OGH 10ObS186/97v

OGH10ObS186/97v30.9.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Danzl als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter MR Dr.Richard Warnung (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ferdinand Rodinger (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Gerda K*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Robert Obermann, Rechtsanwalt in Kapfenberg, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, vor dem Obersten Gerichtshofes nicht vertreten, wegen Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27.Februar 1997, GZ 7 Rs 10/97p-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 11.September 1996, GZ 21 Cgs 213/95m-19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 28.12.1945 geborene Klägerin ist gelernte Einzelhandelskauffrau. Von 1970 bis 1973 arbeitete sie als Verkäuferin, von 1973 bis 1976 als Bürokraft, von 1984 bis 1988 und 1991 aushilfsweise als Verkäuferin. Vom 1.2.1991 bis 9.5.1994 übte sie halbtags (Wochenarbeitszeit 20 Stunden) eine Tätigkeit als Lernhilfe in einer Kindergruppe (Lernbetreuung) im Rahmen des Steirischen Wohlfahrts- vereines Volkshilfe, Bezirksgruppe Knittelfeld aus. Aus Arbeitgeberbestätigungen geht hervor, daß ihr Bruttogehalt zuletzt S 8.460,- monatlich betrug (netto S 6.966,80). Von Mai 1994 bis 31.3.1995 bezog sie von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten eine befristete Berufsunfähigkeitspension.

Auf Grund verschiedener Leidenszustände, darunter degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, der Hüft- und Kniegelenke und depressiver Verstimmungszustand, kann die Klägerin nur mehr leichte und bis zur Hälfte eines Arbeitstages mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten. Ein vermehrter Haltungswechsel sollte eingeräumt werden, den sie individuell wählen kann. Tätigkeiten, die mit häufigen Bewegungen im Handgelenk bzw mit einem Überstrecken des Handgelenks verbunden sind, scheiden aus. Bück- und Hebearbeiten sind auf ein Drittel des Arbeitstages zu reduzieren und auf diesen gleichmäßig zu verteilen. Die Tätigkeiten sind nur in geschlossenen, nicht zugigen und nicht feuchten Räumen zumutbar. Tätigkeiten auf Treppen, Stiegen und mehrstufigen Leitern oder Gerüsten scheiden aus, ebenso Fließbandarbeiten und Tätigkeiten an Maschinen, an denen hauptsächlich gestanden werden muß. Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Tätigkeiten, die ein forciertes Arbeitstempo voraussetzen, sind nicht zumutbar; ein normales Arbeitstempo ist ganztägig möglich, auch Schichtdienst exklusive Nachtdienst ist zumutbar. Es besteht Verweisungsfähigkeit, doch kann sich die Klägerin neue Kenntnisse zu Schulungs- und Anlernzwecken nicht mehr aneignen. Innerhalb eines Zeitraumes von vier Wochen könnte sie EDV-Kenntnisse erwerben. Aus psychischen Gründen ist ihr die Tätigkeit einer Lernhilfe nicht mehr zuzumuten.

Die Klägerin könnte jedoch noch die Tätigkeit einer Fakturistin ausüben. Fakturisten verfügen über eine kaufmännische Lehrausbildung, eine berufsbildende mittlere Schule oder sie werden innerbetrieblich angelernt. Die Hauptaufgabe besteht im Ausstellen von Rechnungen für Waren und Dienstleistungen, die vom Unternehmen verkauft werden. Kleinere Unternehmen werden auf Bestellungen bearbeitet. Fakturisten führen auch Kundenkarteien. Die Tätigkeiten werden fast ausschließlich an EDV-unterstützten Anlagen und mittels Rechenmaschinen durchgeführt, die erforderlichen EDV-Kenntnisse können innerhalb von vier Wochen erworben werden. Arbeiten unter besonderen Zeitdruck sind nicht zu bewältigen. Es gibt in Österreich weit mehr als 100 Arbeitsplätze, in denen nicht mit forcierten Tempo zu arbeiten ist. Die Klägerin könnte aber auch noch die Tätigkeit einer Büro- und Kanzleihilfskraft durchführen, die nur mit normalem Arbeitstempo arbeiten.

Mit Bescheid vom 22.5.1995 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 5.1.1995 auf Weitergewährung der befristeten Berufsunfähigkeitspension ab.

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin die Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1.4.1995. Sie sei auf Grund ihrer Leiden nicht mehr in der Lage, eine regelmäßige Arbeitsleistung zu erbringen.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, daß die Klägerin ihre frühere Berufstätigkeit bzw eine ähnliche ihr zumutbare Beschäftigung ausüben könne.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, daß die Klägerin nicht nach § 273 Abs 1 ASVG berufsunfähig sei, weil sie im Rahmen ihrer Berufsgruppe als Fakturistin, aber auch als Büro- und Kanzleihilfskraft arbeiten könne und für die genannten Verweisungsberufe ein ausreichender Arbeitsmarkt vorhanden sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Eine Versicherte, die in mehreren erlernten oder angelernten Berufen tätig gewesen sei, verfüge über eine vielfältigere Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten als eine nur in einem Beruf tätig gewesene. Bezüglich der Frage, auf welche Berufe die Versicherte noch verwiesen werden dürfe, sei daher deren gesamter bisheriger Berufsverlauf maßgeblich. Innerhalb ihrer Berufsgruppe dürfe die Versicherte nicht auf Berufe verwiesen werden, die für sie einen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten könnten. Der Ansicht der Klägerin, daß ihre Verweisung auf die Tätigkeit als Fakturistin eine solche außerhalb ihres Verweisungsfeldes sei, könne nicht gefolgt werden. Die Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie sich im Rahmen ihrer Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau und ihrer Tätigkeit als Verkäuferin und Bürokraft angeeignet habe, befähigten sie zur Tätigkeit als Lernhilfe, deren Hauptaufgabe die Unterstützung der betreuten Kinder beim Verrichten der Hausaufgaben sei. Bei der Tätigkeit einer Fakturistin handle es sich ebenfalls um eine gelernte Tätigkeit. Der Umstand, daß eine Lernhilfe keine kaufmännischen Dienste, sondern höhere nicht kaufmännische Dienste leiste, sei für die Beurteilung der möglichen Verweisungstätigkeit ohne Bedeutung. Da der Beruf der Fakturistin eine ähnliche Ausbildung sowie gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verlange, wie sie die Klägerin aufweise und diese Tätigkeit ihrem medizinischen Leistungskalkül entspreche, müsse sie sich darauf verweisen lassen. Ein unzumutbarer sozialer Abstieg könne in der Verweisung einer Lernhilfe auf die Tätigkeit einer Fakturistin oder einer Kanzleihilfskraft nicht erblickt werden. Gewisse Einbußen an Entlohnung und an Sozialprestige müsse eine Versicherte im Rahmen der Verweisbarkeit hinnehmen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Stattgebung des Klagebegehrens. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Die Revision ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Da unter dem Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens nach § 503 Z 2 ZPO nur der rechtlichen Beurteilung zuzuordnende Feststellungsmängel (nämlich über das Anforderungsprofil einer Lernhilfe) geltend gemacht werden, liegt insgesamt nur der Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung vor. Dieser wird von der Klägerin dahin ausgeführt, daß sie den Beruf einer Lernhilfe, also eine höhere nicht kaufmännische Tätigkeit zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübt habe, weshalb diese Tätigkeit zur Bestimmung des Verweisungsfeldes heranzuziehen sei. Daher sei die von den Vorinstanzen in Erwägung gezogene Verweisung auf die Tätigkeit einer Fakturistin oder einer Büro- und Kanzleihilfskraft eine Verweisung außerhalb des Verweisungsfeldes, die überdies einen unzumutbaren sozialen Abstieg darstellen würde.

Diesen Ausführungen kann im Ergebnis nicht gefolgt werden.

War ein Arbeiter in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag, also überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig, dann gilt er nach § 255 Abs 1 ASVG nur dann als invalid, wenn seine Arbeitskraft in jedem dieser Berufe auf weniger als die Hälfte der eines entsprechenden gesunden Versicherten herabgesunken ist. Für die Berufsunfähigkeit eines Angestellten nach § 273 Abs 1 ASVG kommt es hingegen im allgemeinen nur auf das Herabsinken der Arbeitsfähigkeit im zuletzt ausgeübten Beruf an (ständige Rechtsprechung seit SSV-NF 1/68). Der Oberste Gerichtshof hat auch wiederholt ausgeführt, daß der zuletzt ausgeübte Angestelltenberuf nur dann für die Bestimmung des Verweisungsfeldes berücksichtigt werden kann, wenn er nicht nur vorübergehend ausgeübt wurde (SSV-NF 2/73; 4/17, 101; 6/53, 135 und 153 ua). Zur Sachgerechtheit dieser Auffassung wurde darauf verwiesen, daß es nicht gerechtfertigt wäre, einem Angestellten den Berufsschutz einer Berufsgruppe zuzubilligen, der er nur während einer nach den Umständen des Einzelfalles nicht nennenswerten Zeit angehört hat (SSV-NF 7/51). Der Senat hat weiters ausgesprochen, daß die Prüfung, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeits- fähigkeit vorliegen, nach den Verhältnissen am Stichtag vorzunehmen ist, die durch den dem Eintritt des Versicherungsfalles nachfolgenden Pensionsantrag ausgelöst wird (SSV-NF 3/27, 89; 6/153, 7/51). Während es nach § 255 ASVG auf die während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübten Berufstätigkeiten ankommt, ist in § 273 Abs 1 ASVG von den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag keine Rede. Als berufsunfähig gilt vielmehr der Versicherte, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Nach der zitierten Rechtsprechung ist bei Prüfung des Verweisungsfeldes von der zuletzt nicht bloß vorübergehend ausgeübten Tätigkeit des Angestellten auszugehen. Ob ausnahmsweise auf einen früher ausgeübten Beruf Bedacht genommen werden müsse, wurde in der Entscheidung SSV-NF 3/108 ausdrücklich dahingestellt gelassen und in der Entscheidung SSV-NF 7/51 ohne nähere Begründung verneint. Nach der Entscheidung SSV-NF 8/45 ist die Aufgabe eines qualifizierten Berufes aus gesundheitlichen Gründen nicht nur dann nicht mehr zu berücksichtigen, wenn der später ausgeübte Beruf zeitmäßig erheblich überwiegt, sondern jedenfalls bereits dann, wenn der zuletzt ausgeübte Beruf mehrere Jahre ausgeübt wurde. Selbst wenn ein Versicherter seinen früheren qualifizierteren Beruf infolge Krankheit aufgeben mußte, ist nach einer entsprechend langen Zeit der Ausübung einer anderen Beschäftigung (dort waren es mehr als sechs Jahre) davon auszugehen, daß sich der Versicherte mit der neuen Beschäftigung abgefunden hat und erkennbar auf seinen früheren Berufsweg nicht mehr zurückkehren will, auch wenn ihm dieser möglich wäre; er hat sich dann endgültig einer anderen Berufstätigkeit zugewendet. Dabei wurde darauf Bedacht genommen, daß die erlernte und verwirklichte Berufsfunktion wohl dann eine erhöhte Beachtung verdiene, wenn sie das angestrebte Ziel oder die Zwischenstufe einer Aufwärtsentwicklung sei und der Versicherte dorthin nicht nur für eine vorübergehende Zeit gelangt sei. Ein unfreiwilliger beruflicher Abstieg solle die Vorstellung, die man vom bisherigen Beruf des Versicherten hatte, nicht verdrängen. Dabei wurde auf die Rechtsprechung des deutschen BSG Bedacht genommen, das hier an einen gestreckten Versicherungsfall denkt, bei dem der körperliche oder geistige Zustand die Einsatzfähigkeit des Versicherten nur langsam bis zur Berufsunfähigkeit herunterdrückt (vgl BSGE 32, 242; weitere Nachweise in SSV-NF 8/45).

Geht man von den dargestellten Grundsätzen aus und zieht man in Betracht, daß die Klägerin die Lehre als Einzelhandelskauffrau absolviert, die Lehrabschlußprüfung abgelegt und seit 1970 überwiegend auch als kaufmännische Angestellte tätig war, dann ist die Annahme gerechtfertigt, daß die von ihr zuletzt etwa drei Jahre lang ohne zusätzliche Ausbildung ausgeübte Tätigkeit einer Lernhilfe für Kinder als bloß vorübergehend anzusehen ist und keine Lösung von dem früher überwiegend ausgeübten Beruf der kaufmännischen Angestellten bedeutete. Dies umsomehr, als es sich um eine Halbtagsbeschäftigung mit relativ geringer Entlohnung handelte. Als zuletzt ausgeübter Beruf der Klägerin ist daher jener der kaufmännischen Angestellten zu betrachten, weshalb eine Verweisung der Klägerin auf den Beruf der Fakturistin eine Verweisung innerhalb ihrer Berufsgruppe bedeutet und dieser Verweisung nicht entgegensteht, daß sie zuletzt nicht in einem kaufmännischen Beruf tätig war.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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