OGH 2Ob2400/96x

OGH2Ob2400/96x12.12.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Erika S*****, vertreten durch Dr.Konrad Meingast und Dr.Kurt Dallamaßl, Rechtsanwälte in Gmunden, wider die beklagten Parteien 1. Veronika R*****, und 2. ***** Versicherungs-AG, ***** beide vertreten durch Dr.Erasmus Schneditz-Bolfras und andere Rechtsanwälte in Gmunden, wegen S 52.492 sA, infolge Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Berufungsgerichtes vom 25.September 1996, GZ 23 R 199/96w-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Gmunden vom 3.Mai 1996, GZ 6 C 439/94-19, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit S 5.358,14 (darin enthalten Umsatzsteuer von S 893,02, keine Barauslagen) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 4.8.1994 ereignete sich um etwa 10,40 Uhr im Ortsgebiet von G***** im Bereich der Kreuzung S***** Bundesstraße ***** - J***** Allee ein Verkehrsunfall, bei dem die Klägerin als Lenkerin eines Fahrrades, die einen entlang der Bundesstraße verlaufenden Radweg benützte, von dem von der Erstbeklagten gelenkten und gehaltenen PKW niedergestoßen wurde. Die Klägerin erlitt bei diesem Unfall Verletzungen, ihr Fahrrad und auch der PKW der Erstbeklagten wurden beschädigt.

Die Klägerin begehrt mit der Begründung, die Erstbeklagte trage an dem Unfall das alleinige Verschulden, die Zahlung von Schmerzengeld in der Höhe von 43.500 S sowie den Ersatz weiterer Schäden von 8.992 S. Die Klägerin brachte vor, daß der von ihr benützte Geh- und Radweg gegenüber der J***** Allee durch das Vorrangzeichen "Vorrang geben" abgewertet sei, doch habe die Erstbeklagte ihren PKW vor dem Einfahren in die Bundesstraße vor dem Geh- und Radweg an der Haltelinie angehalten und damit auf den ihr zustehenden Vorrang verzichtet. Als die Klägerin unmittelbar vor dem PKW der Erstbeklagten gewesen sei, sei die Erstbeklagte wieder losgefahren und habe die Klägerin niedergestoßen. Die Erstbeklagte habe die Klägerin völlig übersehen.

Die beklagten Parteien wendeten ein, das Alleinverschulden an dem Unfall treffe die Klägerin. Die Erstbeklagte habe vor Einfahren in die Bundesstraße aufgrund des für sie geltenden Vorrangzeichens "Halt", das sich allerdings nur auf dem Querverkehr auf der Bundesstraße bezogen habe, ihr Fahrzeug so an der Haltelinie angehalten, daß sie den gesamten Radweg blockiert habe. Dieses Anhalten könne nicht als Verzicht auf den Vorrang gewertet werden, ein solcher wäre nur dann anzunehmen, wenn die Erstbeklagte vor dem Radweg angehalten hätte. Die Klägerin habe versucht, durch Ausweichen auf die Bundesstraße am PKW der Erstbeklagten vorbeizufahren, was ihr nicht mehr gelungen sei.

Aufrechnungsweise wurde der Fahrzeugschaden von S 7.256 als Gegenforderung eingewendet.

Das Erstgericht hat das Klagebegehren - ausgehend vom Alleinverschulden der Klägerin - abgewiesen, wobei es im wesentlichen folgende Feststellungen traf:

Links der Bundesstraße ***** - in Fahrtrichtung der Klägerin gesehen - verläuft entlang der Fahrbahn der Bundesstraße ein 2,9 m breiter, asphaltierter Geh- und Radweg, welcher 10 cm höher liegt als die Fahrbahn der Bundesstraße. Im Bereich der von links (in Fahrtrichtung der Klägerin gesehen) in die Bundesstraße in einem Winkel von 45 Grad und mit einer Trichterlänge von 21 m einmündenden J***** Allee verläuft der Geh- und Radweg niveaugleich mit der Bundesstraße. Auf dem parallel zur Bundesstraße verlaufenden Radweg befindet sich unmittelbar vor dem Trichter der J***** Allee das Vorrangzeichen "Vorrang geben". Bodenmarkierungen für den Geh- und Radweg bestehen im Kreuzungsbereich nicht.

Aus der J***** Alle kommend ist zunächst das Vorrangzeichen "Halt" mit einem Zusatzschild, das eine T-förmige Kreuzung, also eine Bevorrangung der Bundesstraße zeigt, angebracht. Die Sicht aus der J***** Allee in die Bundesstraße ist zunächst durch Bäume bzw eine Hecke etwas behindert. Aus einer Position 3 m vor der Fluchtlinie bzw vor der auf der Kreuzung angebrachten Haltelinie ist die Sicht nach rechts über 100 m möglich, auf den Geh- und Radweg über mindestens 50

m. Die an der Fluchtlinie der Bundesstraße angebrachte Haltelinie stellt etwa die Verlängerung des Randes des Geh- und Radweges dar; die Haltelinie hat eine Breite von 50 cm und ragt mit dieser Breite in den Geh- und Radweg.

Die Erstbeklagte wollte von der J***** Allee kommend nach rechts in die Bundesstraße einbiegen. Sie hatte den rechten Blinker gesetzt und brachte ihren PKW im Trichterbereich in einer Schrägstellung so zum Stillstand, daß dessen linken Frontecke von der inneren Kante der Haltelinie etwa 1 m und somit von der Fluchtlinie der Bundesstraße 1,5 m entfernt war. Die Klägerin fuhr in Fahrtrichtung der Erstbeklagten gesehen von rechts kommend auf dem Geh- und Radweg mit einer Geschwindigkeit von 10 bis 15 km/h, wobei der Radaufstandspunkt ca 50 cm links der Bordsteinkante war. Aufgrund des Stillstandes des PKW der Erstbeklagten beabsichtigte sie, vor diesem Fahrzeug den Trichter der J***** Allee zu überqueren. Ohne die Fahrlinie und die Geschwindigkeit zu verändern, fuhr sie in den Trichterbereich ein, als auch die Erstbeklagte den PKW wieder in Bewegung setzte, um in die Bundesstraße nach rechts einzufahren, wobei sie sich mit dem Blick nach links auf den Verkehr auf der Bundesstraße konzentrierte. Die Beklagte hatte die Klägerin zwar beim Einfahren in den Kreuzungsbereich in größerer Entfernung, nicht jedoch unmittelbar vor dem Anstoß wahrgenommen. Der Klägerin war eine Abwehrhandlung auf das Wegfahren des PKW nicht mehr möglich. Nach einer Fahrbewegung von 70 bis 80 cm stieß der PKW mit der linken Frontseite gegen das Fahrrad der Klägerin, wodurch diese zu Sturz kam und verletzt wurde.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, das Verhalten der Erstbeklagten sei nicht als Verzicht auf den Vorrang zu werten; sie habe ihr Fahrzeug vor Einfahren in die Bundesstraße so angehalten, daß sie den 2,9 m breiten Radweg praktisch zur Hälfte blockiert habe. Bei dieser Situation habe die Klägerin als Wartepflichtige nicht mehr einen Vorrangverzicht der Erstbeklagten annehmen und mit gleichbleibender Geschwindigkeit und ohne Kontaktaufnahme mit der Erstbeklagten in die Kreuzung einfahren dürfen. Auch die Erstbeklagte habe mit einem ihre Fahrlinie kreuzenden, aus der benachrangten Verkehrsfläche kommenden Radfahrer nicht mehr rechnen müssen. Es sei daher der Klägerin das alleinige Verschulden an dem Unfall anzulasten.

Das dagegen angerufene Berufungsgericht änderte die Entscheidung dahingehend ab, daß es die Klagsforderung mit S 52.492 samt Zinsen als zu Recht bestehend, die eingewendete Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend feststellte; es verurteilte daher die beklagten Parteien zur Zahlung von S 52.492 samt Zinsen; die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt.

Das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, die Erstbeklagte treffe das Alleinverschulden am Unfall der Klägerin. Gemäß § 19 Abs 8 StVO gelte das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges, aus welchem Grunde immer, insbesondere auch in Befolgung eines gesetzlichen Gebotes, als Verzicht auf den Vorrang. Wer sein Fahrzeug an einer Kreuzung in einer Weise zum Stillstand bringe, daß dies im Sichtbereich befindliche Verkehrsteilnehmer wahrnehmen könnten, müsse sein Fahrverhalten darauf einstellen, daß andere Verkehrsteilnehmer dies als Vorrangverzicht auffassen. Der anhaltende Lenker dürfe erst dann seine Fahrt fortsetzen, wenn er sich die Gewißheit verschafft habe, daß er kein anderes Fahrzeug in seiner Bewegung behindere.

Diese Grundsätze seien auch dann anwendbar, wenn der zunächst bevorrangte Verkehrsteilnehmer bereits in die benachrangte Verkehrsfläche eingefahren sei; das zum Zum-Stillstand-Bringen des ursprünglich bevorrangten Fahrzeuges in einer Position, die keine Behinderung für die Weiterfahrt des ursprünglich benachrangten Fahrzeuges darstelle, sei aus der Sicht des ursprünglich benachrangten Lenkers nicht anders zu werten, als das Anhalten noch vor der benachrangten Verkehrsfläche. Auch dadurch gebe der bevorrangte Verkehrsteilnehmer seinen Verzicht auf den Vorrang zu erkennen und sei der Gegenbeweis gegen diese Vermutung des Vorrangverzichtes ausgeschlossen.

Im vorliegenden Fall habe die Entfernung zwischen dem PKW in der Stillstandsposition und dem Radaufstandspunkt 1 m betragen, die Entfernung zwischen dem PKW und der Radfahrerin unter Berücksichtigung deren Bedarfsbreite von 60 cm daher 70 cm (100 cm minus halber Bedarfsbreite). Das Vorbeifahren eines Radfahrers an einem stehenden PKW in einem Abstand von 70 cm sei ausreichend; die teilweise Blockierung des Geh- und Radweges durch die Erstbeklagte hindere daher die Wertung des Zum-Stillstand-Bringens ihres Fahrzeuges als Vorrangverzicht nicht und habe auch keine unklare Verkehrslage für die Klägerin geschaffen. Vielmehr wäre die Erstbeklagte verpflichtet gewesen, bevor sie ihr Fahrzeug wieder in Bewegung setzte, sich Gewißheit zu verschaffen, daß sie keinen anderen Verkehrsteilnehmer behindere. Dies habe die Erstbeklagte unterlassen, was ihr als Alleinverschulden am Unfall begründe.

Die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt, weil die Frage, ob § 19 Abs 8 StVO auch dann zur Anwendung komme, wenn das ursprünglich bevorrangte Fahrzeug so zum Stillstand gebracht werde, daß es die vom benachrangten Verkehrsteilnehmer benützte Fläche teilweise blockiere, bisher in der Judikatur des Obersten Gerichtshofes nicht behandelt worden sei.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Parteien mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde.

Die Klägerin hat Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel der beklagten Parteien nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Parteien ist aus dem vom Berufungsgericht aufgezeigten Grunde zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

Die beklagten Parteien machen in ihrem Rechtsmittel geltend, daß das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges nur dann als Vorrangverzicht zu werten sei, wenn das Fahrzeug vor der Kreuzung angehalten werde. Jener Verkehrsteilnehmer hingegen, der bereits in die Kreuzung eingefahren sei, habe damit zu erkennen gegeben, daß er auf seinen Vorrang nicht verzichte, da er ja ansonsten vor der Kreuzung angehalten hätte. Zumindest sei für die Klägerin aber eine unklare Verkehrslage gegeben gewesen, weil ja der Radfahrweg etwa zur Hälfte blockiert gewesen sei. Die Klägerin hätte daher das weitere Fahrverhalten der Erstbeklagten beobachten und insbesonders mit ihr Kontakt aufnehmen müssen.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden:

Gemäß § 19 Abs 8 Satz 2 StVO gilt das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges, ausgenommen eines Schienenfahrzeuges in Haltestellen, aus welchem Grunde immer, insbesondere auch in Befolgung eines gesetzlichen Gebotes, als Verzicht auf den Vorrang. Da es für den Vorrangverzicht gleichgültig ist, ob das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges freiwillig oder in Erfüllung einer wirklichen oder vermeintlichen Wartepflicht erfolgt, ist es auch gleichgültig, ob die Absicht, mit dem Zum-Stillstand-Bringen den Verzicht auf den Vorrang auszudrücken, erkennbar ist (ZVR 1980/134); es ist auch ein Gegenbeweis gegen die Vermutung des Vorrangverzichtes durch das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges ausgeschlossen (ZVR 1983/52; ZVR 1992/40 ua). § 19 Abs 8 Satz 2 StVO enthält keine Regelung darüber, wo das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges zu erfolgen hat, um einen Verzicht auf den Vorrang nach sich zu ziehen; die Bestimmung normiert vielmehr ganz generell, daß das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges, ausgenommen eines Schienenfahrzeuges in Haltestellen, aus welchem Grunde immer, als Verzicht auf den Vorrang gilt. In den Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes wurde ein Vorrangverzicht durch das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges zum Teil dann angenommen, wenn dieses an der Kreuzung erfolgte (ZVR 1963/260, 1978/234, 1981/276, 1982/88, 1984/339), zum Teil dann wenn dieses vor der Kreuzung erfolgte (ZVR 1977/254, 1980/257). In all diesen Entscheidungen war aber die Frage, wo das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges erfolgte, nicht relevant.

Nach Ansicht des erkennenden Senates stellt das Zum-Stillstand-Bringen eines Fahrzeuges auch dann einen Vorrangverzicht dar, wenn das Fahrzeug bereits zum Teil in die vom benachrangten Verkehrsteilnehmer berührte Verkehrsfläche eingefahren ist, aber noch soviel Raum verbleibt, um dem ursprünglich benachrangten Verkehrsteilnehmer ein gefahrloses Passieren des stehenden Fahrzeuges zu ermöglichen. Es macht für den an sich Benachrangten keinen wesentlichen Unterschied, ob der ursprünglich Bevorrangte vor der Kreuzung anhält oder nur soweit in diese einfährt, daß er ohne weiteres passieren kann. Auch der Bestimmung des § 19 Abs 8 Satz 2 StVO ist eine derartige Differenzierung nicht zu entnehmen, ordnet diese Bestimmung doch ganz allgemein an, daß das Zum-Stillstand-Bringen des Fahrzeuges als Vorrangverzicht gilt.

Zutreffend hat daher das Berufungsgericht einen Vorrangverzicht der Erstbeklagten angenommen.

Erfolgte aber eine Vorrangverzicht, dann darf der ursprünglich bevorrangte Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug erst dann wieder in Bewegung setzen, wenn er sich Gewißheit verschafft hat, daß er keinen anderen Verkehrsteilnehmer behindert (ZVR 1980/257), und kann der nunmehr bevorrangte Verkehrsteilnehmer davon ausgehen, daß der ursprünglich Bevorrangte sich daran halten werde. Die Klägerin ist daher zu einer Reaktion erst in dem Augenblick verpflichtet gewesen, als für sie erkennbar wurde, daß sich die Erstbeklagte nicht gemäß dem zum Ausdruck gebrachten Vorrangverzicht verhalten werde (ZVR 1980/257), zu diesem Zeitpunkt war aber eine unfallverhindernde Reaktion nicht mehr möglich.

Es war sohin der Revision der beklagten Parteien nicht Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Kosten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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