Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben; die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 5.9.1995 lehnte die Beklagte den vom Kläger beantragten Kostenersatz für die am 20.3.1995 beschädigte Lesebrille mit der Begründung ab, daß sie beim Unfallsgeschehen nicht als Hilfsmittel in Verwendung gestanden sei.
Der Kläger begehrt mit der rechtzeitig eingebrachten Klage diesen abgelehnten Kostenersatz.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.
Folgender Sachverhalt steht fest:
Der Kläger begann am 20.3.1995 auf dem Bauhof seines Dienstgebers als Baggerfahrer mit Schneeräumarbeiten. Während dieser Tätigkeit trug der Kläger eine Fernbrille, die Lesebrille hatte er an einem Band um den Hals gehängt. Diese brauchte er, wenn er bei diversen Fahrmanövern auf die Armaturen des Baggerfahrzeuges schauen mußte. Um den Oberwagen des Baggers umzudrehen, mußte der Kläger einen unter dem Sitz befindlichen Bolzen, der der Arretierung des Ober- und Unterwagens des Fahrzeuges diente, herausziehen. Da dieser Arbeitsvorgang nicht möglich war, öffnete er die Türe der Fahrerkabine, drehte sich um und stieg, das Gesicht dem Baggerfahrzeug zugewendet, mit dem linken Fuß auf das Rad des Baggers, mit dem rechten Fuß betrat er die Leiter und hielt sich mit der linken Hand fest. Er beabsichtigte, in den Spalt zwischen Ober- und Unterwagen hineinzuschauen, um den Vorgang zu überprüfen bzw den Grund für die Blockierung zu erkennen. Als er die Fernbrille abnehmen und die Lesebrille aufsetzen wollte, rutschte er aus und fiel auf den Boden. Bei diesem Sturz gingen beide Brillen zu Bruch.
Das Erstgericht bejahte den Anspruch des Klägers auf Kostenersatz und verurteilte die Beklagte, Kostenersatz im gesetzlichen Ausmaß zu leisten.
In der rechtlichen Beurteilung gründete das Erstgericht den Anspruch des Klägers auf § 202 Abs 2 ASVG, weil bei dem Arbeitsunfall die Lesebrille als Hilfsmittel, das der Kläger verwendet habe bzw dessen Verwendung unmittelbar bevorstand, beschädigt worden sei.
Das Gericht der zweiten Instanz gab der Berufung der Beklagten nicht Folge.
In rechtlicher Hinsicht sei nicht entscheidend, ob das Hilfsmittel bei einem Arbeitsunfall in Verwendung steht, sondern lediglich, daß es bei einem Arbeitsunfall schadhaft oder unbrauchbar wird oder verloren geht, es sei denn, den Versehrten träfe an der Beschädigung oder Unbrauchbarkeit ein Verschulden. Ein Verschulden habe die Beklagte weder eingewendet, noch bestehe nach dem festgestellten Unfallshergang Anlaß zur Annahme eines solchen.
Das Berufungsgericht sprach aus, daß die Revision gemäß § 46 Abs 1 ASGG zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klageabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die klagende Partei stellt den Antrag, der Revision der beklagten Partei nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist im Ergebnis berechtigt.
Wenn auch mit den Revisionsausführungen konform schon aus der Bekämpfung bestimmter Feststellungen in der Berufung erkennbar war, welche gegenteiligen Feststellungen gewünscht werden, so bildet der Umstand, daß das Berufungsgericht die Beweisrüge als nicht gesetzmäßig ausgeführt ansah, hier keinen Mangel des Berufungsverfahrens. Auf die Feststellung, ob der Kläger die Lesebrille brauchte, wenn er bei diversen Fahrten auf die Armaturen des Baggerfahrzeuges schauen mußte, kommt es nicht an, sodaß die Eignung eines allfälligen Verfahrensmangels, eine unrichtige Entscheidung herbeizuführen, fehlt (Fasching, Lehrbuch2 Rz 1762). Entscheidend ist nämlich nicht, wann der Kläger die Lesebrille brauchte und ob er beim Wechsel der Fern- und Lesebrille stürzte, sondern lediglich, daß das Erstgericht unbekämpft feststellte, der Kläger habe bei seiner Tätigkeit im Unfallszeitpunkt die Fernbrille getragen und die Lesebrille um den Hals gehängt. Geht man aber von diesen Feststellungen aus, so ist folgendes zu erwägen:
Der Träger der Unfallversicherung hat gemäß § 202 Abs 2 ASVG, wenn bei einem Arbeitsunfall ein Körperersatzstück, ein orthopädischer Behelf oder ein anderes Hilfsmittel schadhaft oder unbrauchbar wird oder verloren geht, die Kosten für die Beseitigung des eingetretenen Schadens zu übernehmen. Nach § 202 Abs 3 ASVG sind unbrauchbar gewordene Hilfsmittel auf Kosten des Trägers der Unfallversicherung wiederherzustellen oder zu erneuern. Vor Ablauf einer festgesetzten Gebrauchsdauer besteht Anspruch auf Ersatz oder Erneuerung nur, wenn der Versehrte glaubhaft macht, daß ihn an der Beschädigung, Unbrauchbarkeit oder den Verlust des Hilfsmittels kein Verschulden trifft.
Das Gesetz bietet in § 154 Abs 1 ASVG, wo Hilfsmittel genannt sind, keine klare Begriffsbestimmung. Die dort angeführte Eignung desselben, die Funktion fehlender oder unzulänglicher Körperteile des Versicherten zu übernehmen (SSV-NF 9/2) schließt, wie aus dem Wortlaut des § 154 Abs 1 ASVG " ... bei Hilfsmittel, die geeignet
sind ... " hervorgeht, andere Begriffsinhalte nicht aus. Die Eignung,
die mit dem Gebrechen verbundene körperliche oder psychische Beeinträchtigung zu mildern, zu beseitigen (Binder in Tomandl, System 7. ErgLfg 246/6) oder wie aus § 202 Abs 1 ASVG hervorgeht, das Erfordernis, damit den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder die Unfallfolgen zu erleichtern bzw die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen oder die Folgen eines Versicherungsfalles zu mildern (Tomandl in Tomandl aaO, 5. ErgLfg 321) können ebenfalls darunter verstanden werden. Daraus folgt, daß § 202 Abs 1 ASVG keine klare Abgrenzung zu dem in § 137 Abs 1 ASVG angeführten Begriff des Heilbehelfs zieht, der beispielsweise Brillen sogar ausdrücklich anführt. Da andererseits § 137 Abs 1 ASVG neben den Brillen auch noch oprthopädische Schuheinlagen, Bruchbänder und sonstige notwendige Heilbehelfe nennt, und § 202 Abs 1 ASVG Körperersatzstücke, orthopädische Behelfe und andere Hilfsmittel anführt, zu denen ua Krücken und auch die in § 137 Abs 1 ASVG unter Heilbehelfen fallenden Bruchbänder zählen (Teschner/Widlar ASVG 59. ErgLfg 1026), spricht alles dafür, daß der Gesetzgeber in § 202 Abs 1 ASVG von einem weiten Begriffsinhalt ausgeht. Die Unterscheidung, ob der Behelf dem Heilungszweck dient (Heilbehelf) oder ob er erst nach Abschluß des Heilungsprozesses zum Einsatz kommt (Hilfsmittel) (Binder aaO, 7. ErgLfg 220) ist daher in diesem Bereich nicht streng zu ziehen. Die Lesebrille kann daher hier durchaus auch als Hilfsmittel iS des § 202 Abs 1 ASVG beurteilt werden.
Bei schadhaft oder unbrauchbar gewordenen oder verloren gegangenen Hilfsmitteln besteht jedoch vor Ablauf einer festgesetzten Gebrauchsdauer Anspruch auf Ersatz oder Erneuerung nach § 202 Abs 3 ASVG nur dann, wenn der Versehrte glaubhaft macht, daß ihn an der Beschädigung, Unbrauchbarkeit oder dem Verlust des Hilfsmittels kein Verschulden trifft. Es ist also nicht maßgeblich, ob ein Verschulden am Unfall besteht, sondern ob ein solches an der Beschädigung des Hilfsmittels des Versehrten mitwirkte. Ein solches Verschulden liegt etwa dann vor, wenn das Hilfsmittel nicht bestimmungsgemäß verwendet oder aufbewahrt wurde (vgl Teschner/Widlar ASVG, 55. ErgLfg 796/6 mwN).
Im vorliegenden Fall steht aber fest, daß der Kläger beide Brillen, nämlich die Fernbrille und die Lesebrille je nach dem erforderlichen Sichtbereich benötigt. Es kann ihm daher nicht zum Verschulden gereichen, daß er beide bei sich trug und insbesondere auch nicht, daß er die Lesebrille mit einem Brillenband um den Hals gehängt hatte; denn es gibt viele Lebenslagen, in welchen der rasche Wechsel von Nah- auf Entfernungssehen erforderlich ist. Der Anspruch des Klägers ist daher dem Grunde nach unabhängig von der Gebrauchsdauer der Brille gegeben.
Eine Bestätigung der Urteile der Vorinstanzen kann aber dennoch nicht erfolgen, weil Feststellungen zur Höhe des Ersatzanspruches fehlen. Ein Zuspruch von Kosten für die Lesebrille "im gesetzlichen Ausmaß" ist nämlich nicht möglich, weil es keine gesetzlichen Bestimmungen über die Höhe der Kosten einer Lesebrille gibt (SSV-NF 5/21; 10 ObS 52/96).
Die Urteile der Vorinstanzen waren somit aufzuheben und die Sozialrechtssache an das Gericht erster Instanz zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Dabei wird auch das Klagebegehren durch die Angabe des begehrten Betrages zu präzisieren sein.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.
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