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit bei der Erhöhung durch Verunstaltung bzw seelische Störung kann bedeuten, daß der Richtliniengeber davon ausging, daß die Beeinträchtigungen nicht erwerblich ins Gewicht fallen und ohnedies bei Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit unberücksichtigt bleiben (Dörner, Integritätsabgeltung 90), oder eine allfällige "doppelte" Berücksichtigung bzw teilweise Überschneidung in Kauf nahm.

Eine unfallbedingte, zumindest mittlere seelische Störung ist bei Ermittlung des Integritätsschadens zu berücksichtigen (§ 2 Abs 1 Z 4 Richtlinie), ohne daß es auf ihren Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit des Versicherten ankommt. Daß bestimmte Unfallfolgen sowohl die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen als auch eine seelische Störung hervorrufen und daher von zwei Seiten in die Ermittlung des Integritätsschadens einfließen, ist grundsätzlich denkbar (vgl allgemein zur Problematik seelischer Schmerzen: Arbeitspapier der Gesellschaft österreichischer Nervenärzte und Psychiater - Arbeitsgemeinschaft Neurologisch - Psychiatrischer Gutachter: Die Begutachtung sogenannter seelischer Schmerzen, RZ 1994, 146). Daß bestimmte Unfallfolgen von zwei Seiten in die Ermittlung einfließen, bedeutet noch nicht zwangsläufig eine "doppelte" Berücksichtigung, wenn man sich vor Augen hält, daß eine seelische Störung, die sich auch auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt, eben weiter wirkt als eine seelische Störung, bei der dies nicht der Fall ist.

Wie bereits dargestellt, ist bei Ermittlung des Integritätsschadens zunächst vom Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeits auszugehen und dieser dann je nach Schwere der Beeinträchtigung nicht global, sondern für jede Integritätsschadensgruppe (Beeinträchtigung von Körperfunktionen, Verunstaltung, unfallkausale seelische Störungen) gesondert zu erhöhen. Die Summe aus dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit und den jeweiligen Erhöhungen definiert dann das Ausmaß des Integritätsschadens (SSV-NF 10/101). Die Integritätsabgeltung ist im Konkurrenzbereich zwischen ziviler Haftpflichtordnung und Sozialversicherung angesiedelt. Ihr Zweck ist es, durch eine Geldleistung einen gewissen Ausgleich für körperliche Schmerzen, Leid, verminderte Lebensfreude, Beeinträchtigung des Lebensgenusses und ähnliche Ursachen seelichen Unbehagens zu bieten. Damit wird ihre Verwandschaft mit den immateriellen Schadenersatzansprüchen des ABGB deutlich (ARD 4634/21/95). Entgegen der Ansicht der Beklagten ist nicht entscheidend, ob "auch" oder "nur" seelische Schäden vorliegen; maßgeblich ist, ob der Integritätsschaden insgesamt mindestens 50 vH erreicht.

Zum Spruch des vom Berufungsgericht aufgehobenen Ersturteils (Punkt1.) ist der Vollständigkeit halber anzumerken, daß im Verfahren auf Gewährung einer Integritätsabgeltung gemäß § 213a ASVG eine gesonderte spruchmäßige Feststellung des Grades des Integritätsschadens nicht vorgesehen ist. Abzusprechen ist nur über die Gewährung der Integritätsabgeltung (so auch der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17.9.1992).

Zusammenfassend kann der vom Berufungsgericht angenommenen Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes nicht entgegengetreten werden; den beiden Rekursen gegen den Aufhebungsbeschluß muß daher ein Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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