OGH 10ObS443/97p

OGH10ObS443/97p20.1.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Werner Hartmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Erwin Macho (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Alois G*****, vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram, Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 11.September 1997, GZ 7 Rs 100/97y-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 30. Jänner 1997, GZ 22 Cgs 72/96k-14, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Die Beklagte hat die Erkrankung, die sich der Kläger als Forstarbeiter zugezogen hatte (sogenannte Weißfingerkrankheit) ab 5.10.1987 als Berufskrankheit der laufenden Nr 20 der Liste der Berufskrankheiten anerkannt und dem Kläger mit Bescheid vom 21.5.1990 eine Dauerrente in der Höhe von 20 v.H. der Vollrente zuerkannt. Grundlage dieses Bescheides war das angiologische Gutachten vom 22.12.1989, in dem festgestellt wurde, daß beim Kläger eine berufsbedingte Weißfingerkrankheit mit Abblassen der End- und Mittelglieder der Langfinger, eine extrem stark verzögerte Wiedererwärmung an den Händen nach Kälteprovokation und eine geringgradige organische Gefäßläsion der Finger III, IV und V beidseits, die jedoch kompensiert sei, bestehe.

Mit Bescheid vom 2.3.1996 hat die Beklagte dem Kläger diese Dauerrente ab 1.5.1996 gemäß § 99 Abs 1 ASVG wegen einer wesentlichen Besserung des Zustandes und Nichtvorliegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenbegründendem Ausmaß entzogen.

Der Kläger begehrt die Weitergewährung der Dauerrente über den 30.4.1996 hinaus. Eine Besserung der Berufskrankheit sei nicht eingetreten.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens mit der in ihrem Bescheid vom 12.3.1996 angeführten Begründung einer wesentlichen Besserung der Folgen der Berufskrankheit.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stellte fest, daß beim Kläger ein sekundäres Raynaudsyndrom als Folge einer Weißfingerkrankheit und eines Schulter-Armsyndroms, wobei dieses keine Folge der Berufskrankheit Nr 20 sei, bestehe. Das Schulterarmsyndrom sei bereits im Zeitpunkt des maßgeblichen Vorbefundes vorhanden gewesen. Würde sich der Kläger wiederum Vibration und Kälte aussetzen, würde er die gleichen klinischen Symptome erleiden wie zum Zeitpunkt des Vorbefunden 1989. In bezug auf das maßgebliche Vorgutachten sei es zu einer wesentlichen Änderung der aktuellen klinischen Symptomatik gekommen, was auf Abstinenz von Kälte und Vibrationen zurückzuführen sei. Beim Kläger liege allerdings nach wie vor eine erhöhte Kälteempfindlichkeit vor. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers aus der Berufskrankheit Nr 20 (Weißfingerkrankheit) betrage 10 v.H.

Das Erstgericht vertrat die Rechtsansicht, daß infolge der eingetretenen Besserung der klinischen Symptomatik, wodurch die berufskrankheitsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nur mehr 10 v. H. betrage, eine den Rentenentzug rechtfertigende wesentliche Besserung eingetreten sei.

Das Berufungsgericht änderte das Ersturteil dahingehend ab, daß es die Beklagte zur Weitergewährung der Versehrtenrente als Dauerrente ab 1.5.1996 im Ausmaß von S 2.879,30, sohin im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente verurteilte.

Es führte rechtlich aus, daß es sich bei der Berufskrankheit laufende Nr 20 der Anlage 1 zum ASVG um eine Erkrankung handle, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten zwinge, die für ihre Entstehung und Verschlimmerung oder ihr Wiederaufleben ursächlich waren oder sein könnten. Solche Krankheiten, die bei Fortsetzung oder Wiederaufnahme schädigender Erwerbsarbeit wieder ausbrechen könnten, seien auch während der Latenz Berufskrankheiten, deren Folgen die Erwerbsfähigkeit mindern. Während Hauterkrankungen (Nr 19 der Anlage 1) und Erkrankungen an Asthma bronchiale (laufende Nr 30 der Anlage 1) nur als Berufskrankheiten gelten, wenn und solange sie zur Aufgabe schädigender Erwerbsarbeit zwingen, worunter die letzte Erwerbstätigkeit zu verstehen sei, sei bei den übrigen (latenten) Berufskrankheiten die Aufgabe der schädigenden Erwerbstätigkeit keine Voraussetzung für deren Anerkennung als Berufskrankheit. Zum akuten Leidenszustand seien daher auch latente Krankheitszustände zu zählen, weshalb die MdE abstrakt bezogen auf den aktuellen Leidenszustand zu prüfen sei. Ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand sei auch bei einer latent vorhandenen Krankheit gegeben, wenn diese unter bestimmten Bedingungen wieder zum Ausbruch kommen könne. Die auf die Abstinenz von Kälte und Vibration zurückzuführende Besserung der aktuellen klinischen Symptomatik sei keine Besserung der Berufskrankheit als solcher, weshalb die berufskrankheitsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers nach wie vor mit 20 v.H. einzuschätzen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache und dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Wiederherstellung des Urteiles des Erstgerichtes abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die klagende Partei stellt den Antrag, der Revision der Beklagten nicht Folge zu geben.

Die Revision ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Ein vergleichbarer Sachverhalt lag der Entscheidung SSV-NF 3/62 (= SZ 62/95) zugrunde. Der dortige Kläger, ein Forstarbeiter, litt als Folge der Überanstrengung durch den kräftigen Faustschluß bei der Bedienung der Motorsäge an einem beidseitigen Karpaltunnelsyndrom. Nach seiner Pensionierung klangen zufolge der nunmehrigen Ruhigstellung die Entzündungen ab; irrevisble Schäden waren nicht mehr festzustellen. Das Berufungsgericht hob die klageabweisende Entscheidung des Erstgerichtes, die damit begründet worden war, daß zu dem nach Ansicht des Erstgerichtes für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt (der nach dem Tag der Pensionierung gelegen war) keine Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr bestanden habe, auf. Bestehe kein akuter Leidenszustand, so seien die Auswirkungen einer Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit zu bedenken und es sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit insofern abstrakt, bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu prüfen. Die abstrakte Prüfung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit bestehe in der Gegenüberstellung der Durchschnittsverdienste in allen Arbeitsmöglichkeiten, die dem Versicherten bis zum Eintritt des Versicherungsfalles offengestanden seien, mit den Durchschnittsverdiensten in den ihm im Hinblick auf die Berufskrankheit verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten. Diese seien dann gemindert, wenn eine latente Krankheit bei Aufnahme der verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten sofort wieder ausbrechen würde. § 174 Z 2 ASVG verweise bezüglich des Eintrittes des Versicherungsfalles auf den Beginn der (behandlungsbedürftigen) Krankheit (§ 120 Abs 1 Z 1 ASVG), wobei letztere als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert sei. Ein solcher bestehe aber auch dann, wenn eine latente Krankheit vorhanden sei und unter bestimmten Bedingungen zum Ausbruch komme. Der Oberste Gerichtshof gab mit der zu SSV-NF 3/62 veröffentlichten Entscheidung dem gegen den Aufhebungsbeschluß gerichteten Rekurs der beklagten Partei nicht Folge und trat der Rechtsansicht des Berufungsgerichtes bei.

Die Grundsätze sind auch auf den vorliegenden Fall übertragbar. Das Ausmaß der sogenannten medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sich grundsätzlich nach dem (vom ärztlichen Sachverständigen bei der Einschätzung zu berücksichtigenden) Umfang der Tätigkeiten, von deren Verrichtung der Versicherte im Hinblick auf den bestehenden Leidenszustand ausgeschlossen ist; die dadurch entfallenden Verdienstmöglichkeiten schränken die Erwerbsfähigkeit des Versicherten im allgemeinen Arbeitsmarkt ein. Besteht kein akuter Leidenszustand, liegt jedoch ein latentes Leiden vor, das bei Aufnahme bestimmter Tätigkeit wieder ausbrechen würde, so schließt dies den Versicherten von den Tätigkeiten aus, die zum Wiederauftreten der akuten Symptome führen würden. Ob dies bei der hier vorgenommenen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit beachtet wurde, läßt sich aus den Feststellungen nicht entnehmen.

§ 183 ASVG regelt die Neufeststellung der Versehrtenrente und stellt für diesen Bereich bezüglich der Entziehung eine Sonderbestimmung gegenüber § 99 ASVG dar (SSV-NF 6/71). Danach hat die Neufeststellung (bzw Entziehung) der Versehrtenrente zu erfolgen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung einer Rente maßgeblich waren, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Der Leistungsentzug setzt daher (wie auch nach § 99 ASVG) eine entscheidende Änderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann dabei unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes, auch im Abklingen akuter Symptome oder in der Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wieder in weiterem Umfang einsetzbar, so liegen die Voraussetzungen für die Herabsetzung oder Entziehung der Rente vor. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben die objektiven Grundlagen für die Leistungszuerkennung keine wesentliche Änderung erfahren, so steht die Rechtskraft des Gewährungsbescheides der Entziehung entgegen (idS SSV-NF 7/2 mwH - dort zu § 99 ASVG). Dabei kommt es nicht darauf an, welcher Zustand und welche Einschätzung der seinerzeitigen Gewährung zugrundegelegt wurde, sondern es sind im Verfahren über die Entziehung einer Leistung unabhängig von den im Zuerkennungsverfahren allenfalls getroffenen Feststellungen vom Gericht eigene Feststellungen über die maßgeblichen Umstände im Zuerkennungszeitpunkt zu treffen. Unter Vergleich mit dem nunmehr bestehenden Zustand ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang eine Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. Auf dieser Grundlage ist die Frage der Zulässigkeit der Neufeststellung bzw der Entziehung der Rente zu entscheiden (SSV-NF 5/5).

Hier wurde von den Vorinstanzen nur der Inhalt des Gutachtens festgestellt, das der Gewährung der Rente zugrundelag und ein Vergleich des Zustandes mit dem nunmehr erhobenen Zustand angestellt. Dies reicht aber nach den obigen Ausführungen nicht aus. Es wird vielmehr bezogen auf den Gewährungszeitpunkt unabhängig von dem der seinerzeitigen Entscheidung zugrundegelegten Sachverhalt der Zustand des Klägers und die daraus resultierende medizinische Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu erheben sein; diese Feststellungen bilden dann die Grundlage für den zu der Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, anzustellenden Vergleich.

Ist ein im Zeitpunkt der Gewährung bestandener akuter Leidenszustand durch die mittlerweile erfolgte Ruhigstellung abgeklungen, so könnte eine wesentliche Änderung im Sinne des § 183 Abs 1 ASVG darin gelegen sein, daß der Kläger etwa mit Rücksicht auf diesen damals akuten Zustand von der Verrichtung von Tätigkeiten ausgeschlossen war, die ihm zufolge der zwischenzeitigen Konsolidierung des Zustandes durch Abklingen der akuten Symptome wieder möglich sind und bei deren Verrichtung nicht mit dem neuerlichen Ausbruch der akuten Krankheit gerechnet werden müßte. Ob und in welchem Umfang in diesem Sinne eine Besserung im Zustand des Klägers eingetreten ist, kann aufgrund der vorliegenden Feststellungen nicht beurteilt werden. Auszugehen ist dabei jedenfalls davon, daß der Kläger, wie bereits ausgeführt, von Tätigkeiten, die zum umgehenden Wiederausbruch der Erkrankung führen, weiterhin ausgeschlossen ist.

Das Verfahren erweist sich daher im aufgezeigten Sinn ergänzungsbedürftig.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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