Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:
Das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, der Klägerin vom 5.8. bis 28.8.1995 Wochengeld im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.
Der beklagten Partei wird aufgetragen, der Klägerin für den genannten Zeitraum eine vorläufige Zahlung von S 200,-- täglich, also insgesamt S 4.800,-- binnen 14 Tagen zu erbringen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin die mit S 4.050,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 667,64 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin war zuletzt seit 3.7.1991 aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses als Angestellte bei der Beklagten zur Krankenversicherung gemeldet. Der voraussichtliche Entbindungstermin für die Klägerin war der 9.6.1995. Der Tag des Eintrittes des Versicherungsfalls der Mutterschaft war demnach der 14.4.1995. Tatsächlich brachte die Klägerin am 8.5.1995 Zwillinge zur Welt. Sie bezog von der Beklagten Wochengeld für den Zeitraum 14.4.1995 (8 Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung) bis 4.8.1995 (insgesamt daher genau 16 Wochen).
Mit Bescheid der Beklagten vom 29.6.1995 wurde der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Wochengeld über den 4.8.1995 hinaus gemäß § 162 Abs 2 ASVG abgelehnt. Die Beklagte begründete dies damit, daß der Klägerin ohnehin die im Mutterschutzgesetz (MSchG) vorgesehene Insgesamtschutzfrist von 16 Wochen zugekommen sei. Auch die bei Mehrlingsgeburten zu gewährende Frist von 12 Wochen nach der Entbindung sei eingehalten worden.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage auf Gewährung des Wochengeldes auch für den Zeitraum vom 5.8. bis 28.8.1995. Das Klagebegehren wird auf die Rechtsansicht gestützt, daß nicht von einer Insgesamtdauer von 16 Wochen auszugehen sei, sondern vielmehr von einer Verlängerung auf 16 Wochen nach der Entbindung im Ausmaß der Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wiederholte ihren im Bescheid eingenommenen Rechtsstandpunkt.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und schloß sich der Rechtsauffassung der Beklagten an.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Im Normalfall betrage die Schutzfrist und der nach § 162 Abs 2 ASVG davon abhängige Wochengeldbezug vor und nach der Entbindung insgesamt 16 Wochen. Bei Mehrlingsgeburten bleibe jedenfalls die 12wöchige Schutzfrist nach der Entbindung gewahrt. Im Falle einer Verkürzung der achtwöchigen Schutzfrist vor der Geburt verlängere sich die gesamte Schutzfrist auf höchstens 16 Wochen. Der Klägerin stehe daher über den 4.8.1995 hinaus kein Anspruch auf Wochengeld zu.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen dieses Urteil von der Klägerin erhobene Revision ist berechtigt.
Weiblichen Versicherten gebührt nach § 162 Abs 1 ASVG für die letzten acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung, für den Tag der Entbindung und für die ersten acht Wochen nach der Entbindung ein tägliches Wochengeld. Weibliche Versicherte nach Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen erhalten das Wochengeld nach der Entbindung durch 12 Wochen. Über die vorstehenden Fristen vor und nach der Entbindung hinaus gebührt das Wochengeld ferner für jenen Zeitraum, während dessen Dienstnehmerinnen und Bezieherinnen einer Leistung nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 aufgrund besonderer Vorschriften des Mutterschutzrechtes im Einzelfall aufgrund des Zeugnisses eines Arbeitsinspektionsarztes oder eines Amtsarztes nicht beschäftigt werden dürfen, weil Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung gefährdet wäre. Nach § 162 Abs 2 ASVG wird die Achtwochenfrist vor der voraussichtlichen Entbindung aufgrund eines ärztlichen Zeugnisses berechnet. Erfolgt die Entbindung zu einem anderen als den vom Arzt angenommenen Zeitpunkt, so verkürzt oder verlängert sich die im Abs 1 vorgesehene Frist vor der Entbindung entsprechend. Die Frist nach der Entbindung verlängert sich jedoch in jedem Fall bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Beschäftigungsverbot nach den Vorschriften des Mutterschutzrechtes endet.
Werdende Mütter dürfen nach § 3 Abs 1 MSchG in den letzten acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung (Achtwochenfrist) nicht beschäftigt werden. Die Beschäftigungsverbote nach der Entbindung sind im § 5 MSchG geregelt. § 5 Abs 1 MSchG hatte in der Fassung vor dem arbeitsrechtlichen Begleitgesetz (ArbBG, BGBl 1992/833) folgenden Wortlaut:
"Dienstnehmerinnen dürfen bis zum Ablauf von acht Wochen nach ihrer Entbindung nicht beschäftigt werden. Bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen beträgt diese Frist 12 Wochen. Ist eine Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung eingetreten, so verlängert sich die achtwöchige Schutzfrist nach der Entbindung im Ausmaß dieser Verkürzung, höchstens jedoch auf 12 Wochen."
Durch Art I Z 7 ArbBG erhielt § 5 Abs 1 folgenden Wortlaut:
"Dienstnehmerinnen dürfen bis zum Ablauf von acht Wochen nach ihrer Entbindung nicht beschäftigt werden. Bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen beträgt diese Frist mindestens 12 Wochen. Ist eine Verkürzung der Achtwochenfrist (§ 3 Abs 1) vor der Entbindung eingetreten, so verlängert sich die Schutzfrist nach der Entbindung im Ausmaß dieser Verkürzung, höchstens jedoch auf 16 Wochen."
Dazu führten die Gesetzesmaterialien (735 BlgNR 18.GP 22) folgendes aus:
"Gemäß §§ 3 Abs 1 und 5 Abs 1 dauert die Schutzfrist und damit der Wochengeldbezug vor und nach der Entbindung im Normalfall insgesamt 16 Wochen. Bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten und Kaiserschnittentbindungen, auch wenn sie zwischen der 36. und 40. Schwangerschaftswoche erfolgen, bleibt jedenfalls die 12wöchige Schutzfrist nach der Entbindung gewahrt. Erfolgt die Geburt vor der Schutzfrist (7-Monats-Kind) bzw zwischen Beginn der Schutzfrist und vier Wochen vor dem voraussichtlichen Geburtstermin, verlängert sich zwar die Schutzfrist nach der Geburt, höchstens jedoch auf 12 Wochen. Dies wurde von jenen Frauen, die davon betroffen sind, als sozialpolitisch verfehlte Regelung empfunden, da gerade sie die Problemfälle darstellen, etwa im Hinblick auf ihre eigene angegriffene Gesundheit oder die besondere Pflegebedürftigkeit von extremen Frühgeburten, insbesondere wenn es sich um Mehrlinge handelt. Der Entwurf sieht daher nunmehr für alle Fälle der Verkürzung der Schutzfrist vor der Entbindung ebenso wie für den Normalfall eine Insgesamtdauer von 16 Wochen vor, um auch diese besonders gravierenden Fälle nicht schlechter zu behandeln als die Normalfälle."
Während also der Text des novellierten § 5 Abs 1 Satz 3 MSchG dahin lautet, daß sich die Schutzfrist nach der Entbindung im Ausmaß einer vor der Entbindung eingetretenen Verkürzung der Achtwochenfrist höchstens auf 16 Wochen verlängert, also auf 16 Wochen nach der Entbindung (wofür auch die Überschrift des § 5 MSchG "Beschäftigungsverbote nach der Entbindung" spricht), könnten die zitierten Gesetzesmaterialien dahin verstanden werden, daß § 5 Abs 1 Satz 3 MSchG der Frau im Falle einer Verkürzung der Schutzfrist vor der Geburt höchstens eine gesamte Schutzfrist (vor und nach der Geburt) von 16 Wochen einräumt. Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch ein Rechtssatz, der im Gesetz nicht einmal angedeutet ist, sondern nur in den Materialien steht, nicht durch Auslegung Geltung erlangen (Judikaturnachweise bei Bydlinski in Rummel ABGB Rz 25 zu § 6). Nach Wortlaut und Normzweck ist § 5 Abs 1 Satz 3 MSchG vielmehr so auszulegen, daß die Schutzfrist nach der Entbindung seit 1.1.1993 (Novellierung durch das ArbBG) höchstens 16 Wochen beträgt und insgesamt, also unter Einbeziehung der Schutzfrist vor der Entbindung, länger als 16 Wochen sein kann. Nach der bis 31.12.1992 geltenden Regelung war die Höchstdauer der Schutzfrist nach der Entbindung mit 12 Wochen begrenzt. Dies wurde aber von Frauen, deren Kind vor der Schutzfrist oder in der ersten bis vierten Woche der Schutzfrist geboren wurde, als sozialpolitisch verfehlte Regelung empfunden, insbesondere deswegen, weil im Normalfall der Mutter insgesamt 16 Wochen Schutzfrist zustehen. Bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen wurde die zwölfwöchige Frist auf eine "mindestens" zwölfwöchige Frist geändert; die Schutzfrist nach der Entbindung wurde von bisher höchstens 12 Wochen auf nunmehr höchstens 16 Wochen verlängert. Die Berechnung ist jeweils so vorzunehmen, daß die Verkürzung der Schutzfrist vor der Geburt (§ 3 Abs 1) zu den in § 5 Abs 1 Sätze 1 und 2 MSchG angeführten Fristen hinzuzurechnen ist, wobei die Höchstdauer nach der Entbindung mit 16 Wochen begrenzt ist. Dem Ausgleich für eine nicht konsumierte Schutzfrist vor der Entbindung liegt der Gedanke zugrunde, der besonderen physischen und psychischen Situation Rechnung zu tragen, der die Arbeitnehmerin vor und nach der Entbindung ausgesetzt ist (Knöfler, MSchG11 [1996] 135 f Erl.3 zu § 5 mit zahlreichen Beispielen). Demnach ist also nicht eine Gesamtdauer des Wochengeldbezuges von 16 Wochen maßgeblich, sondern es ist entscheidend, daß die Verlängerung der nach der Geburt liegenden Schutzfrist nur im Ausmaß der durch die Geburt stattgefundenen Verkürzung der Achtwochenfrist des § 3 Abs 1 MSchG höchstens auf 16 Wochen erfolgen darf (ebenso 10 ObS 2249/96z). Erfolgt also etwa eine Kaiserschnittentbindung drei Wochen vor dem errechneten Termin, beträgt die Schutzfrist nach der Entbindung 12 + 3, also 15 Wochen. Erfolgt die Kaiserschnittentbindung hingegen sieben Wochen vor dem errechneten Termin, beträgt die Schutzfrist nach der Entbindung allerdings nur 16 und nicht 19 Wochen, weil eben die Höchstgrenze der Schutzfrist nach der Entbindung mit 16 Wochen festgelegt wurde und in diesem Fall nicht die volle Verkürzung vor der Geburt nach der Geburt "nachgeliefert" wird (Knöfler aaO 136).
Mit diesem Auslegungsergebnis steht auch die bisherige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht im Widerspruch. In mehreren Entscheidungen (SSV-NF 3/85 = DRdA 1990, 218, SSV-NF 6/32, 8/97 = DRdA 1995, 327; 10 ObS 260/94, 10 ObS 50/95) wurde ausgesprochen, daß nur die Verkürzung des absoluten Beschäftigungsverbotes des § 3 Abs 1 MSchG zu einer Verlängerung der Schutzfrist nach der Entbindung führe, nicht jedoch eine Verkürzung des individuellen Beschäftigungsverbotes des § 3 Abs 3 MSchG, wenn damit nicht auch die Achtwochenfrist des § 3 Abs 1 MSchG verkürzt worden sei. Die im vorliegenden Fall zu lösende Rechtsfrage stand in all den früheren Entscheidungen nicht zur Diskussion. Soweit sich aus den Begründungen der zitierten Entscheidungen eine andere Rechtsauffassung ableiten ließe, könnte diese nicht aufrecht erhalten werden.
Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich, daß eine Verkürzung der Achtwochenfrist des § 3 Abs 1 MSchG vor der Entbindung um vier Wochen und vier Tage eingetreten ist, weil die Entbindung bereits am 8.5. und nicht wie erwartet am 9.6.1995 erfolgte. Die Schutzfrist von 12 Wochen nach der Entbindung wegen der Mehrlingsgeburt verlängerte sich im Ausmaß dieser Verkürzung dh um vier Wochen und vier Tage. Daraus errechnet sich ein gesamter Anspruch auf Wochengeld für 16 Wochen nach der Entbindung, wobei lediglich der überschießende Teil von vier Tagen bei der Berechnung nicht zu berücksichtigen ist. Der letzte Tag des Anspruches auf Wochengeld aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft ist somit der 28.8.1995. Da der Klägerin bisher Wochengeld nur bis zum 4.8.1995 zuerkannt wurde, war ihrem Klagebegehren in Abänderung der Urteile der Vorinstanzen vollinhaltlich stattzugeben. Die Auferlegung einer vorläufigen Zahlung beruht auf § 89 Abs 2 ASGG; die Tatsacheninstanzen haben keine Feststellungen getroffen, aus denen sich die Höhe des der Klägerin gebührenden täglichen Wochengeldes errechnen ließe.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Danach gebühren der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens. Kosten des Berufungsverfahrens wurden nicht geltend gemacht. Die in der Klage unter dem Titel "Aufwandersatz S 1.700,--" verzeichneten Kosten können mangels einer Rechtsgrundlage nicht zugesprochen werden. Das Bundesgesetz BGBl 1993/28 über den Aufwandersatz von gesetzlichen Interessenvertretungen und freiwilligen kollektivvertragsfähigen Berufsvereinigungen in Arbeitsrechtssachen (Aufwandersatzgesetz) sieht einen pauschalierten Aufwandersatz nur in Rechtsstreitigkeiten nach § 50 Abs 1 ASGG vor, nicht aber in Sozialrechtssachen nach § 65 ASGG.
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