OGH 10ObS253/97x

OGH10ObS253/97x9.9.1997

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr sowie die fachkundigen Laienrichter Brigitte Augustin (Arbeitgeber) und Gerald Kopecky (Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Parteien 1. Bedri U*****, 2. mj Figen U*****, beide vertreten durch Dr.Georg Grießer und Dr.Roland Gerlach, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Hinterbliebenenleistungen, infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28.April 1997, GZ 10 Rs 68/97m-40, womit infolge Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 7.November 1996, GZ 25 Cgs 16/95s-36, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien einen mit 2.029,44 S bestimmten Beitrag zu den Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 338,24 S Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Gattin des Erstklägers und Mutter des Zweitklägers, die Versicherte Hayriye U***** war bei der Fa.M***** in L***** beschäftigt und war mit ihrer Familie in Wien wohnhaft, wobei sie für den Arbeitsweg von Wien nach L***** und zurück die Eisenbahn benützte. Am 4.7.1994 verließ sie um ca 14 Uhr 45 ihren Arbeitsplatz und begab sich in Begleitung von zwei Arbeitskolleginnen zur Bahnhaltestelle L*****, um nach Wien zurückzufahren. Diese Bahnhaltestelle ist nicht mit Bahnpersonal besetzt. Es befindet sich dort kein Lautsprecher und keine Ansage haltender oder durchfahrender Züge. Die Bahnanlage ist zweigleisig ausgeführt, wobei sich auf jeder Seite ein Bahnsteig befindet. Der Bahnsteig zum Einsteigen Richtung Wien befindet sich unmittelbar vor dem Haltestellengebäude, der Bahnsteig für die andere Richtung auf der gegenüberliegenden Seite. Unmittelbar an den Haltestellenbereich angrenzend befindet sich ein mit Schranken gesicherter Bahnübergang; bei Schließen der Schranken ertönt ein Glockensignal. Die Dienstgeberfirma der Versicherten lag, bezogen auf die Bahnanlage, auf derselben Seite wie der für die Fahrtrichtung Wien vorgesehen Bahnsteig. Die Versicherte betrat daher auf ihrem Arbeitsweg unmittelbar den für die Heimfahrt bestimmten Bahnsteig; das Überschreiten der Gleisanlagen war nicht erforderlich. Die Wartezeit bis zum nächsten planmäßig in der Haltestelle haltenden Zug betrug etwa 20 Minuten. Auf der Strecke verkehren allerdings auch Züge, die dort nicht anhalten, äußerlich aber denen, die dort halten, gleichen. Auf der gegenüberliegenden Seite (im Bereich des für die Gegenrichtung vorgesehenen Bahnsteiges) ist in einer Entfernung von 8 - 10 m von der Bahnsteigkante ein Behältnis angebracht. Die Versicherte überquerte nun, um die Wartezeit zu überbrücken, die Gleise, um sich auf der gegenüberliegenden Seite zu sonnen, wobei ihr der beschriebene Behälter als Sitzbank diente. Um etwa 15 Uhr 20 näherte sich ein mit einer Geschwindigkeit von ca 120 km/h Richtung Wien fahrender Zug, dessen Halt in L***** nicht vorgesehen war. Die Versicherte war offenbar der Meinung, daß es sich um den in der Haltestelle haltenden Zug handle, auf den sie wartete, erhob sich von ihren Sitzplatz und überquerte die Geleise, um zu dem für die Fahrtrichtung Wien vorgesehenen Bahnsteig zu gelangen; die Bahnschranken waren geschlossen, das akustische Signal war hörbar. Etwa 2 m vor Erreichen der Kante des Bahnsteiges Richtung Wien wurde sie vom Zug erfaßt und getötet.

Mit Bescheid vom 4.1.1995 lehnte die beklagte Partei die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehren die Kläger die Gewährung einer Witwer- bzw Waisenrente sowie einen Teilersatz der Begräbniskosten. Der Unfall habe sich auf dem Heimweg vom Arbeitsplatz ereignet und sei daher unter Unfallversicherungsschutz gestanden.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung der Klage. Die Versicherte sei nicht auf dem unmittelbaren Heimweg, sondern auf einem Abweg verunglückt, wobei sie überdies aus eigenwirtschaftlichen Gründen in völlig unvernünftiger Art eine unzumutbare Risikoerhöhung geschaffen habe. Der Versicherungsschutz sei daher ausgeschlossen.

Das Erstgericht wies im zweiten Rechtsgang das Klagebegehren ab. Es folgte der vom Berufungsgericht in dem im ersten Rechtsgang ergangenen Aufhebungsbeschluß überbundenen Rechtsansicht und führte aus, daß die Versicherte durch das auf dem Heimweg nicht erforderliche Überschreiten der Geleise einen Abweg unternommen habe, der eine vermeidbare Gefahrenerhöhung mit sich gebracht habe. Der Unfall, der sich auf diesem Abweg ereignet habe, sei daher nicht unter Unfallversicherungsschutz gestanden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kläger nicht Folge. Fest stehe, daß der kürzeste Weg vom Arbeitsplatz der Versicherten direkt zum Bahnsteig für die Züge Richtung Wien geführt habe. Das Überschreiten der Geleise zum Aufsuchen eines auf der gegenüberliegenden Seite gelegenen Platzes zum Sonnen stelle einen durch eigenwirtschaftliche Gründe motivierten Abweg dar, der eine vermeidbare Gefahrenerhöhung mit sich gebracht habe; daran ändere auch der Umstand nichts, daß die Versicherte dabei das Bahngelände nicht verlassen habe. Da sich der Unfall im Zug des Abweges (Rückkehr zum eigentlichen Arbeitsweg) ereignet habe, sei der Unfallversicherungsschutz zu verneinen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der klagenden Parteien aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Die Revision ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionswerber verweisen darauf, daß die Rechtsprechung sowohl des Obersten Gerichtshofes wie auch des Deutschen Bundessozialgerichtes bei Benützung einer öffentlichen Straße auf dem Arbeitweg den Versicherungsschutz auf den gesamten Bereich der Straße beziehe und danach auch für Überquerungen der Fahrbahn, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Weg zur Arbeit oder dem Heimweg stehen und ausschließlich eigenwirtschaftlich motiviert seien, der Unfallversicherungsschutz bejaht werde. Diese Grundsätze seien auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Der Bahnbereich sei als einheitliche öffentliche Verkehrsfläche zu qualifizieren; die Versicherte habe sich danach auch bei Aufsuchen des für die Gegenrichtung bestimmten Bahnsteiges im geschützten Bereich befunden. Im übrigen sei davon auszugehen, daß alle Tätigkeiten, die dazu dienten, Wartezeiten im Zug des Arbeitsweges zu überbrücken, dem Versicherungsschutz unterliegen. Daß die Versicherte eine in unmittelbarer räumlicher Nähe gelegene Sitzmöglichkeit aufgesucht habe, um sich während der Wartezeit nach einem anstrengenden Arbeitstag zu setzen, habe den Zusammenhang mit dem Arbeitsweg selbst unter Berücksichtigung des Umstandes nicht gelöst, daß sich diese Sitzmöglichkeit jenseits der Geleise befunden habe, zumal nicht feststehe, ob sich auf dem für die Fahrtrichtung Wien vorgesehenen Bahnsteig eine Möglichkeit zum Sitzen befunden habe.

Diesen Ausführungen kann nicht beigetreten werden. Es trifft zu, daß der Oberste Gerichtshof ausgesprochen hat, daß die wegen einer privaten Besorgung notwendige - räumliche - Unterbrechung des Weges erst beginnt und der Versicherungsschutz verloren geht, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat. Dafür spricht schon die Verkehrsauffassung, nach der der gesamte öffentliche Verkehrsraum als Teil des Weges angesehen wird, den jemand zurücklegt. Es muß dabei dem Versicherten überlassen werden, in welchem Bereich des öffentlichen Verkehrsraumes er sich bewegt. Überdies wird es manchmal nicht feststellbar und meist zumindest nicht verläßlich überprüfbar sein, in welcher Absicht der Versicherte gerade diejenige Teilfläche des öffentlichen Verkehrsraumes benützte, auf der sich der Unfall ereignete; dies spricht dafür, den gesamten öffentlichen Verkehrsraum für die Frage des Versicherungsschutzes als Einheit zu behandeln (SSV-NF 5/116). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSGE 20, 219 ff) sowie der dazu in Deutschland entwickelten Lehre (siehe dazu die Zitate in SSV-NF 5/116). In dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Fall ereignete sich der Unfall im Bereich einer öffentlichen Straße, die die dortige Klägerin überquerte, um auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Einkauf zu besorgen.

Die für die Zurücklegung des Arbeitsweges auf öffentlichen Straßen ausgesprochenen Grundsätze können aber auf Bahnanlagen nicht übertragen werden. Während im Bereich einer Straße regelmäßig beide Straßenseiten für Weg benützt werden können und der Versicherte auch bei Wechsel der Straßenseite in der Bewegung zum Hauptziel seines Weges bleibt, ist dies bei Benützung der Bahnanlagen nicht der Fall.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen, daß die Versicherte das Bahngelände von ihrem Arbeitsort kommend unmittelbar auf der Seite betreten hat, auf der sich der Bahnsteig für die Züge in Fahrtrichtung Wien befindet; da sie zu ihrer Wohnung in Wien unterwegs war, wäre sie, hätte sich der Unfall nicht ereignet, dort in den Zug eingestiegen. Nur dieser Teil des Bahngeländes war Teil ihres Arbeitsweges. Der gegenüberliegende Bahnsteig, der nur zum Einsteigen in die Gegenrichtung fahrende Züge dient, war von ihr im Zug ihres Heimweges nicht zu benützen. Dieser Teil des Bahngeländes konnte daher, anders als bei einer Straße nicht zur Zurücklegung des Arbeitsweges dienen. Dadurch daß die Versicherte den gegenüberliegenden Bahnsteig aufsuchte, um sich dort in die Sonne zu setzen, verließ sie den direkten Arbeitsweg aus eigenwirtschaftlichen Gründen, wobei sie dabei, wie die Vorinstanzen zutreffend ausführten, aus diesen eigenwirtschaftlichen Gründen eine wesentliche Gefahrenerhöhung schaffte, weil sie die Geleise unerlaubt überschritt, auf dem Rückweg noch dazu, obwohl die Schranken des an die Haltestelle anschließenden Bahnüberganges geschlossen waren, ein akustisches Warnsignal ertönte und sich ein Zug näherte, was schließlich zu dem tödlichen Unfall führte. Da sich der Unfall sohin nicht auf dem direkten Arbeitsweg ereignete, stand er nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

Den Ausführungen der Revisionswerber, daß auch die Wartezeit auf ein öffentliches Verkehrsmittel auf einem Arbeitsweg vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfaßt ist, ist grundsätzlich zuzustimmen. Dies gilt aber nur dann, wenn sich der Versicherte in dem Wartebereich aufhält (Benützung eines Wartesaales, einer Bank auf dem für die Fahrt vorgesehenen Bahnsteig. Auf- und Abgehen auf diesem Bahnsteig etc). Verläßt er aber den Teil des Bahnhofsgeländes, der der Zurücklegung seines Arbeitsweges dient und begibt er sich in einen Bereich, der mit diesem Arbeitsweg nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden kann, dann geht damit der Versicherungsschutz verloren. Daran ändert es auch nichts, wenn die Wartezeit in einem Abseits des Arbeitsweges befindlichen Teil des Bahnhofsgeländes bequemer zugebracht werden kann.

Die Vorinstanzen sind daher zu Recht zum Ergebnis gelangt, daß die Voraussetzungen für die begehrten Leistungen nicht erfüllt sind.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da über die rechtliche schwierige Frage des räumlichen Schutzbereiches der gesetzlichen Unfallversicherung außerhalb von öffentlichen Straßen bisher keine Judikatur vorlag, entspricht der Zuspruch der halben Kosten des Revisionsverfahrens der Billigkeit.

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