OGH 15Os63/97

OGH15Os63/9715.5.1997

Der Oberste Gerichtshof hat am 15.Mai 1997 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Strieder und Dr.Rouschal als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Marte als Schriftführerin, in der beim Landesgericht Wr.Neustadt zum AZ 37 E Vr 57/97, Hv 137/97 anhängigen Strafsache gegen Joseph Alfons L***** wegen des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB und einer anderen strafbaren Handlung über die Grundrechtsbeschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 17.März 1997, AZ 23 Bs 8,81/97 (= GZ 37 E Vr 57/97-5), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Joseph Alfons L***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Während gegen den belgischen Staatsangehörigen Joseph Alfons L***** seit 20.Jänner 1997 zum AZ Vr 57/97 des Landesgerichtes Wr.Neustadt Vorerhebungen geführt wurden, weil er verdächtig war, am 31.Oktober 1996 in Breitenfurt bei Wien anläßlich einer Taschenpfändung durch einen Gerichtsvollzieher das Vergehen des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB begangen zu haben, wurde gegen ihn am 13.Februar 1997 über Antrag der Staatsanwaltschaft zum AZ Vr 190/97 des genannten Gerichtshofes Voruntersuchung wegen Verdachtes der (in Tateinheit verübten) Vergehen des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB und der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4 StGB (begangen am 12.Februar 1997 gleichfalls in Breitenfurt im Zuge einer Fahrnisexekution) eingeleitet. In der diesem Verfahren zugrundeliegenden Gendarmerieanzeige wird auch auf die strafbare Handlung vom 31.Oktober 1996 Bezug genommen.

Nachdem die Untersuchungsrichterin dem Beschuldigten den Beschluß auf Einleitung der Voruntersuchung kundgemacht hatte, vernahm sie ihn zur Sache - nicht aber zu den vom Staatsanwalt beantragten Haftgründen - und verkündete ihm schließlich den Beschluß auf "Verhängung der U-Haft wegen § 180/2 Z.1/3 lit b StPO" mit Wirksamkeit bis längstens 26. Februar 1997. Zu beiden Beschlüssen gab der Beschuldigte "nach Rechtsmittelbelehrung" keine Erklärung ab.

Am 25.Februar 1997 beantragte der öffentliche Ankläger die Einbeziehung des Aktes Vr 190/97 gemäß § 56 StPO in das Verfahren Vr 57/97 sowie die Ausdehnung der Voruntersuchung auf das den Gegenstand des Verfahrens Vr 57/97 bildende Faktum. Während die Einbeziehung sogleich antragsgemäß durchgeführt wurde, behielt sich die Untersuchungsrichterin die Ausdehnung der Voruntersuchung zunächst vor und faßte den Ausdehnungsbeschluß erst am 26.März 1997, als sie die Voruntersuchung gemäß § 111 StPO schloß. In der Haftverhandlung vom 26.Februar 1997 verlängerte sie die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr (§ 180 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit b StPO), wogegen der Beschuldigte sogleich Beschwerde erhob.

Am 28.Februar 1997 gingen beim Erstgericht die tags zuvor vom Wahlverteidiger zur Post gegebenen, in zwei getrennten Rechtsmittelschriften (rechtzeitig) ausgeführten Beschwerden des Beschuldigten ein, mit denen er sowohl die Verhängung als auch die Fortsetzung der Untersuchungshaft bekämpfte. Noch am selben Tag (28.Februar 1997) wurde der Beschuldigte nach Einlangen wesentlicher Erhebungsergebnisse mit Zustimmung des Staatsanwaltes gegen Anwendung gelinderer Mittel gemäß § 180 Abs 5 Z 1, 3 und 5 StPO enthaftet.

Mit Beschluß vom 17.März 1997, AZ 23 Bs 80,81/97 (= ON 5 des Aktes Vr 57/97), stellte das Oberlandesgericht Wien einerseits die Gesetzmäßigkeit des Beschlusses auf Verhängung der Untersuchungshaft fest und wies andererseits die Beschwerde gegen den Beschluß auf Fortsetzung der Untersuchungshaft (mangels "aufrechter" Beschwer) zurück.

Rechtliche Beurteilung

In seiner (fristgerecht) erhobenen Grundrechtsbeschwerde läßt der Beschwerdeführer, gegen den am 26.März 1997 Strafantrag wegen der Vergehen nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB (Tatzeiten: 31. Oktober 1996 und 12.Februar 1997) sowie §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 Z 4 StGB erhoben wurde (ON 8 des Aktes Vr 57/97), zwar den dringenden Tatverdacht unbekämpft, erachtet sich aber sowohl durch die beiden zitierten Haftbeschlüsse des Erstgerichtes als auch durch den Beschluß des Gerichtshofes zweiter Instanz in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit dadurch verletzt, daß er vor Verhängung der Untersuchungshaft von der Untersuchungsrichterin nicht (auch) zu den Haftgründen vernommen und solcherart um sein Recht gebracht worden sei, dagegensprechende Umstände aufzuzeigen; ferner daß die Haft (von vorneherein) zur Bedeutung der Sache oder der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis gestanden sei, ihr Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel hätte erreicht werden können, weil (nach seiner Meinung) selbst im Falle eines Schuldspruchs unter den gegebenen Umständen kein "tatsächlicher Freiheitsentzug" zu erwarten wäre, und schließlich die Haftgründe unrichtig beurteilt worden seien (ON 11 des Aktes Vr 57/97).

Die Beschwerde ist zwar zulässig, aber unbegründet.

An sich zutreffend moniert der Beschwerdeführer die Unterlassung seiner gemäß § 180 Abs 1 StPO vor Verhängung der Untersuchungshaft vorgeschriebenen Vernehmung durch die Untersuchungsrichterin (auch) zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft (konkret zu den ins Auge gefaßten Haftgründen). Entgegen einer verfehlten Rechtsansicht des Oberlandesgerichtes konnte dieses Versäumnis weder durch ein "ausführliches Protokoll über die Beschuldigtenvernehmung" wettgemacht werden, noch durch die Tatsache, "daß dem Beschuldigten während seiner insgesamt 40 Minuten dauernden Vernehmung ausreichend Zeit für bezughabende Äußerungen geboten worden war".

Indes bewirkte dieser reklamierte, der Untersuchungsrichterin bei Verhängung der Untersuchungshaft tatsächlich unterlaufene Gesetzesverstoß für sich allein - mangels funktioneller Grundrechtsrelevanz - noch keine Grundrechtsverletzung (vgl JBl 1995, 183 mit Kritik von Bertel; Mayrhofer/E.Steininger GRBG 1992 § 1 Rz 25 f, 51; § 2 Rz 101 f jeweils mwN), weil die im angefochtenen Beschluß des Gerichtshofs zweiter Instanz aktenkonform (mit entsprechenden Seitenangaben) hiezu angeführten bestimmten Tatsachen die aktuellen Haftgründe zu tragen vermögen.

Die Gefahr, der Beschuldigte (der sich nach seinen eigenen Angaben nur während der Karnevalsferien kurzfristig in Österreich aufhielt) werde sich auf freiem Fuß - ungeachtet eines inländischen Realbesitzes in Breitenfurt, den er jedoch zu verkaufen trachtete - der Strafverfolgung durch Flucht in seinen belgischen Heimatstaat entziehen (§ 180 Abs 2 Z 1 StPO), gründete das Beschwerdegericht nämlich mit Recht auf dessen Wohnsitz und auf dessen Erwerbstätigkeit (als Lehrer) in Belgien sowie auf die verweigerte Angabe seiner (mehreren) ausländischen Wohnsitze.

Soweit der Beschwerdeführer vermeint, es sei ihm angesichts der unterbliebenen Vernehmung zu den Haftgründen verwehrt gewesen, auf ein - nach seiner Meinung gegen eine Fluchtgefahr sprechendes - inländisches Liegenschaftsvermögen hinzuweisen, ist ihm entgegenzuhalten, daß er in der Vernehmung vom 13.Februar 1997 ohnedies einleitend auf "mein Haus in Breitenfurt" Bezug nahm und die Wertangabe S 8 in ON 3 erkennbar darauf abgestellt war.

Tatbegehungsgefahr (§ 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO) hinwieder erschloß es ebenso zutreffend und aktengetreu aus dem (unbestrittenen) dringenden Verdacht, zweimal gegen denselben Vollstreckungsbeamten Widerstand geleistet zu haben; des weiteren aus der dadurch manifestierten aggressiven Haltung des Beschuldigten gegen behördliche Zwangsmaßnahmen im Zusammenhang mit "scheinbar" (ersichtlich gemeint: erkennbarer) aggressiver Grundhaltung sowie aus der erst am 26. Februar 1997 erfolgten Bekanntgabe des Losungswortes eines gepfändeten Sparbuches und des - trotz bestehenden Briefverkehrs - bis dahin mangelnden Willens, die betriebenen Forderungen zu befriedigen und dadurch weitere exekutive Schritte hintanzuhalten.

Bei der gegebenen Sachlage verneinte das Oberlandesgericht aber auch zu Recht die Substituierbarkeit der Haft durch Anwendung gelinderer Mittel.

Ebenso richtig ist dessen Argumentation, die Verhängung der Untersuchungshaft sei weder zur Bedeutung der Sache noch zu der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis gestanden. Denn bei gegebenem dringenden Tatverdacht, mehrere Vergehen verübt zu haben, die mit jeweils bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, ist - der Beschwerdeentscheidung folgend - nach Lage des besonderen Falles keineswegs von vorneherein mit objektiver Wahrscheinlichkeit auszuschließen, daß es aus spezial- und/oder generalpräventiven Gründen nicht der Verhängung einer zumindest teilweise bedingt nachgesehenen Freiheits- strafe bedarf.

Somit wurde Joseph Alfons L***** durch die Verhängung der Untersuchungshaft im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Was nun jenen Teil der Grundrechtsbeschwerde anlangt (2. der Beschwerdeschrift), mit dem wider den - die Beschwerde gegen die Fortsetzung der Untersuchungshaft formell zurückweisenden - Beschluß des Oberlandesgerichtes remonstriert wird, hat - einem Beschwerdeeinwand zuwider - der Gerichtshof zweiter Instanz der Sache nach auch darüber meritorisch entschieden, indem er ausführte, an der Sachlage habe sich bis zur Haftverhandlung am 26.Februar 1997 nichts Entscheidendes geändert; erst danach hätten sich Umstände ergeben (psychiatrisches Gutachten, das die fehlende Gefährlichkeit des Beschuldigten bescheinigt; Realisierung des Sparbuches und Einstellung des Exekutionsverfahrens), denen die Untersuchungsrichterin am 28.Februar 1997 mit der Enthaftung des Beschuldigten unverzüglich Rechnung getragen habe, weshalb - nach Ansicht des Oberlandesgerichtes - für eine Feststellung im Sinne des § 114 Abs 4 (§ 113 Abs 2) StPO kein Raum bestehe. Solcherart brachte das Beschwerdegericht indes - obgleich es die Beschwerde insoweit formell mangels weiter bestehender Beschwer zurückgewiesen hat - unmißverständlich zum Ausdruck, daß auch der erstgerichtliche Beschluß über die Fortsetzung der Untersuchungshaft auf der Basis unverändert fortbestehender Prämissen gesetzmäßig ergangen war. Gegenstand des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens ist daher auch insoweit ausschließlich der Beschluß des Gerichtshofes zweiter Instanz und nicht jener des Erstgerichtes. Die im wesentlichen schon im ersten Teil der Grundrechtsbeschwerde aufgeworfene und hier erneut ins Treffen geführte Haftproblematik ist - wie eingangs dargelegt - nicht zielführend.

Dem vom Beschwerdeführer darüber hinaus vertretenen Standpunkt, "wiederholte oder fortgesetzte Handlungen" könnten in Verbindung mit § 180 Abs 1 StPO nur dann als bestimmte Tatsachen herangezogen werden, wenn bereits eine Vernehmung des Beschuldigten dazu erfolgt sei, ist zu erwidern:

Mit der beschlußmäßigen Einbeziehung gemäß § 56 StPO des zum AZ 190/97 - zunächst getrennt als Voruntersuchung - geführten Verfahrens in das zeitlich ältere Verfahren, AZ Vr 57/97, in dem bloß Vorerhebungen durchzuführen waren, wurden beide Verfahren prozessual zu einem einzigen Strafverfahren vereinigt, dessen Gegenstand fortan alle dem Beschuldigten zur Last gelegten strafbaren Handlungen bildeten. Unbeschadet der Tatsache, daß die Untersuchungsrichterin die vom öffentlichen Ankläger am 25.Februar 1997 beantragte Ausdehnung der Voruntersuchung auch auf das den Gegenstand der Vorerhebung bildende Faktum nicht sogleich, sondern erst am 26.März 1997 gleichzeitig mit der Schließung der Voruntersuchung beschlossen und den Beschuldigten dazu nicht vernommen hat, ist der Gerichtshof zweiter Instanz - im Sinne einer objektiven und sachgerechten Entscheidung - gemäß § 114 Abs 2 zweiter Satz StPO grundsätzlich verpflichtet (verbo: "hat"), auch auf solche (positiv oder negativ ausschlagende) Umstände Rücksicht zu nehmen, die nach dem angefochtenen Beschluß eingetreten und bekannt geworden sind.

Diesem gesetzlich statuierten Gebot hat das Beschwerdegericht vorliegend bei Annahme des Haftgrundes nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO zutreffend Rechnung getragen. Daher kann mangels funktioneller Grundrechtsrelevanz allein aus der (vorerst) unterbliebenen beschlußmäßigen Ausdehnung der Voruntersuchung auf das Vorerhebungsfaktum und aus der fehlenden Vernehmung des Beschuldigten auch hiezu keine Grundrechtsverletzung abgeleitet werden.

Da sohin Joseph Alfons L***** durch den angefochtenen Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien in keiner Richtung hin im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden ist (§ 2 Abs 1 iVm § 7 GRBG), war die Beschwerde in Übereinstimmung mit dem Antrag der Generalprokuratur als unbegründet abzuweisen.

Demzufolge hatte ein Ausspruch über die Beschwerdekosten zu entfallen (§ 8 GRBG).

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