Spruch:
Durch den oben genannten Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz wurde Wilhelm K***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Dieser Beschluß wird aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 8.000 S zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer aufgetragen.
Text
Gründe:
Wilhelm K***** wurde mit Urteil des Landesgerichtes Graz als Schöffengericht vom 11.Dezember 1996, GZ 11 Vr 2.472/96-30, der Verbrechen der Schändung nach § 205 Abs 1 StGB und der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB sowie des Vergehens des Mißbrauches eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer zwanzigmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Darnach hat er seine am 24.November 1980 geborene Stieftochter Kerstin K***** auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht mißbraucht, indem er in den Jahren 1986 bis 1990 die damals Unmündige mehrmals am ganzen Körper streichelte und sie veranlaßte, seinen mit Honig und Marmelade bestrichenen Penis zu lecken, sie ferner in den Jahren 1991 und 1992 mehrmals zwischen den Beinen im Scheidenbereich streichelte, einen Finger in ihre Scheide einführte und ihre Hand zu seinem Penis führte, sie einmal in der Badewanne am ganzen Körper streichelte und eine leere Zigarrenhülle in ihre Scheide einführte, sie einmal nach einem gemeinsamen Bad mit einem Vibrator im Scheidenbereich massierte sowie im August 1996 der zur Tatzeit Minderjährigen einen Vibrator in die Scheide einführte und schließlich im Jahre 1995 die infolge Alkoholisierung Widerstandsunfähige zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchte.
Über den Beschuldigten war mit Beschluß vom 14.September 1996 die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 1 und Abs 2 Z 2 und Z 3 lit b StPO verhängt worden (ON 7). Mit Beschluß vom 26.September 1996 (ON 11) wurde er gegen Anordnung gelinderer Mittel, nämlich gegen die Weisung, bei seinen Eltern zu wohnen, die Wohnung seiner geschiedenen Gattin Martina K***** mit Ausnahme eines einmaligen Besuches in Begleitung seines Rechtsanwaltes zur Abholung seiner persönlichen Gegenstände sowie den Umgang mit ihr und Kerstin K***** zu meiden, enthaftet, jedoch am 14.Oktober 1996 infolge einer Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichtes Graz (vom 7.Oktober 1996: ON 17) erneut aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO in Untersuchungshaft genommen.
Mit Beschluß vom 13.Februar 1997 (ON 35) wurde ein Enthaftungsantrag des (nunmehr) Angeklagten abgewiesen und seiner dagegen erhobenen Beschwerde mit Beschluß des Oberlandesgerichtes vom 27.Februar 1997 nicht Folge gegeben.
Rechtliche Beurteilung
Durch diese Entscheidung des Oberlandesgerichtes erachtet sich Wilhelm K***** in seiner (fristgerecht eingebrachten) Grundrechtsbeschwerde im Grundrecht auf persönliche Freiheit deshalb verletzt, weil das Fortbestehen des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr zu Unrecht angenommen, jedenfalls aber dessen Substituierbarkeit durch gelindere Mittel zu Unrecht verneint worden sei.
Die Beschwerde ist im Recht.
Während die bei Vorliegen von Flucht- und Verdunkelungsgefahr zu verhängende Untersuchungshaft der Sicherung des Strafverfahrens zur Durchsetzung des Anspruchs der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung der Täter dient, ist die aus dem Grunde der Tatbegehungsgefahr mögliche Untersuchungshaft ihrem Wesen nach eine vorbeugende Maßnahme zum Schutze der Allgemeinheit vor weiteren (erheblichen) Straftaten (besonders) gefährlicher Straftäter. Diesem kriminalpolitischen Bedürfnis trug der Gesetzgeber trotz Bedenken, die gegen diesen Haftgrund vorgebracht worden waren, Rechnung und beließ ihn, machte seine Annahme jedoch von strengeren Voraussetzungen abhängig.
Die Haft wegen Tatbegehungsgefahr ist darnach nur zulässig, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, daß der Beschuldigte ohne Haftverhängung ungeachtet des Eindrucks des gegen ihn geführten Strafverfahrens eine strafbare Handlung (von je nach Anlaßtat unterschiedlicher Intensität) begehen werde, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist wie die ihm angelastete Tat. Die Annahme einer solchen Gefahr muß sich daher auf bestimmte Tatsachen stützen, die die Gefahr einer Wiederholung begründen. Es genügt also nicht, daß die Möglichkeit eines Rückfalls nicht ausgeschlossen ist, diese Möglichkeit muß vielmehr durch bestimmte Tatsachen in greifbare Nähe gerückt sein (vgl 39 BlgNR XII GP). Darüberhinaus ist die Gefährlichkeit des Beschuldigten für Leib und Leben oder seine Beteiligung an einer kriminellen Organisation zu berücksichtigen, aber auch, ob die Tatbegehungsgefahr durch eine Änderung der Verhältnisse, unter denen die Anlaßtat(en) begangen wurde(n), gemindert ist (§ 180 Abs 3 StPO).
Kann der Haftzweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden, darf schließlich die Untersuchungshaft nicht verhängt oder aufrechterhalten werden (§ 180 Abs 1 aE StPO).
In der angefochtenen Entscheidung wurde die Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit b StPO (Prognosetat mit nicht bloß leichten Folgen bei Mehrheit von Anlaßtaten) mit der Begründung bejaht, daß der Beschuldigte seine minderjährige Stieftochter "durch rund zehn Jahre in einer Vielzahl von Einzelangriffen", die bis zur Schändung reichten, nachhaltig sexuell mißbrauchte, während er sich gegenüber seiner Gattin weitgehend enthaltsam zeigte, woraus auf eine auffallende Fixierung seines Sexuallebens auf seine Stieftochter zu schließen sei. Die Gefahr einer neuerlichen Tatbegehung könne auch durch die inzwischen erfolgte Aufhebung der Wohngemeinschaft selbst unter Beachtung flankierender Maßnahmen, (wie sie anläßlich der Enthaftung durch den Untersuchungsrichter verfügt worden sind), angesichts der unsicheren Persönlichkeitsstruktur des Opfers und der darin gelegenen Besorgnis, es werde neuerlich den zu befürchtenden Annäherungen des Angeklagten nicht entsprechend entgegentreten können, nicht ausgeschaltet werden.
Damit werden indes keine bestimmten Tatsachen angeführt, auf die die Annahme einer Tatbegehungsgefahr mit Fug gestützt werden könnte. Zwar können für die Erstellung einer Verhaltensprognose auch sogenannte innere Tatsachen, also Charaktereigenschaften und Wesenszüge des Beschuldigten herangezogen werden, doch dürfen sich die darüber angeführten Überlegungen nicht in bloßen Vermutungen ergehen.
Nach der Aktenlage kam es zu den vom Angeklagten zu verantwortenden, ohne jede Gewaltanwendung verübten Unzuchtshandlungen ausschließlich gegenüber seiner Stieftochter unter ersichtlicher Ausnützung des in der familiären Lebensgemeinschaft wurzelnden persönlichen Nahe- und Gelegenheitsverhältnisses. Daß sich der im übrigen unbescholtene Angeklagte auch an anderen (minderjährigen) Personen vergangen hätte, ist im Verfahren nicht hervorgekommen. Für eine solche Annahme bietet auch die Aussage der Zeugin S***** entgegen der vom Oberlandesgericht vertretenen Auffassung keine Handhabe. Ein psychiatrisches Gutachten, auf das eine negative Prognose allenfalls gestützt werden könnte, liegt nicht vor.
Besondere Beachtung kommt den gegenüber den Tatzeiten wesentlich geänderten Verhältnissen zu, ist doch mit der Aufhebung der Wohn- und Lebensgemeinschaft das für die Tatbegehung mitursächliche Gelegenheitsverhältnis weggefallen.
Dafür, daß der Angeklagte dessenungeachtet und trotz des gegen ihn geführten Strafverfahrens, das bereits zu seiner Verurteilung in erster Instanz geführt hat, und trotz der abschreckenden Wirkung der Anhaltung in Untersuchungshaft durch mehr als viereinhalb Monate neuerlich Unzuchtsdelikte der ihm angelasteten Art begehen werde, fehlen hinreichende Anhaltspunkte, geschweige denn kann von bestimmten Tatsachen die Rede sein, aus denen die konkrete Gefahr einer abermaligen Tatbegehung abgeleitet werden könnte.
Weil sonach am 27.Februar 1997 bei Wilhelm K***** kein Haftgrund mehr vorlag, hätte das Oberlandesgericht dessen Enthaftung verfügen müssen. Der in Beschwerde gezogene Beschluß hat demnach Wilhelm K***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt (§ 2 Abs 1 GRBG).
Da der Beschwerde stattgegeben wurde, sind die Gerichte verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Obersten Gerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen (§ 7 Abs 2 GRBG). Allfällige noch formal aufrechte entgegenstehende Beschlüsse wären unbeachtlich.
Die Kostenentscheidung gründet sich dem Grunde nach auf § 8 GRBG, der Höhe nach auf die Verordnung des Bundesministers für Justiz, BGBl 35/93.
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