Spruch:
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.
Text
Begründung
Die Ehe der Streitteile, die türkische Staatsbürger sind, ihren letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt jedoch in Österreich hatten, wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes Kirchberg am Wagram vom 25.11.1994, C 227/91 -44, rechtskräftig geschieden. Dieses Urteil, das sich auf materielles türkisches Recht stützt, enthält zwar keinen Verschuldensausspruch, doch ist auf Grund des festgestellten Sachverhalts von einem zumindest überwiegenden Verschulden des jetzigen Beklagten an der Zerrüttung der Ehe auszugehen.
Die jetzige Klägerin hat im Scheidungsverfahren keine nachehelichen Unterhaltsansprüche geltend gemacht. Sie begehrt jetzt (mit der am 27.11.1995 - per Telefax schon am 24.11.1995 - beim Erstgericht eingebrachten Klage) vom Beklagten unter Berufung auf Art 143 Abs 1 und Abs 2 des türkischen Zivilgesetzbuches (türk. ZGB) als Ersatz für den ihr seit 1.12.1994 entgangenen Unterhalt S 30.000,-- sA, als Ersatz für den ihr zukünftig entgehenden Unterhalt ab 1.12.1995 monatlich S 2.500,-- und dazu noch S 100.000,-- sA für den Ersatz immaterieller Schäden. Die für die Dauer eines Jahr begehrte Unterhaltsrente werde dabei auch auf den Bedürftigkeitsunterhaltsanspruch nach Art 144 türk ZGB gestützt. Die Klägerin sei einkommens- und vermögenslos und habe durch die (vom Beklagten verschuldete) Scheidung ihren Unterhalt verloren.
Der Beklagte bestritt das Klagebegehren sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach und beantragte dessen Abweisung. Von seinen Einwendungen ist vorläufig nur von Interesse, als er meint, daß der Anspruch auf materiellen Schadenersatz und auf Bedürftigkeitsunterhalt nur im Scheidungsverfahren hätte geltend gemacht werden können.
Das Erstgericht folgte dieser Rechtsmeinung und wies mit Teilurteil vom 7.2.1996 das Klagebegehren ab, soweit Unterhalt für die Vergangenheit (S 30.000,-- s.A. für die Zeit vom 1.12.1994 bis 30.11.1995) sowie für die Zukunft (S 2.500,-- monatlich ab 1.12.1995) geltend gemacht wurde. Ein wesentlicher Teil der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der Türkei halte nämlich im Einklang mit dem überwiegenden Teil der Lehre das Scheidungsurteil für den vom Gesetzgeber gewollten endgültigen Schlußstrich für die Ehe, was die Geltendmachung von Unterhaltsersatzansprüchen bzw Bedürftigkeitsunterhalt außerhalb des Scheidungsprozesses ausschließe. Eine nicht so gewichtige Gegenmeinung befürworte zwar die Möglichkeit einer derartigen Klage, wenn die Anspruchsgrundlagen im Scheidungsverfahren nicht erörtert wurden, doch liege auch diese Voraussetzung nicht vor. Gründe für den geltend gemachten Anspruch auf Schadenersatz bzw Bedürftigkeitsunterhalt, die noch nicht anläßlich des Scheidungsverfahrens erörtert worden wären, seien weder vorgebracht worden noch sonst hervorgekommen.
Das Berufungsgericht hob dieses Teilurteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an die erste Instanz zurück. Es führte aus:
Eine Entscheidung des Plenums des türkischen Kassationsgerichtshofes zur Frage, ob Ansprüche auf materiellen Schadenersatz und Bedürftigkeitsunterhalt nach Art 143 Abs 1 bzw Art 144 türk. ZGB auch nach rechtskräftiger Ehescheidung noch erfolgreich geltend gemacht werden können, liege nach einer im Berufungsverfahren eingeholten Auskunft des BMJ vom 7.8.1996 noch nicht vor; eine solche Klagemöglichkeit sei jedoch zu bejahen.
Bereits Rumpf, auf dessen Ausführungen sich das Erstgericht stützte (Scheidungsfolgen im türkischen Recht, ZfRV 1988, 272), habe darauf verwiesen, daß der türkische Gesetzgeber der Novellen des Jahres 1988 zum ZGB und OGB die angesprochene Rechtsfrage nicht behandelt habe. Die Lücke sei im Hinblick auf die in Art 36 der Verfassung festgelegte Regel, wonach jedermann das Recht habe, unter Benützung legaler Mittel zu klagen oder sich zu verteidigen, zugunsten des potentiell Betroffenen zu füllen. Zudem hätte der Gesetzgeber, hätte er die klagsausschließende Wirkung des Scheidungsurteils gewollt, ähnlich wie bei anderen mit dem Scheidungsurteil verbundenen Sanktionen eine entsprechende Bestimmung in das Gesetz aufgenommen. Eine Lückenfüllung, die dazu führe, daß Schadenersatz nur im Scheidungsverfahren verlangt werden kann, verstoße gegen Art 36 iVm Art 13 der (türkischen) Verfassung. Für den Ausschluß einer späteren Klagemöglichkeit könne weder der Grundsatz der Verfahrensökonomie noch das Argument möglicher Konflikte ins Treffen geführt werden, weil der Schadenersatzrichter nicht über den Zusammenhang zwischen Scheidungsgründen und Scheidung zu befinden habe, sondern nur darüber, ob die angeführten Umstände einen Schadenersatzanspruch rechtfertigen.
Bilge Öztan, der sich mit dem angesprochenen Rechtsproblem ebenfalls beschäftigte (Die Geltendmachung von Geschiedenenunterhalt nach türkischem Recht, FamRZ 1994, 1574 ff), gehe in seiner Analyse der Plenarentscheidung des türkischen Kassationsgerichtshofes vom 22.1.1988, die eine nachträgliche Klagemöglichkeit für immaterielle Schadenersatzansprüche eröffnete, davon aus, daß materieller und immaterieller Schadenersatzanspruch sowie der Anspruch auf Bedürftigkeitsunterhalt ihrer Rechtsnatur nach nicht im Widerspruch stehen, sondern einander ergänzen. Die in der genannten Entscheidung für die Klagszulassung angeführten Gründe hätten daher nicht nur für immaterielle Schadenersatzansprüche, sondern für alle Schadenersatzansprüche und auch den Anspruch auf Bedürftigkeitsunterhalt zu gelten. Dieser Rechtsansicht sei die Praxis bereits gefolgt. Der für Scheidungsangelegenheiten zuständige zweite Senat des Kassationsgerichtshofes wende die Plenarentscheidung bereits ständig auch für Klagen auf materiellen Schadenersatz und Bedürftigkeitsunterhalt an; auch in der Lehre finde diese Ansicht Verbreitung, wenngleich allerdings noch nicht vollständige Einigkeit bestehe.
Gemäß § 3 IPRG sei fremdes Recht wie in seinem ursprünglichen Geltungsbereich anzuwenden. Es entscheide demnach nicht der (noch so klare) Wortlaut der (gesatzten oder ungesatzten) Rechtsquellen, sondern die im Ursprungsland durch die herrschende Rechtsprechung geprägte Anwendungspraxis. Wo diese keine eindeutige Antwort gibt, sei der herrschenden fremden Lehre zu folgen und erst in letzter Linie dem fremden Gesetzeswortlaut unter Heranziehung der dort geltenden Auslegungsregeln und allgemeinen Grundsätze (Schwimann in Rummel2, Rz 3 zu § 3 IPRG). Gehe man davon aus, liege eine nach türkischem Recht mit Gesetzeskraft ausgestattete Entscheidung des Plenums des türkischen Kassationsgerichtshofes zur Frage, ob materieller Schadensersatz und Bedürftigkeitsunterhalt, der nicht erst nachträglich entstanden ist, außerhalb des Scheidungsverfahrens eingeklagt werden kann, noch nicht vor. Berücksichtige man allerdings die sowohl von Rumpf als auch von Öztan wiedergegebenen Gründe der Plenarentscheidung vom 22.1.1988, komme man zur Bejahung einer solchen Klagemöglichkeit. Es sei Öztan zu folgen, daß die für immaterielle Schadenersatzansprüche nach Art 143 Abs 2 türk ZGB geltenden Erwägungen auch auf Ansprüche nach Art 143 Abs 1 bzw Art 144 türk ZGB ohne weiteres zu übertragen sind. Das entspreche auch der Spruchpraxis des für Scheidungsangelegenheiten zuständigen zweiten Senats des Kassationsgerichtshofes. Der gegenteiligen Entscheidung des LGZ Wien vom 17.10.1994 (EFSlg 75.844) sei nicht zu folgen; einer Berufung auf die lex fori wie im Urteil des OLG Hamm vom 22.6.1993, FamRZ 1994, 580, bedürfe es nicht (wobei diesem Argument wegen der Zugehörigkeit der Anspruchsgrundlagen zum materiellen Recht auch nicht näher getreten werden könnte).
Diese Entscheidung enthält den Ausspruch, daß der Rekurs an den OGH zulässig sei. Begründet wurde dies damit, daß zur entscheidenden Rechtsfrage, ob nach türkischem Recht eine Klage auf materiellen Schadenersatz und Bedürftigkeitsunterhalt, ohne daß nach Scheidung eine Änderung eingetreten wäre, auch nach rechtskräftigem Abschluß des Scheidungsverfahrens erfolgreich geltend gemacht werden könne, eine Judikatur des OGH fehle.
Im jetzt vorliegenden Rekurs beharrt der Beklagte auf seiner Rechtsansicht, daß materieller Schadenersatz nach Art 143 Abs 1 türk ZGB und Bedürftigkeitsunterhalt nach Art 144 türk ZGB nur im Scheidungsverfahren geltend gemacht werden könne. Die Entscheidung des Plenums des türkischen Kassationsgerichtshofes vom 22.1.1988 beziehe sich nur auf immateriellen Schadenersatz und habe somit an der Rechtslage, daß Ansprüche nach Art 143 Abs 1 und Art 144 türk ZGB nur im Zusammenhang mit einem Scheidungsbegehren zu erörtern sind, nichts geändert. Der Rekursantrag geht dahin, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und in der Sache so zu erkennen, daß das Ersturteil bestätigt wird; in eventu soll die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Klägerin hat dazu fristgerecht eine Rekursbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben, allenfalls - zur Klarstellung, daß die eingeklagten Ansprüche nicht vom Verlust eines bei aufrechter Ehe erzielten Erwerbseinkommens der Klägerin abhängen - die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist nicht berechtigt.
Es trifft zu, daß in der bereits mehrmals erwähnten Plenarentscheidung des türkischen Kassationsgerichtshofes vom 22.1.1988 nur die Frage behandelt und abschließend gelöst wurde, ob der in Art 143 Abs 2 türk ZGB vorgesehene Anspruch auf immateriellen Schadenersatz (auf "moralische Genugtuung") außerhalb des Scheidungsverfahrens geltend gemacht werden kann. Daß darin eine vom Scheidungsverfahren losgelöste Klagemöglichkeit zur Durchsetzung materieller Ersatzansprüche für die Schädigung von Vermögensrechten und Anwartschaften des schuldlos oder minder schuldigen Ehegatten (Art 143 Abs 1 türk ZGB) oder des verschuldensunabhängigen Bedürftigkeitsunterhalts (Art 144 türk ZGB) nicht ebenfalls bejaht wurde und seither keine weitere Entscheidung des Großen Senates zu dieser Rechtsfrage ergangen ist, bedeutet jedoch nicht, daß diese Klagemöglichkeit nicht besteht. Die Judikatur- und Lehrmeinungen im Geltungsland des türk ZGB sind dazu geteilt (siehe die Hinweise bei Öztan, Die Geltendmachung nach türkischem Recht, FamRZ 1944, 1574 f bei FN 3, 4 und 7; vgl auch 6 Ob 581/95) und im Hinblick auf die Neuordnung des Ehescheidungsfolgenrechts durch das Gesetz vom 4.5.1988 gerade im Fluß (vgl OLG Saarbrücken vom 16.9.1993, FamRZ 1994, 579 und OLG Hamm vom 22.6.1993, FamRZ 1994, 580 sowie vom 20.7.1993, FamRZ 1994, 582 mit Anm von D. H.), sodaß mangels klarer Vorgaben durch eine ständige Anwendungspraxis oder eine als herrschend zu bezeichnende Lehre nach den im ursprünglichen Geltungsbereich der anzuwendenden Normen gültigen Auslegungsregeln und allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu entscheiden ist (vgl Schwimann in Rummel2, Rz 3 zu § 3 IPRG; 2 Ob 559/95 = ÖBA 1996, 396/551 ua).
Dies wurde schon vom Berufungsgericht richtig erkannt. Gegen seine im Anschluß an Öztan (aaO) vertretene Rechtsansicht, die vom Plenarsenat des türkischen Kassationsgerichtshofes für die Zulassung der Klage nach Art 143 Abs 2 türk ZGB auch außerhalb des Scheidungsverfahrens ins Treffen geführten Argumente hätten auch für Klagen nach Art 143 Abs 1 und Art 144 türk ZGB zu gelten, bringt der Rekurswerber nichts Stichhältiges vor, sodaß gemäß § 510 Abs 3 ZPO auf diese überzeugenden Rechtsausführungen verwiesen werden kann. Auch der erkennende Senat erblickt in den betreffenden Ansprüchen, die insgesamt eine materielle Absicherung des geschiedenen Ehegatten nach Wegfall seiner Unterhaltsansprüche bezwecken, Gemeinsamkeiten, die eine analoge Anwendung des in der erwähnten Plenarentscheidung für immaterielle Schadenersatzansprüche geprägten Grundsatzes einer vom Scheidungsverfahren losgelösten Klagemöglichkeit auch für die in Art 143 Abs 1 und Art 144 türk ZGB vorgesehenen Ansprüche rechtfertigen; außerdem gebiete es der Grundsatz verfassungskonformer Gesetzesauslegung, der Verfolgung derartiger Ansprüche möglichst keine Hindernisse in den Weg zu legen, weil in Art 36 der türkischen Verfassung ein nur durch gesetzliche Vorbehalte iSd Art 13 leg cit einschränkbares Recht auf Einklagung zivilrechtlicher Ansprüche verankert ist (Öztan, aaO, 1576).
Daß jedenfalls in Österreich eine vom Scheidungsverfahren unabhängige (wenn auch nicht unbedingt zeitlich nachfolgende) Klagemöglichkeit zur Durchsetzung nachehelicher vermögensrechtlicher Ansprüche nach Art 143 f türk ZGB besteht, hat der OGH - gestützt auf Argumente des nach der lex fori maßgeblichen innerstaatlichen Verfahrensrechtes - bereits entschieden (6 Ob 581/95). Hier geht es darum, ob derartige Ansprüche auch nach rechtskräftiger Scheidung gerichtlich geltend gemacht werden können. Da das berufene Sachrecht den Unterhaltsanspruch in jeder Beziehung beherrscht, also vor allem auch den Umfang und sämtliche Voraussetzungen des Anspruchs bestimmt (4 Ob 513/96 = ÖA 1966, 199), sind damit materiellrechtliche Probleme angesprochen. Auch das demnach maßgebliche türkische Recht schränkt jedoch - wie ausgeführt - den materiellen Schadenersatzanspruch bzw den Anspruch des geschiedenen Ehegatten auf Bedürfnisunterhalt nach Art 143 Abs 1 und Art 144 türk ZGB nicht in der Weise ein, daß diese Ansprüche verloren gehen, wenn sie nicht spätestens bis zum Abschluß des Scheidungsverfahrens gerichtsanhängig gemacht werden.
Es war daher wie im Spruch zu entscheiden. Zu bemerken bleibt, daß der berufungsgerichtlichen Entscheidung nicht zu entnehmen ist, die Ansprüche der Klägerin würden den Verlust eines während der Ehe erzielten eigenen (Erwerbs-)Einkommens voraussetzen. Auf die in der Rekursbeantwortung vorsichtshalber vorgebrachten Gegenargumente ist daher nicht weiter einzugehen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 52 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)