Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die mit S 2.029,44 bestimmten halben Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 338,24 USt) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Etwa im März 1973 wurde bei dem damals 20 Jahre alten Kläger am linken Auge eine Kurzsichtigkeit festgestellt, weshalb ihm eine Brille verordnet wurde. Am rechten Auge wurde nur eine sehr geringe Abweichung von der Norm festgestellt. Bereits damals bestand beim Kläger ein genetisch fixierter Keratokonus (Hornhautveränderung, Hornhautkegel). Mit der verordneten Brille sah der Kläger jedoch an beiden Augen gut. Im Laufe der Jahre wurde die Kurzsichtigkeit jedoch zunehmend größer. Am 15.12.1976 erlitt der Kläger bei einem Arbeitsunfall - er stach sich mit einem Schraubenzieher in das rechte Auge - eine perforierende Augenverletzung rechts. Im Anschluß an diese Verletzung wurde gleichzeitig am linken Auge eine Kontaktlinse angepaßt, da die Kurzsichtigkeit zugenommen hatte. Mit Bescheid der beklagten allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 28.6.1977 wurde der genannte Unfall als Arbeitsunfall anerkannt und dem Kläger ab 7.3.1977 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente als Dauerrente zuerkannt. In der Folge trat keine Verschlechterung der unfallskausalen Folgen am rechten Auge ein. Aufgrund des Keratokonus verschlechterte sich aber unabhängig von der Unfallverletzung die Sehleistung am linken Auge. Der behandelnde Arzt machte den Kläger auf die Möglichkeit einer Hornhauttransplantation aufmerksam, die am 3.1.1995 am linken Auge durchgeführt wurde. Im November 1995 sah der Kläger am linken Auge noch nicht gut, weil die Heilbehandlung noch nicht abgeschlossen war; insbesondere war das Tragen einer Kontaktlinse am linken Auge noch nicht möglich. Wie gut die Sehleistung am linken Auge nach der Transplantation sein wird, stand somit noch nicht fest.
Die beklagte Partei lehnte mit Bescheid vom 11.10.1994 den Antrag des Klägers auf Erhöhung der bisherigen Versehrtenrente von 20 vH für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 15.12.1976 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, nach den Befundungen und der Stellungnahme der chefärztlichen Station sei im Zustand der Unfallsfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten. Die behaupteten Beschwerden am linken Auge seien nicht auf die Folgen des Arbeitsunfalles zurückzuführen.
Im vorliegenden Rechtsstreit begehrt der Kläger die Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 35 vH der Vollrente ab Antragstellung (9.5.1994) anstelle der bisher gewährten Versehrtenrente von 20 vH. Als Unfallsfolge bestehe eine Linsenlosigkeit rechts nach operativen Regenbogenhautausschnitt. Aufgrund der herabgesetzten Sehleistung am verletzten Auge sei infolge einer Überanstrengung auch eine Schwächung des linken Auges eingetreten.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Beim Kläger liege entweder ein Vorschaden vor, der sich verschlimmert habe, oder ein Nachschaden; in beiden Fällen habe die Unfallversicherung für diese Folgen nicht einzustehen, da sie unabhängig vom Arbeitsunfall eingetreten sei.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. In rechtlicher Hinsicht ging es davon aus, daß seit der bescheidmäßigen Festsetzung der Versehrtenrente eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 183 Abs 1 ASVG nicht eingetreten sei. Der Nachschaden sei bei der Bewertung der besonderen beruflichen Betroffenheit nicht zu berücksichtigen. Das Begehren auf Erhöhung der Versehrtenrente sei daher abzuweisen.
Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es sei zwar richtig, daß beim Kläger bereits zum Unfallszeitpunkt ein genetisch fixierter Keratokonus an beiden Augen vorgelegen habe. Die unfallsbedingte Beeinträchtigung des rechten Auges habe sich aber in der Folge in keiner Weise geändert. Unabhängig von der Verletzung durch den Arbeitsunfall habe sich schicksalshaft die Sehleistung am linken Auge durch den Keratokonus verschlimmert; ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser Verschlimmerung und dem Unfall bestehe nicht. Daran ändere auch nichts, daß es sich bei den Augen um ein paariges Organ handle. Die Unfallversicherung berücksichtige nur solche Schäden, die durch Einflüsse eines Arbeitsunfalles entstanden oder verschlimmert worden seien. Der Verlust oder die Beschädigung des einen Auges trage nicht schon von vornherein den Eintritt des weiteren Schadens, die spätere Erblindung bzw Beeinträchtigung des Sehvermögens insgesamt in sich. Die Ursächlichkeit sei mit der Beschädigung des einen Auges abgeschlossen; erst ein allfälliger Verlust des zweiten Auges führe zur Erblindung, für die aber erst die Beschädigung des zweiten Auges wesentliche Ursache sei. Auch wenn der Keratokonus bereits zum Unfallszeitpunkt vorgelegen sei, handle es sich nicht um einen zu berücksichtigenden Vorschaden, da die Verschlimmerung durch diesen Vorschaden unabhängig vom Unfallereignis erfolgt und die Verschlechterung der Sehfähigkeit am linken Auge erst nach dem Unfallereignis und zwar unabhängig von diesem eingetreten sei.
Die Revision des Klägers ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsgrund der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nach § 503 Z 2 ZPO liegt nicht vor. Das Berufungsgericht hat sich ausreichend mit der Beweisrüge befaßt und ist entsprechend den Beweisergebnissen und auch dem Standpunkt des Klägers davon ausgegangen, daß der Keratokonus bereits zum Unfallszeitpunkt vorgelegen sei, was auch damit in Einklang steht, daß beim Kläger bereits im März 1973 am linken Auge eine Kurzsichtigkeit festgestellt worden war.
Unter dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache bringt der Kläger vor, daß der Keratokonus bereits zum Zeitpunkt des Unfalls vorhanden gewesen sei und sich nunmehr verschlechtert habe. Dadurch hätten sich auch die Auswirkungen der Unfallsfolgen geändert. Aufgrund der unfallbedingten Verletzung des rechten Auges im Zusammenhang mit der nunmehrigen Verschlechterung des Keratokonus am linken Auge sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 35 vH eingetreten.
Dieser Argumentation kann nicht beigetreten werden. Unter Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Fähigkeit des Versicherten zu verstehen, sich unter Ausnützung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Als Minderung der Erwerbsfähigkeit ist daher die Beeinträchtigung dieser Fähigkeit anzusehen. Für die Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit gilt das Prinzip der abstrakten Schadensberechnung: Zunächst wird die Erwerbsfähigkeit des Versicherten vor dem Unfall ermittelt. Sie wird auch dann mit 100 vH bewertet, wenn der Verletzte bereits vorgeschädigt ist und deshalb nicht mehr voll erwerbsfähig war. Ein Vorschaden steht der Gewährung einer Versehrtenrente nur dann entgegen, wenn der Verletzte bereits völlig erwerbsunfähig war, weil es in diesem Fall an einer Erwerbsfähigkeit fehlt, die durch den Arbeitsunfall gemindert werden konnte. Der vor dem Arbeitsunfall bestehende und mit 100 vH bewerteten individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten wird das nach dem Arbeitsunfall verbliebene Ausmaß seiner Erwerbsfähigkeit als Vergleichswert gegenübergestellt. Die Differenz beider Werte ergibt die MdE. Entschädigt wird also nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten vor und nach dem Arbeitsunfall. Ob der Arbeitsunfall tatsächlich zu einem Einkommensausfall führt, ist dagegen bedeutungslos; Versehrtenrente wird infolge der abstrakten Schadensberechnung auch dann gewährt, wenn kein Lohnausfall entstanden ist oder sogar ein höheres Einkommen erzielt wird (SSV-NF 9/78 ua).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist eine Vorschädigung ausnahmsweise und nur dann rechtlich von Bedeutung, wenn zwischen ihr und dem durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit verursachten Körperschaden eine funktionelle Wechselwirkung besteht. Dies gilt etwa für alle paarigen Gliedmaßen und Organe, für Organsysteme, die zueinander in funktioneller Abhänigkeit stehen oder sonst Funktionsausfälle an anderer Stelle zu ergänzen oder zu kompensieren vermögen. Auch bei Vorschäden an denselben Gliedmaßen oder demselben Organ können sich die Funktionsstörungen aus Vorschäden und Unfallschäden überschneiden. Eine Vorschädigung kann aber jedenfalls dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie keine wesentliche Bedeutung für die Unfallfolgen und deren Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit hatte (SSV-NF 5/125 unter Hinweis auf SSV-NF 2/104; vgl auch SSV-NF 9/78).
Ein rechtlich maßgeblicher Vorschaden lag jedoch beim Kläger nicht vor: Er mußte zwar nach Feststellung der Kurzsichtigkeit am linken Auge seit März 1973 eine Brille tragen, sah jedoch in der Folge mit dieser Brille an beiden Augen gut. Ein Vorschaden, der eine Minderung der Erwerbsfähigkeit bedingt hätte, bestand daher im Unfallszeitpunkt nicht. Anders zu beurteilen wäre etwa ein Versicherter, der bereits als Kind die Sehkraft auf einem Auge verloren hat und durch einen Arbeitsunfall auch auf dem anderen Auge erblindet; er könnte für den Verlust dieses einen Auges nicht mit der üblichen Dauerrente von 25 vH entschädigt werden, weil er nun durch den Unfall vollkommen blind geworden ist. Geht dagegen nach dem unfallbedingten Verlust der Sehkraft auf einem Auge die Sehkraft auch auf dem anderen Auge durch nicht mit dem Arbeitsunfall zusammenhängende Umstände verloren, so ist der Verlust der Sehfähigkeit auf dem anderen Auge keine Unfallfolge und bewirkt keine Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Die MdE wegen einer Unfallfolge ist also nicht höher zu bewerten, wenn nach der Verletzung ein unfallfremdes neues Leiden (Nachschaden) hinzukommt und die Unfallverletzung sich deshalb stärker auswirkt als zur Zeit des Eintritts der Unfallfolge. Der Schadensfall findet mit der Entschädigung für den Verlust der Sehfähigkeit des einen Auges seinen Abschluß; ein unfallunabhängiger Verlust des zweiten Auges könnte die Verhältnisse, die für die Feststellung der Unfallentschädigung maßgebend waren, nicht mehr beeinflussen (so auch die ständige Rechtsprechung des deutschen BSG:
BSGE 17, 99; 17, 114; 27, 142; ebenso die deutsche Lehre: Lauterbach, Unfallversicherung3 623/2; Schönberger/Merthens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit5 322 f; Podzun, Unfallssachbearbeiter 500, 5 und 8; Brackmann, Handbuch der SV 56. Nachtrag 568 f mwN). Tomandl (SV-System 5. ErgLfg 347 f), ist der herrschenden Auffassung mit dem Argument entgegengetreten, bei Neufestsetzung der Rente nach § 183 Abs 1 ASVG sei die wesentliche Änderung in allen tatsächlichen Verhältnissen auf den Zeitpunkt der letzten Rentenentscheidung zurückzuprojizieren und zu fragen, ob unter Zugrundelegung dieser Änderungen damals eine andere Entscheidung zu fällen gewesen wäre. Dieser Meinung ist aber mit dem BSG (BSGE 19, 201) entgegenzuhalten, daß es für die Bewertung des Ausmaßes des unfallbedingten Schadens nicht auf die Verhältnisse zu dem Zeitpunkt, in dem über den Rentenantrag entschieden wird, ankommen kann, sondern auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Eintrittes der Schädigung, weil nur auf diese Weise eine gleiche Behandlung aller durch einen vergleichbaren Arbeitsunfall Beschädigten gewährleistet ist.
Der Oberste Gerichtshof teilt daher die Auffassung, daß der Schadensfall mit der Entschädigung für den Verlust oder die Beeinträchtigung der Sehfähigkeit des einen Auges einen Abschluß gefunden hat und ein unfallunabhängiger Verlust oder eine unfallunabhängige Beeinträchtigung der Sehfähigkeit des zweiten Auges die Verhältnisse, die für die Feststellung der Unfallentschädigung maßgebend gewesen sind, nicht mehr beeinflussen kann. Da sich die Unfallfolgen durch den Nachschaden nicht verschlimmert haben, kann auch eine Neufeststellung der Leistung nicht erfolgen.
Nach Ansicht des Revisionswerbers sei dies aber anders, wenn das neue Leiden auf einem krankhaften Geschehen beruhe, das schon vor der Schädigung vorgelegen habe (so auch Burggraf/Burggraf, Grundlagen augenärztlicher Begutachtung, 474). Diesem Einwand könnte nur insoweit gefolgt werden, als für das Ausmaß der Schädigung und damit für die Bewertung der MdE gegebenenfalls auch unfallunabhängige gesundheitliche Schäden berücksichtigt werden können, die vor Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden haben (so auch BSGE 19, 201). Es wurde aber bereits oben dargelegt, daß der Kläger im Unfallszeitpunkt einen solchen Vorschaden nicht hatte, also insbesondere keine eine Minderung der Erwerbsfähigkeit begründende Sehminderung. Die Sehminderung trat erst nach dem Unfall auf, wenn auch an sich als Folge einer bereits vor dem Unfall bestehenden Disposition. Bei der erst infolge der Hornhauttransplantation am 3.1.1995 eingetretenen geminderten Sehfähigkeit des linken Auges handelt es sich aber um einen Nachschaden, der nach den obigen Darlegungen nicht zu einer Erhöhung der Unfallrente führen kann. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist die Verschlimmerung unabhängig vom Unfallereignis erfolgt und die Verschlechterung der Sehfähigkeit am linken Auge erst lange nach dem Unfallereignis und zwar unabhängig von diesem eingetreten. Die Verschlimmerung des Zustandes steht daher in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem versicherungsrechtlich geschützten Unfallereignis.
Aus diesen Gründen war der Revision ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des § 46 Abs 1 ASGG abhing, entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Kläger die Hälfte seiner Kosten des Revisionsverfahrens zuzusprechen (SSV-NF 6/61 ua).
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