OGH 10ObS320/97z

OGH10ObS320/97z9.2.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer sowie die fachkundigen Laienrichter OSR Dr.Friedrich Weinke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Aloisia P*****, Pensionistin, ***** vertreten durch ihre Sachwalterin Mag.Gundula S*****, diese vertreten durch Hausberger-Moritz-Schmidt, Rechtsanwälte in Wörgl, wider die beklagte Partei Tiroler Gebietskrankenkasse, 6020 Innsbruck, Klara-Pölt-Weg 2, vertreten durch Dr.Hans-Peter Ullmann und Dr.Stefan Geiler, Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen Kostenübernahme, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 17.Juni 1997, GZ 25 Rs 64/97s-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 13. März 1997, GZ 47 Cgs 184/96d-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 19.11.1912 geborene Klägerin leidet an einem Zustand nach Cholezystektomie (operative Entfernung der Gallenblase), Bauchdeckenoperation und Strumektomie (operative Entfernung von Schilddrüsengewebe). Neben den altersbedingten Abbauerscheinungen besteht ein organisches Psychosyndrom. Die Klägerin muß Psychopharmaka in hohen Dosen einnehmen; dies ist die Hauptursache für ihre Harninkontinenz, wozu allerdings altersbedingte Veränderungen kommen. Die Harnblase entleert sich zwar normal, doch benötigt die Klägerin auf Grund der weder medikamentös noch durch sonstige Maßnahmen beeinflußbaren Inkontinenz Einlagen, die dreimal täglich gewechselt werden müssen. Ihre Gesundheit ist durch die - nicht gravierende - Inkontinenz nicht beeinträchtigt; zusätzlich können willkürliche Spontanmiktionen auf einer Toilette durchgeführt werden. Die Inkontinenzeinlagen sind nicht geeignet, die Gebrechen zu beseitigen, können allerdings Folgeerkrankungen wie Blasenentzündung oder Hautveränderungen deutlich reduzieren. Die Klägerin lebt in einem Heim und bezieht Pflegegeld der Stufe 3.

Mit Bescheid der beklagten Gebietskrankenkasse vom 3.6.1996 wurde der Antrag der Klägerin auf "Übernahme der gesamten monatlichen Kosten der Inkontinenzversorgung in der Höhe von S 869,50" abgelehnt. Voraussetzung für die Gewährung von Hilfsmitteln nach § 154 ASVG sei, daß die Person wieder in die Lage versetzt werde, für ihre lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen. Dies treffe auf die Klägerin nicht zu, weil sie in einem Pflegeheim gepflegt werde und einen Sachwalter habe. Zudem stehe fest, daß die Versorgung mit Windeln keinen prophylaktischen Nutzen bringe, sondern lediglich die Pflege erleichtere. Ungeachtet dieser Umstände gewähre die Kasse der Versicherten einen Zuschuß gemäß § 154 ASVG von etwa 50 % der tatsächlichen Kosten für die Inkontinenzversorgung: sie zahle an die Versicherten, die als Pflegefall in Heimen untergebracht seien, S 13,-- pro Tag für die Inkontinenzversorgung, dies seien 50 % des ortsüblichen Tarifes.

Mit ihrer dagegen erhobenen Klage begehrte die Klägerin von der Beklagten die Zahlung der "gesamten monatlichen Kosten der Inkontinenzversorgung in Höhe von monatlich S 869,60". Nach § 154 ASVG seien als Hilfsmittel solche Gegenstände anzusehen, die geeignet sind, die mit einem Gebrechen verbundene körperliche Beeinträchtigung zu mildern. Diese Voraussetzung sei bei der Klägerin gegeben. Ihre Inkontinenz sei als Krankheit anzusehen; zur Minderung der dadurch verursachten Beschwerden sei die Versorgung mit Inkontinenzartikel notwendig.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Anspruch bestehe schon deshalb nicht zu Recht, weil ihm keine ärztliche Verordnung zugrundeliege. Ein abstraktes Absprechen darüber, ob die Klägerin im allgemeinen Anspruch auf Inkontinenzversorgung habe, sei nicht möglich. Auch eine rückwirkend ausgestellte ärztliche Verordnung würde auf Grund der Bestimmungen der Krankenordnung der beklagten Partei keine Wirksamkeit entfalten. Davon abgesehen lägen die Voraussetzungen nach § 154 Abs 1 ASVG (Hilfe bei körperlichen Gebrechen) nicht vor. Die Versorgung der Klägerin mit Windeln diene vielmehr zur Erleichterung der Pflege und stelle als solche auch keine Krankenbehandlung dar.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der geltend gemachte Anspruch sei - unabhängig davon, ob nun die beklagte Partei der Klägerin einen Zuschuß gemäß § 154 ASVG für die Kosten der Inkontinenzversorgung gewähre - nicht gegeben. Die Einlagen seien nicht geeignet, die Inkontinenz zu beseitigen. Es handle sich um einen altersbedingten Zustand im Sinne eines Gebrechens und nicht um eine Krankheit.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei. Nach § 154 Abs 1 ASVG könne die Satzung bei körperlichen Gebrechen, welche die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit oder die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, wesentlich beeinträchtigen, Zuschüsse für die Anschaffung der notwendigen Hilfsmittel vorsehen. Für Inkontinenzeinlagen seien solche Zuschüsse nicht vorgesehen. Es handle sich dabei aber auch nicht um einen Heilbehelf iSd § 137 ASVG, weil die Einlagen lediglich die Folgen der Inkontinenz mildern könnten, auf die Inkontinenz selbst aber keinen Einfluß hätten. Heilbehelfe könnten nur dann als Pflichtleistung beansprucht werden, wenn Aussicht bestehe, die entsprechende Regelwidrigkeit des körperlichen Zustandes durch die Krankenbehandlung zu beheben, zu bessern oder eine Verschlimmerung hinanzuhalten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens.

Die beklagte Partei beantragte in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Gesetzgeber bietet im § 137 Abs 1 ASVG keine Definition der "Heilbehelfe", sondern begnügt sich mit einer beispielsweisen Aufzählung: "Brillen, orthopädische Schuheinlagen, Bruchbänder und

sonstige notwendige Heilbehelfe sind dem Versicherten ... in

einfacher und zweckmäßiger Ausführung ... zu gewähren". Es ist daher

jeweils zu prüfen, ob ein bestimmtes, dem Versicherten verordnetes Mittel dem Sprachgebrauch nach einen "Behelf" darstellt und den gesetzlichen Beispielen zwanglos zugeordnet werden kann (vgl SSV-NF 1/9, 4/77, 4/146, 8/12, 9/2, 10/120). Dabei läßt sich insbesondere zu den "Hilfsmitteln" iSd § 154 Abs 1 ASVG keine klare Grenze ziehen. Als Hilfsmittel sind nach der dort gegebenen Legaldefinition solche Gegenstände und Vorrichtungen anzusehen, die geeignet sind, a) die Funktionen fehlender oder unzulänglicher Körperteile zu übernehmen oder b) die mit einer Verstümmelung, Verunstaltung oder einem Gebrechen verbundene körperliche oder psychische Beeinträchtigung zu mildern oder zu beseitigen. Die Unterscheidung ist danach zu treffen, ob der Behelf (im konkreten Anwendungsfall) dem Heilungszweck dient ("Heilbehelf") oder ob er erst nach Abschluß des Heilungsprozesses (als "Hilfsmittel") zum Einsatz kommt (Binder in Tomandl, SV-System

8. ErgLfg 222 f mwN; teilw aM Tomandl, Grundriß4 RZ 114, wonach das ASVG Hilfsmittel in den Begriff des Heilbehelfes einschließe; zum Heilmittelbegriff vgl auch Binder, Die Krankenversicherung und der Oberste Gerichtshof, in: Tomandl /Hrsg/, Der Oberste Gerichtshof als Sozialversicherungshöchstgericht, 14 ff). Nach dem bisher Gesagten wäre § 137 Abs 1 ASVG dahin auszulegen, daß unter "Heilbehelfen" nur solche Behelfe zu verstehen sind, die der Heilung, Linderung oder Verhütung von Verschlimmerungen der Krankheit dienen. Der Oberste Gerichtshof hat etwa eine Lenox-Hill-Orthese als Heilbehelf (SSV-NF 4/146), hingegen eine Creme zum Abdecken von entstellenden Hautverfärbungen im Gesicht (SSV-NF 1/9), eine kosmetische Hautcreme (SSV-NF 4/77) oder eine Lesebrille (SSV-NF 10/120) als Hilfsmittel beurteilt.

Auch nach § 33 des deutschen SGB V (Krankenversicherung) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen. Als solche Hilfsmittel werden Gegenstände angesehen, die nach einem Heilungsprozeß zum Ausgleich eines vor allem körperlichen Funktionsdefizits angewendet werden. Sie müssen beeinträchtigte Körperfunktionen ermöglichen, ersetzen, erleichtern oder ergänzen und der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens dienen. Im Unterschied zu den der therapeutischen Einflußnahme dienenden Heilmitteln sind Hilfsmittel zum Ausgleich natürlicher Funktionen nach beendetem Heilverfahren erforderlich (Schneider in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1, Krankenversicherungsrecht, 711 Rz 270 ff). Nach der Rechtsprechung des deutschen BSG können Inkontinenzhilfsmittel wie zB Einmal- und Endloswindeln, Einwegkrankenunterlagen, Einwegwindeln, Einwegslips, Gummihosen, Zellstoffeinlagen u.ä. nur dann als Hilfsmittel nach § 33 SGB V anerkannt und zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden, wenn sie in direktem Zusammenhang mit der Behandlung einer Krankheit erforderlich sind, wenn neben der Inkontinenz so schwere Funktionsstörungen (zB Halbseitenlähmung mit Sprachverlust) vorliegen, daß ohne den Einsatz von Inkontinenzartikel der Eintritt von Dekubitus oder Dermatitiden droht (Dekubitusprophylaxe) oder nur durch den Einsatz von Inkontinenzartikel das allgemeine Grundbedürfnis der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befriedigt werden kann. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse besteht jedoch dann nicht, wenn Inkontinenzartikel ausschließlich der Erleichterung hygienischer und pflegerischer Maßnahmen dienen. Kann ein Produkt sowohl aus krankheitsbedingter Ursache als auch zur Unterstützung der Pflege eingesetzt werden, ist zu prüfen, zu welchem Zweck der Artikel vorrangig notwendig ist (Figge, Sozialversicherungs-Handbuch Leistungsrecht - FSL - 6, Seite 50 f, Pkt 6.3.4.7; 19 Seite 64/1, Pkt 19.11.1.6).

Im vorliegenden, ausschließlich nach österreichischem Recht zu beurteilenden Fall kann die Frage, ob es sich bei dem genannten Inkontinenzmaterial um einen Heilbehelf iSd § 137 ASVG oder um ein Hilfsmittel iSd § 154 ASVG handelt, nur nach den besonderen konkreten Umständen der Anwendung dieses Materials bei der Klägerin beantwortet werden.

Nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen steht die Inkontinenzversorgung der Klägerin in keinem Zusammenhang mit einer Krankenbehandlung; sie ist nicht geeignet, das Gebrechen zu beseitigen, auch nur zu bessern oder auf sonstige Weise im Sinne einer Verhütung von Verschlimmerungen dieser Krankheit zu beeinflussen. Die Gesundheit der Klägerin ist durch die - nicht gravierende - Inkontinenz auch nicht beeinträchtigt. Dazu kommt, daß zusätzlich willkürliche Spontanmiktionen auf einer Toilette durchgeführt werden können. Daß Folgeerkrankungen wie Blasenentzündungen oder Hautveränderungen durch die Einlagen deutlich reduziert werden können, ist nicht ausschlaggebend, weil es sich dabei um prophylaktische Wirkungen handelt, die grundsätzlich mit jeder notwendigen Körperpflege einhergehen. Eine mit der vorliegenden Klage begehrte "Kostenübernahme" - zu verstehen im Sinne eines Anspruches auf Sachleistungsgewährung - aus dem Titel "Heilbehelfe" nach § 137 ASVG scheidet daher aus.

Aber auch die Bestimmung des § 154 ASVG ist keine taugliche Anspruchsgrundlage, weil dort normiert ist, daß die Satzung Zuschüsse für die Anschaffung der notwendigen Hilfsmittel vorsehen kann, die Satzung der beklagten Partei aber keinen Anspruch auf vollständige Tragung der Kosten für Inkontinenzeinlagen vorsieht. Dies hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt. Daß die beklagte Gebietskrankenkasse an Versicherte, die - wie die Klägerin - als Pflegefall in einem Heim untergebracht sind, etwa 50 % der Kosten der Inkontinenzversorgung (S 13,-- pro Tag) zahlt, ergibt sich unwidersprochen aus dem angefochtenen Bescheid. Die Satzung, insbesondere deren § 38 ("Die Kasse leistet für die Anschaffung eines notwendigen Hilfsmittels ... einen Zuschuß...") eröffnet aber keinen klagbaren Anspruch auf Zahlung der gesamten monatlichen Kosten der Inkontinenzversorgung für die Zukunft. Ansprüche, die erst in Zukunft entstehen werden, können in der Regel übrigens auch nicht zum Gegenstand einer Feststellungsklage gemacht werden (Fink, Sukzessive Zuständigkeit, 369; vgl SSV-NF 8/94 = SZ 67/164).

Der in diesem Zusammenhang gerügte Verfahrensmangel, die Satzung der beklagten Partei sei nicht "amtswegig eingeholt" worden, liegt nicht vor. Inhaltlich macht die Revisionswerberin damit geltend, die Vorinstanzen seien nicht von der aufgrund der Satzung, also einer Verordnung (Korinek in Tomandl, SV-System 7. ErgLfg 503 mwN) bestehenden Rechtslage ausgegangen. Die hier maßgebliche Satzung 1995 der Tiroler Gebietskrankenkasse wurde in der Fachzeitschrift "Soziale Sicherheit" 1995, 478 ff, Amtliche Verlautbarung Nr 63/1995, im Sinne des § 455 Abs 1 ASVG gehörig kundgemacht (verlautbart) und brauchte nicht vom Gericht "eingeholt" zu werden.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit wurden nicht dargetan und sind nach der Aktenlage auch nicht ersichtlich.

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