OGH 4Ob133/97f

OGH4Ob133/97f13.5.1997

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Huber als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kodek und Dr.Niederreiter sowie durch die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofes Dr.Griß und Dr.Schenk als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj.Christian W*****, der mj.Andrea W*****, des mj.Markus W*****, und der mj.Marina W*****, infolge Revisionsrekurses der Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn, Jugendabteilung, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Korneuburg als Rekursgericht vom 20.März 1997, GZ 20 R 51/97h-22, mit dem der Beschluß des Bezirksgerichtes Hollabrunn vom 14.Februar 1997, GZ P 80/96a-15, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

Text

Begründung

Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 12.3.1996 wurde die Unterbringung der vier Minderjährigen in der heilpädagogischen Station des Landes Niederösterreich in Hinterbrühl pflegschaftsbehördlich genehmigt. Gleichzeitig wurde der Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn die Obsorge für den Bereich Pflege und Erziehung übertragen und ausgesprochen, daß Besuche der Eltern bzw. Beurlaubungen der Kinder zu den Eltern nur mit Zustimmung der Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn erfolgen dürfen. Es bestehe der dringende Verdacht, daß die mj.Andrea W***** und die mj.Marina W***** teilweise in Gegenwart der anderen Kinder und der Mutter vom Vater sexuell mißbraucht worden seien.

Mit Urteil des Landesgerichtes Korneuburg vom 19.11.1996, 12 Vr 192/96, Hv 8/96, wurde der Vater nach § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Es hätten sich zwar Hinweise für einen sexuellen Mißbrauch ergeben, doch seien diese letztlich nicht ausreichend gewesen, um mit der erforderlichen Sicherheit den Tatbestand des § 207 Abs 1 StGB als erfüllt ansehen zu können.

Am 27.11.1996 verwiesen die Eltern auf den rechtskräftigen Freispruch und beantragten, ihnen wieder die Obsorge zu übertragen und die Unterbringung der Kinder in der heilpädagogischen Station aufzuheben.

Das Erstgericht forderte die Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn am 3.12.1996 auf, rasch zum Antrag Stellung zu nehmen und anzugeben, ob Bedenken dagegen bestehen, daß die Kinder die Weihnachtsferien bei den Eltern verbringen. Am 14.1.1997 sprach sich die Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn gegen den Antrag aus. Eine Rückführung der Kinder in den Haushalt der Kindeseltern sei aufgrund der Auffälligkeiten, die sich bereits nach den ersten Beurlaubungen von der heilpädagogischen Station deutlich gezeigt haben, nicht zu verantworten und entspreche nicht dem Kindeswohl. Im angeschlossenen Bericht der heilpädagogischen Station vom 8.1.1997 wurde darauf hingewiesen, daß sich das Verhalten der Kinder nach den zu Hause verbrachten Wochenenden auffallend verändert hatte. Die Mädchen und vor allem der mj.Markus hätten "sexistische" Redensarten verwendet; es seien verstärkt Sexspiele aufgetreten. Der mj.Markus habe ständig Geschlechtsverkehr imitiert, und zwar auch mit sämtlichen Gegenständen, die ihm im Wege standen. Bei ihm habe sich alles um "sexy" und "Sex machen" gedreht.

In der Zusammenfassung und Empfehlung wurde ausgeführt:

"Aufgrund unserer Beobachtungen wurde deutlich, daß die familiäre Situation geprägt ist durch paranoide Ängste, Aggressionen werden nach außen projiziert, die Stimmung innerhalb der Familie ist offensichtlich sehr stark sexualisiert. Auch zwischen den Geschwistern sind starke inzestuöse sexuelle Beziehungen deutlich. Dies ist auch im Hinblick darauf wichtig, ob die Kinder gemeinsam in einer Wohngemeinschaft untergebracht werden sollen oder ob eine traditionelle Heimsituation nicht günstiger für die Kinder wäre, da sie mit anderen Kindern Kontakt haben und die räumliche und psychische Nähe entschärft wäre.

Insgesamt kann man sagen, daß die Kinder sich intellektuell und zum Teil auch emotional deutlich weiter entwickelt haben, wobei die starken Schuldgefühle nur begrenzt in den Therapien ansprechbar waren. Vor allem Andrea fühlt sich für die Situation in der Familie verantwortlich, dies wird auch von den Geschwistern immer wieder verstärkt.

Die Familie schwankt weiters zwischen dem sehr starken Versuch sich anzupassen und den deutlich aggressiven Tendenzen. Unserer Ansicht nach ist die familiäre Situation nur bedingt förderlich für die Weiterentwicklung der Kinder, die doch insgesamt deutlich neurotische Strukturen aufweisen. Aus unserer Sicht wäre eine familienergänzende Maßnahme mit regelmäßigem Kontakt nach Hause zu empfehlen."

Bereits am 18.12.1996 hatte das Erstgericht den Eltern das Recht eingeräumt, die Kinder vom 23.12.1996 bis 6.1.1997 bei sich zu haben.

Am 7.2.1997 erschienen die Kindeseltern mit ihren sechs Kindern bei Gericht. Christian, Andrea, Markus und Marina gaben übereinstimmend an, nicht mehr länger in Hinterbrühl bleiben zu wollen. Sie hätten Heimweh und wollten bei den Eltern sein und bei ihren zwei Brüdern. Sie würden auch in Hinterbrühl nicht sehr gut betreut. Bei den Eltern gehe es ihnen besser. Die Eltern hätten nie etwas "Schlechtes" getan.

Mit Beschluß vom 14.2.1997 übertrug das Erstgericht die Obsorge über die mj.Kinder Christian, Andrea, Markus und Marina für den Bereich Pflege und Erziehung wieder den Eltern.

Die Befürchtungen, der Vater habe Marina zur Unzucht mißbraucht, hätten sich, wie der Freispruch zeige, als unrichtig herausgestellt. Es sei nicht bewiesen worden, daß die Eltern ihre Obsorgerechte mißbraucht hätten. Die Kinder hingen an ihren Eltern und wollten zu ihnen zurück. Sollten die Eltern Hilfe bei der Erziehung ihrer Kinder brauchen, so sehe das niederösterreichische Jugendwohlfahrtsgesetz Möglichkeiten vor, die keineswegs so einschneidend seien wie eine Maßnahme nach § 176 ABGB.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichtes. Es sprach aus, daß der Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Der Bericht der heilpädagogischen Station vom 8.2.1997 sei durch die Erklärung von Dr.Martina K***** - die den Bericht mitunterfertigt hatte - überholt. Diese habe dem Erstrichter erklärt, schon längere Zeit gewollt zu haben, daß die Kinder bei den Eltern bleiben. Aus dem Bericht ergebe sich aber ohnedies nicht, daß die heilpädagogische Station die weitere Unterbringung der Minderjährigen empfohlen habe. Die Befürchtungen, daß das Kindeswohl bei einem Verbleib der Kinder bei den Eltern gefährdet wäre, hätten sich offensichtlich nicht objektivieren lassen, weil keine Berichte über eine allfällige Gefährdung des Kindeswohles nach den längeren, einige Wochen dauernden Aufenthalten der Kinder bei ihren Eltern (Weihnachtsferien und Semesterferien) vorlägen. Die Möglichkeiten, die Eltern bei der Erziehung zu unterstützen, reichten aus, um das Kindeswohl gewährleisten zu können.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung gerichtete außerordentliche Revisionsrekurs der Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn ist zulässig und berechtigt.

Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes, so hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen (§ 176 ABGB). Unter dem Begriff der Gefährdung des Kindeswohls ist nicht geradezu ein Mißbrauch der elterlichen Befugnisse zu verstehen. Es genügt, daß die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllt oder (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind oder die Eltern durch

ihr Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (stRsp SZ 53/142 =

EvBl 1981/82 = ÖA 1982, 36; SZ 65/84 = JBl 1992, 780; RIS-Justiz

RS0048633). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Gefährdung des Kindeswohls ist der Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung, so daß alle während des Verfahrens eintretenden Änderungen zu berücksichtigen sind (1 Ob 1078/96m; RIS-Justiz RS0106313).

Die Bezirkshauptmannschaft Hollabrunn hat am 24.3.1997 dem Rekursgericht den Bericht einer Erzieherin der heilpädagogischen Station und die Stellungnahme der zuständigen Psychologin Dr. Martina K***** vorgelegt. Die Erzieherin gibt ein Gespräch mit dem mj.Markus wieder, in dem dieser gesagt hatte, er wisse ohnehin, warum er da sei. Auf die Frage der Erzieherin, warum er denn da sei, habe er gesagt: "Weil der Papa mit der Andrea 'gefickt' hat und das tut er immer, wenn wir nach Hause kommen." In der angeschlossenen Stellungnahme weist die Psychologin darauf hin, daß den Erzählungen des Kindes viel Bedeutung beigemessen werde, weil Markus in einer sehr entspannten Situation von sich aus davon berichtet habe. Marina habe einer Erzieherin erzählt, daß die Erzählungen des Markus stimmen.

Diese Beobachtungen bestätigen die im Bericht der heilpädagogischen Station vom 8.1.1997 wiedergegebenen Wahrnehmungen über das Verhalten der Kinder nach den Aufenthalten bei den Eltern. Im Bericht der heilpädagogischen Station vom 8.1.1997 wird auch keineswegs empfohlen, die Obsorge wieder den Eltern zu übertragen, sondern es werden Überlegungen darüber angestellt, ob die Kinder in einer Wohngemeinschaft oder in einem Heim untergebracht werden sollen. Damit in auffallendem Widerspruch steht aber die vom Erstgericht in einem Aktenvermerk festgehaltene Erklärung der Psychologin Dr.Martina K***** vom 20.2.1997, schon längere Zeit gewollt zu haben, daß die Kinder bei den Eltern bleiben sollen. Dr.Martina K***** hat auch die oben wiedergegebene Stellungnahme vom 24.3.1997 unterzeichnet.

Mag der Sachverhalt nach der derzeitigen Aktenlage auch widersprüchlich erscheinen, so bestehen doch massive Anzeichen dafür, daß das Wohl der Kinder gefährdet wäre, wenn die Obsorge wieder den Eltern übertragen würde. Schon nach dem Bericht der heilpädagogischen Station vom 8.1.1997 waren Anzeichen für eine Gefährdung vorhanden, die die Vorinstanzen entgegen dem Akteninhalt verneint haben. Daß der Vater nach § 259 Z 3 StPO freigesprochen wurde, kann den Verdacht, daß er das Wohl der Kinder durch sein derzeitiges Verhalten gefährdet, in keiner Weise entkräften.

Das Erstgericht wird sich mit den Widersprüchen zwischen den telefonischen und schriftlichen Äußerungen der Psychologin Dr.Martina K***** auseinanderzusetzen und durch geeignete Erhebungen (allenfalls auch Einholung von Sachverständigengutachten) festzustellen haben, ob die Bedenken gegen die Übertragung der Obsorge auf die Eltern berechtigt sind.

Dem Revisionsrekurs war Folge zu geben.

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