OGH 2Ob2215/96s

OGH2Ob2215/96s5.9.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Unterbringungssache der am 29.November 1927 geborenen Johanna H*****, vertreten durch die Patientenanwältin Dr.Gerda Riedisser, Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft, Geschäftsstelle LNKH-Graz, 8053 Graz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Graz als Rekursgericht vom 12. Juni 1996, GZ 6 R 120/96b-12, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes für ZRS Graz vom 9.Mai 1996, GZ 19 Ub 269/96y-5, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden im Umfang der Genehmigung der besonderen Heilbehandlung mit dem Medikament Haltol decanoat aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang an das Erstgericht zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

Text

Begründung

Johanna H***** wurde am 19.4.1996 in den geschlossenen Bereich des Landesnervenkrankenhauses G***** aufgenommen. Sie hatte in ihrer Umgebung ein aggressives Verhalten gesetzt und war von paranoiden Gedankeninhalten beherrscht. Sie war bei der Erstanhörung vom 25.4.1996 gereizt bis gehemmt aggressiv. Es bestand aufgrund des verwirrten Krankheitsbildes Selbst- und Fremdgefährdung. Die Patientin lebte in der Vorstellung, daß ihre Schwiegertochter schuld am Tod ihres Sohnes trage und daß sie die Kinder der Schwiegertochter zu sich nehmen müsse. Die Schwiegertochter und deren Kinder haben Angst vor der Großmutter, sie befürchten bezüglich des jüngsten Kindes eine Entführung. Es kommt immer wieder zu gröberen Beschimpfungen. Die Wohnung von Johanna H***** war am 19.4.1996 verwahrlost und chaotisch. Am 9.5.1996 war die Patientin bewußtseinsklar und grob orientiert. Der Gedankenablauf war formal geordnet. Es bestehen aber nach wie vor Denkstörungen in Form von sensitiv-paranoiden Gedankenzügen. Die Kritikfähigkeit und der Realitätsbezug sind deutlich eingeschränkt. Die Patientin leidet an paranoider Psychose mit wechselnd auftretenden Phasen psychomotorischer Unruhe. Den Grundsätzen und Methoden der medizinischen Wissenschaft entsprechend bekam die Patientin eine Depotinjektion Haltol deconoat (Depotneuroleptikum). Die Behandlung steht zu ihrem Zwecke nicht außer dem Verhältnis. Die Patientin hatte angegeben, es einzusehen, durch diese Art der Behandlung die Entlassungsmöglichkeit zu beschleunigen. Durch die Depotinjektion ist garantiert, daß das Medikament nachträglich noch wirkt. Die Patientin ist nach wie vor der Auffassung, daß ihr Enkelkind in der häuslichen Situation nicht gut versorgt wird, es würde bei der Mutter verwahrlosen und verhungern.

In der Tagsatzung vom 9.5.1996 beantragte die Patientenanwältin, es möge ausgesprochen werden, ob die besondere Heilbehandlung in Form der Depotinjektion Haltol decanoat genehmigt werde oder nicht. Die freiwillige Einwilligung der Patientin in diese Art der Behandlung wurde von der Patientenanwältin bezweifelt.

Mit Beschluß vom 9.5.1996 erklärte das Erstgericht die Unterbringung der Patientin in der Anstalt für die Dauer von vier Wochen ab dem Beginn der Unterbringung, also bis 17.5.1996 für zulässig; weiters wurde die besondere Heilbehandlung mit dem Medikament Haltol decanoat genehmigt. Hinsichtlich dieser Genehmigung führte das Erstgericht aus, daß die bereits durchgeführte Behandlung mit einem Neuroleptikum den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft entspreche und zu ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehe. Überdies sei es plausibel, wenn die Patientin durchaus vernünftig in diese Behandlung einwilligte, da durch die Depotbehandlung garantiert werde, daß die Behandlungsfolgen auch nach einer etwaigen Entlassung andauern.

Das von der Patientenanwältin hinsichtlich der Genehmigung der besonderen Heilbehandlung angerufene Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für (jedenfalls) unzulässig.

Das Rekursgericht führte aus, daß die erfolgte Behandlung der Patientin mit dem Medikament Haltol decanoat in Form einer Depotmedikation als besondere Behandlung im Sinne des § 36 UbG anzusehen sei. Eine solche Behandlung bedürfe nach § 36 Abs 1 UbG der schriftlich erklärten Zustimmung eines solchen Patienten, welcher in der Lage sei, den Grund und die Bedeutung einer Behandlung einzusehen und seinen Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen. An dieser vom Gesetz geforderten Diskretions- und Dispositionsfähigkeit habe es der Patientin gefehlt. § 36 Abs 2 UbG sehe aber in einem Fall wie dem vorliegenden, d.h. wenn also ein Sachwalter für den Patienten nicht bestellt sei, die Genehmigung der Heilbehandlung durch das Gericht vor. Eine solche sei mit dem angefochtenen Beschluß erfolgt. Daß die Heilbehandlung medizinisch nicht gerechtfertigt gewesen sei, sei von der Patientenanwältin gar nicht geltend gemacht worden.

Der ordentliche Revisionsrekurs wurde mangels Vorliegens einer Rechtsfrage erheblicher Bedeutung nicht zugelassen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Patientenanwältin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß die besondere Heilbehandlung (vierwöchige Depotinjektion mit Haltol decanoat) für unzulässig erklärt werde.

Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht zu Unrecht die Möglichkeit einer nachträglichen Genehmigung einer besonderen Heilbehandlung angenommen hat, er ist im Sinne des im Abänderungsantrag enthaltenen Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Die Patientenanwältin macht in ihrem Rechtsmittel geltend, es sei im vorliegenden Fall ohne Zweifel vom Vorliegen einer besonderen Heilbehandlung auszugehen. Diese hätte gemäß § 36 Abs 1 UbG der schriftlichen Zustimmung der Patientin bedurft. Es sei zwar eine schriftliche Erklärung von der Patientin abgegeben worden, doch sei dies nur deshalb geschehen, weil der Patientin von ärztlicher Seite diese Einwilligung als Bedingung für eine baldige Entlassung dargestellt worden sei. Es liege daher keine rechtswirksame Zustimmung der Patientin vor. Es seien auch Kritikfähigkeit und Realitätsbezug der Patientin deutlich herabgesetzt gewesen. Es hätte daher die besondere Heilbehandlung der vorhergehenden Genehmigung durch das Unterbringungsgericht bedurft. Eine rückwirkende Genehmigung der besonderen Heilbehandlung sei nicht zulässig; vielmehr hätte die Unzulässigkeit der besonderen Heilbehandlung wegen fehlender Zustimmung der Patientin und wegen Fehlens eines gerichtlichen Beschlusses ausgesprochen werden müssen.

Diese Ausführungen sind grundsätzlich zutreffend:

Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung sind die vom Staat im Unterbringungsgesetz gewährten Rechtsschutzeinrichtungen im Lichte der in den Bestimmungen der EMRK festgelegten Individualrechte dahin auszulegen, daß derjenige, der behauptet in seinen Rechten auf Achtung der Menschenwürde (Art 3 EMRK) sowie in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art 5 EMRK) verletzt zu sein, auch noch nach Beendigung der gegen ihn gesetzten Maßnahme, also nach bereits erfolgter Behandlung oder besondere Heilbehandlung, ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat, ob die an ihm vorgenommene Behandlung zu Recht erfolgte (RdM 1996, 23; RdM 1995, 17; SZ 65/92 ua). Dabei ist eine rückwirkende gerichtliche Genehmigung einer bereits durchgeführten Heilbehandlung nicht auszusprechen, wohl aber über Verlangen des Patienten oder seines Vertreters festzustellen, daß eine solche durchgeführte Maßnahme gesetzwidrig war (6 Ob 631/93). Die im vorliegenden Fall erfolgte nachträgliche "Genehmigung" der besonderen Heilbehandlung ist daher durch das Unterbringungsgesetz nicht gedeckt, vielmehr ist die Gesetzmäßigkeit der durchgeführten Maßnahme zu überprüfen.

Gemäß § 36 UbG bedarf eine besondere Heilbehandlung dann, wenn der Patient im Hinblick auf die geplante Maßnahme einsichts- und urteilsfähig ist, seiner schriftlichen Zustimmung. Ist der Patient nicht einsichts- und urteilsfähig, so bedarf die Behandlung bei Personen unter Sachwalterschaft der schriftlichen Zustimmung des Sachwalters, bei Personen ohne gesetzlichen Vertreter oder Erziehungsberechtigten der vorherigen Genehmigung des Unterbringungsgerichts. Im vorliegenden Fall liegt zwar eine Zustimmungserklärung der Patientin vor, doch fehlte es dieser an der erforderlichen Einsicht- und Urteilsfähigkeit. Die Einsichtsfähigkeit setzt jedenfalls die Fähigkeit zur Erkenntnis der relevanten Tatsachen und Wirkungszusammenhänge voraus; die Entscheidung zur Zustimmung muß auf einer zutreffenden Einschätzung der realen Situation beruhen. Fehlt dem Patienten die Krankheitseinsicht, ist er sich also gar nicht bewußt, an einer psychischen Krankheit zu leiden, dann mangelt es ihm auch an der Fähigkeit, "Grund und Bedeutung" der psychiatrischen Behandlung einzusehen (Kopecky, Unterbringungsrecht II, 819 f). Geht man von den Feststellungen des Erstgerichtes aus, dann fehlte es der Patientin an dieser Krankheitseinsicht, war doch ihr Realitätsbezug deutlich gestört.

Es kann aber, ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichtes, noch nicht abschließend gesagt werden, ob eine besondere Heilbehandlung im Sinne des § 36 UbG erfolgte. Ob eine solche vorliegt, hängt davon ab, in welchem Maß die Behandlung geeignet ist, die physische oder psychische Verfassung des Kranken zu beeinträchtigen. Ist mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen wie etwa erheblichen Nebenwirkungen zu rechnen, so liegt eine besondere Heilbehandlung im Sinne der zit Gesetzesbestimmung vor (RdM 1995, 17). Die Langzeitwirkung stellt für sich genommen kein Beurteilungskriterium dar, sondern ist eine Gesamtbetrachtung aller Wirkungen maßgeblich. Depotbehandlungen, die mit schweren Nebenwirkungen verbunden sind oder deren Wirkungsdauer die vorgesehene Unterbringungsdauer übersteigt, sind jedenfalls besondere Heilbehandlungen (Kopecky, aaO, 834 f). Der Entscheidung des Erstgerichtes ist aber lediglich zu entnehmen, daß eine Depotbehandlung mit dem Neuroleptikum Haltol decanoat erfolgte, es wurden aber keine Feststellungen getroffen über deren Wirkungsdauer und die damit verbundenen Nebenwirkungen. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren zu klären haben, in welchem Maß die Depotinjektion geeignet war, die physische oder psychische Verfassung der Kranken zu beeinträchtigen bzw werden Feststellungen über die Wirkungsdauer zu treffen sein. Sollte die Beeinträchtigung schwerwiegend sein oder die Wirkungsdauer die vorgesehene Unterbringungsdauer übersteigen, so wird festzustellen sein, daß die der Patientin verabreichte Depotinjektion als besondere Heilbehandlung im Sinne des § 36 Abs 2 UbG nur nach Genehmigung des Gerichtes zulässig gewesen wäre.

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