OGH 10ObS2317/96z

OGH10ObS2317/96z26.11.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Dr.Ilona Gälzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Mojescick (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolfine G*****, Pensionistin, ***** vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wider die beklagte Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, 3100 St.Pölten, Dr.Karl Renner-Promenade 14-16, vertreten durch Dr.Vera Kremslehner, Dr.Josef Milchram und Dr.Anton Ehm, Rechtsanwälte in Wien, wegen Pflegegebühren, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29.Mai 1996, GZ 9 Rs 166/96i-17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 14.März 1995, GZ 5 Cgs 215/94g-11, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, die Pflegegebühren anläßlich des stationären Aufenthaltes der Klägerin in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging vom 28.7. bis 23.8.1994 zu übernehmen, wird abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin befand sich vom 28.7. bis 23.8.1994 in der Nö. Landesnervenklinik Gugging wegen einer depressiven Symptomatik zum

17. Mal in stationärer Behandlung. Sie kam freiwillig in die Krankenanstalt und wurde unter der Diagnose einer neurotischen Depression aufgenommen. Bei ihr liegt ein chronisches Zustandsbild im Sinne einer neurotischen Depression vor, wobei auch ihre Vereinsamung eine entscheidende Rolle spielt. Eine Besserung durch stationäre Aufenthalte ist bisher nicht eingetreten und auch nicht zu erwarten. Bei der Klägerin handelt es sich um einen Pflegefall. Die Unterbringung in der Krankenanstalt erfolgte nicht zur Durchführung einer notwendigen ärztlichen Behandlung im Rahmen eines stationären Aufenthaltes. Der Klägerin wurde erstmalig mit Schreiben der beklagten Gebietskrankenkasse vom 22.8.1994 mitgeteilt, daß sie für den stationären Aufenthalt wegen Vorliegens einer Asylierung im Sinne des § 144 Abs 3 ASVG keine Kosten übernehme.

Mit Bescheid vom 27.9.1994 lehnte die Beklagte die Übernahme des Pflegegebührenersatzes anläßlich des genannten Krankenhausaufenthaltes ab. Zur Begründung führte sie aus, daß dieser Krankenhausaufenthalt nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt gewesen, sondern lediglich mangels häuslicher Pflege erfolgt sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, die Pflegegebühren anläßlich des stationären Aufenthaltes der Klägerin vom 28.7. bis 23.8.1994 zu übernehmen, statt. Zwar sei der Krankenhausaufenthalt nicht durch die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung bedingt gewesen, doch habe der Versicherte nach ständiger Judikatur die Kosten nur dann selbst zu tragen, wenn er erkennen habe können, daß ihm die Leistung nicht (mehr) gebühre. Zu dieser Erkenntnis habe die Klägerin jedoch erst aufgrund des Schreibens der Beklagten vom 22.8.1994 kommen können.

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Der stationäre Aufenthalt der Klägerin stelle einen Asylierungsfall dar, weil die Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt gewesen sei. Das Leiden der Klägerin sei einer Behandlung auch nicht zugänglich. Bei einer Asylierung im Sinne des § 144 Abs 3 ASVG sei die Anstaltspflege grundsätzlich nicht auf Kosten der Beklagten zu gewähren. Die Klägerin sei jedoch von der Krankenanstalt aufgenommen worden und habe erst durch die nachträgliche Mitteilung der Beklagten erkennen können, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der Anstaltspflege nicht vorgelegen seien. Da sie bereits am 23.8.1994 die Krankenanstalt verlassen habe, lägen die Voraussetzungen für die Rückforderung der aufgelaufenen Pflegegebühren gemäß § 107 Abs 1 ASVG nicht vor. Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei, weil zur Frage der Rückforderung der Pflegegebühren eine gesicherte Rechtsprechung vorliege (SSV-NF 5/134).

Rechtliche Beurteilung

Die gegen dieses Urteil von der Beklagten erhobene Revision ist nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 46 Abs 1 ASGG zulässig, weil das Klagebegehren auf Übernahme der Pflegekosten der allgemeinen Gebührenklasse einer öffentlichen Krankenanstalt ein solches auf wiederkehrende Leistungen ist (SSV-NF 9/65). Die Revision ist aber auch berechtigt.

Zutreffend weist die Beklagte in ihrer Rechtsrüge darauf hin, daß die von den Vorinstanzen herangezogene Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 10 ObS 43, 44/91 (= SSV-NF 5/134 = SZ 64/173) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.

Gemäß § 144 Abs 1 ASVG ist Pflege in der allgemeinen Gebührenklasse einer öffentlichen Krankenanstalt als Sachleistung zu gewähren, wenn und solange es die Art der Krankheit erfordert. Ist die Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt (Asylierung), so wird sie nicht gewährt (§ 144 Abs 3 ASVG). Die vorzunehmende Abgrenzung zwischen "Behandlungsfall" und "Asylierungsfall" muß an die Voraussetzungen für das Vorliegen des Versicherungsfalls der Krankheit anschließen. Demnach liegt ein Behandlungsfall dann vor, wenn prognostisch festgestellt werden kann, daß das beim Versicherten vorliegende Leiden einer Behandlung zugänglich ist, wenn auch nur eine geringfügige Besserung des Grundleidens erhofft wird oder wenn die Behandlung eine Verschlechterung des Zustands hintanzuhalten geeignet ist, mag auch das Grundleiden als solches nicht mehr behebbar sein. Hingegen handelt es sich um einen Asylierungs- oder Pflegefall, wenn ein Krankenhausaufenthalt nur die fehlende häusliche Pflege und Obsorge allein ersetzt und nicht mehr einer erfolgversprechenden Behandlung der Krankheit dient (SSV-NF 5/134 = SZ 64/173 mwN). Nach den den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen der Tatsacheninstanzen war im Fall der Klägerin eine ärztliche Behandlung im aufgezeigten Sinn - auch prophylaktisch gesehen - nicht notwendig. Ist aber die Anstaltspflege nicht durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingt (Asylierung), so wird sie gemäß § 144 Abs 3 ASVG nicht gewährt. Davon sind auch die Vorinstanzen zutreffend ausgegangen.

In der oben zitierten Entscheidung 10 ObS 43, 44/91 (ähnlich SV-NF 9/65 und die nicht veröffentlichten Entscheidungen 10 ObS 311/91 und 10 ObS 49/92) hat der Senat ausgesprochen, daß, sobald der Asylierungsfall eingetreten ist, der Anspruch des Versicherten auf Gewährung der Anstaltspflege durch den Versicherungsträger gemäß § 100 Abs 1 lit a ASVG ohne weiteres Verfahren erlischt. Dem Versicherten muß jedoch in eindeutiger Form, wenn auch nicht durch Bescheid, bekanntgegeben werden, daß der Versicherungsträger die Weitergewährung der Anstaltspflege ablehnt. Auch nach Eintritt des Asylierungsfalles hat daher der Versicherungsträger bis zur Mitteilung, daß die weitere Tragung der Kosten für den Anstaltsaufenthalt und damit die Erbringung der Sachleistung abgelehnt wird, die Kosten der Anstaltspflege zu übernehmen; ein Rückforderungsanspruch gegenüber dem Versicherten besteht nur unter den Voraussetzungen des § 107 ASVG. Dieser Entscheidung lag jedoch zugrunde, daß der Versicherte bereits länger als ein Jahr in der Krankenanstalt einer notwendigen ärztlichen Behandlung unterzogen worden war und der Krankenversicherungsträger nach Abgabe einer Kostenübernahmeerklärung und Anerkennung der Einweisungsvoraussetzungen im Nachhinein für bestimmte Zeiträume die Kostentragung ablehnte.

Im Gegensatz dazu wurde die Klägerin nicht nach § 145 Abs 1 ASVG durch den beklagten Träger der Krankenversicherung in die öffentliche Krankenanstalt eingewiesen. Der Erkrankte ist, wenn Anstaltspflege gemäß § 144 gewährt wird, in eine öffentliche Krankenanstalt einzuweisen (§ 145 Abs 1 Satz 1 ASVG). In Fällen, in denen mit der Aufnahme in die Anstaltspflege bis zur Einweisung durch den Versicherungsträger ohne Gefahr für den Erkrankten nicht zugewartet werden konnte, ist die Aufnahme in eine öffentliche Krankenanstalt der Einweisung durch den Versicherungsträger gleichzuhalten, sofern die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Anstaltspflege gegeben sind (§ 145 Abs 2 Satz 1 ASVG). Zu diesen übrigen Voraussetzungen gehört vor allem, daß die Art der Krankheit nicht nur Krankenbehandlung, insbesondere ärztliche Hilfe, sondern Anstaltspflege erfordert. Unter dem im ASVG nicht definierten Begriff "Anstaltspflege" ist die durch die Art der Krankheit erforderte, durch die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung bedingte "einheitliche und unteilbare" Gesamtleistung der stationären Pflege in einer - nicht gemäß § 144 Abs 4 ASVG ausgenommenen - Krankenanstalt zu verstehen. Sie bezweckt - wie die Krankenbehandlung im Sinn des § 133 ASVG - die Wiederherstellung, Festigung oder Besserung der Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Selbsthilfefähigkeit, tritt aber insofern hinter die Krankenbehandlung zurück, als sie als Leistung der Krankenversicherung erst beansprucht werden kann, wenn eine ambulante Krankenbehandlung nicht mehr ausreicht, um eine Krankheit durch ärztliche Untersuchung festzustellen und sodann durch Behandlung zu bessern oder zu heilen (SSV-NF 8/9 = SZ 67/24 mwN).

Die Einweisung eines Erkrankten durch den Sozialversicherungsträger erfolgt in Form der Ausstellung eines "Kostenverpflichtungsscheines", wodurch sich der Versicherungsträger zur Kostentragung im konkreten Erkrankungsfall, und zwar im Rahmen der darin niedergelegten Daten verpflichtet. Der Kostenverpflichtungsschein ist vor der Inanspruchnahme der Anstaltspflege durch den Versicherten vom Versicherungsträger anzufordern und der Krankenanstalt vorzulegen. Diese Vorlagepflicht entfällt, wie bereits dargelegt, wenn mit der Aufnahme in die Anstaltspflege ohne Gefahr für den Erkrankten nicht zugewartet werden kann. Als "unabweisbar" gilt ein Erkrankter dann, wenn sein geistiger oder körperlicher Zustand wegen Lebensgefahr oder wegen Gefahr einer sonst nicht vermeidbaren schweren Gesundheitsschädigung sofortige Anstaltsbehandlung erfordert (§ 39 Abs 4 Nö KAG 1974). Sofern die Krankenordnung keine besonderen Bestimmungen über die Art der Einweisungen enthält, kann sie auch durch dazu ermächtigte Vertragsärzte vorgenommen werden. Begibt sich der Versicherte aber aus eigenem Antrieb in Anstaltspflege einer öffentlichen Krankenanstalt, werden die Kosten nicht übernommen (Binder in Tomandl, SV-System 7.ErgLfg 227 f mwN). Dabei wird nicht übersehen, daß § 145 Abs 2 ASVG keineswegs eine Aufnahmepflicht für öffentliche Krankenanstalten im Auge hat, sondern lediglich die Frage regelt, unter welchen Voraussetzungen auf Rechnung des Versicherungsträgers die Anstaltspflege eines Versicherten zu erfolgen hat, wenn sich dieser aus eigenem Antrieb in die Krankenanstalt begibt (vgl Thomas Radner, Die Anstaltspflege im Wechselspiel von Sozialversicherungsrecht, Krankenanstaltenrecht und Krankenanstaltenvertrag, 1995, 1 ff, 19 ff, 27, 81 ff; Selbs in Tomandl, SV-System 6.ErgLfg 636).

Daß die Klägerin in die Krankenanstalt ohne Einweisung durch den beklagten Versicherungsträger aufgenommen wurde, ist unstrittig. Es wurde aber auch weder behauptet noch festgestellt, daß die Klägerin durch einen hiezu befugten Vertragsarzt eingewiesen worden sei. Ihre Aufnahme ist auch nicht schon deshalb nach § 145 Abs 2 ASVG der Einweisung durch den Versicherungsträger gleichzuhalten, weil sie aufgrund der Untersuchung durch einen Anstaltsarzt erfolgte. Dies wäre, wie oben dargestellt, nur dann der Fall, wenn mit der Aufnahme in die Anstaltspflege bis zur Einweisung durch den Versicherungsträger ohne Gefahr für die Klägerin nicht zugewartet werden konnte und die Art ihrer Erkrankung Anstaltspflege, also stationäre Pflege und nicht nur ambulante ärztliche Behandlung in oder außerhalb einer Krankenanstalt erforderte (SSV-NF 8/9 = SZ 67/24 mwN). Da aber die Art der Erkrankung der Klägerin Anstaltspflege nach den Feststellungen nicht erforderte und eine Einweisung in die öffentliche Krankenanstalt gemäß § 145 ASVG nicht anzunehmen ist, besteht schon aus diesen Gründen kein Anspruch auf Übernahme der Pflegegebühren durch den beklagten Versicherungsträger. Das Problem der Rückforderung erbrachter Leistungen stellt sich im vorliegenden Fall überhaupt nicht.

In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen im Sinne einer gänzlichen Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

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