Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 18.8.1944 geborene Klägerin bezieht seit 1.10.1991 eine Berufsunfähigkeitspension von der beklagten Partei; sie betrug bei Zuerkennung S 6.151,40 brutto. Sie leidet an einer hochgradigen Kurzsichtigkeit beider Augen mit entsprechenden Veränderungen des Augenhintergrundes und Herabsetzung des Sehvermögens auf 0,05 bzw 0,1. Sie hat ihr Sehvermögen soweit eingebüßt, daß sie sich zwar in nicht vertrauter Umgebung alleine zurechtfinden kann, jedoch trotz der gewöhnlichen Hilfsmittel zu wenig sieht, um den Rest ihres Sehvermögens wirtschaftlich verwerten zu können. Die Gesichtsfeldeinschränkung ist durch eine sehr hohe Dioptrienzahl bedingt. Die Arbeiten im Haushalt sind für die Klägerin ausgeschlossen; sie kann auch nicht alleine ausgehen. Der Zustand besteht seit Mai 1994 und ist nicht besserungsfähig.
Mit Bescheid vom 16.5.1994 wies die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 7.2.1994 auf Zuerkennung eines Pflegegeldes ab. Sie könne die dauernd wiederkehrenden lebensnotwendigen Verrichtungen selbst besorgen.
Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin Pflegegeld der Stufe 2 ab dem 1.5.1994 zu gewähren und eine vorläufige Zahlung von S 3.500 monatlich zu erbringen. Das Mehrbegehren für den Zeitraum 1.2.1994 bis 30.4.1994 wurde (rechtskräftig) abgewiesen. Die Klägerin sei hochgradig sehbehindert im Sinne des § 7 Abs 2 EinstV.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Es übernahm die (oben gekürzt wiedergegebenen) Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens und folgte auch dessen rechtlicher Beurteilung. Da die Klägerin als hochgradig sehbehindert iSd § 7 Abs 2 EinstV eingestuft werden müsse, sei ihr Pflegebedarf gemäß § 7 Abs 1 Z 1 EinstV von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG anzunehmen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Beklagten ist im Ergebnis nicht berechtigt.
Nach Auffassung der Revisionswerberin sei die Anwendung von Rechtsnormen, welche die Zuerkennung von Pflegegeld höherer Stufen (als Stufe 2) zum Inhalt haben, also hier § 7 EinstV, im sozialgerichtlichen Verfahren bis 30.6.1995 nicht vorgesehen, weil nach der bei Schluß der Verhandlung vor dem 1.7.1995 geltenden Rechtslage lediglich Rechtsanspruch auf Pflegegeld der Stufen 1 und 2 bestanden habe (§ 4 Abs 4 BPGG aF).
Diesem bereits in der Berufung vorgebrachten, vom Berufungsgericht jedoch mit Stillschweigen übergangenen Einwand ist zu erwidern, daß § 7 Abs 1 EinstV an sich gar nichts darüber aussagt, welche Stufe des Pflegegeldes gebührt: es legt im Sinne der Verordnungsermächtigung des § 4 Abs 5 BPGG aF (nunmehr § 4 Abs 3) "Mindesteinstufungen für bestimmte Gruppen von behinderten Personen mit einem weitgehend gleichartigen Pflegebedarf" auf die Weise fest, daß bei hochgradig sehbehinderten Personen Pflegebedarf in einem Mindestausmaß von durchschnittlich mehr als 120 Stunden monatlich ohne weitere Prüfung nach § 4 BPGG anzunehmen ist (§ 7 Abs 1 Z 1 EinstV). Daß vor dem 1.7.1995 (BGBl 1995/131) kein Rechtsanspruch auf ein die Stufe 2 übersteigendes Pflegegeld bestand, bedeutet nicht, daß nicht dennoch ein wesentlich höherer Pflegebedarf als dem der Stufe 2 entsprechenden festgestellt werden konnte. Die Ermittlung des Pflegebedarfes in Stunden pro Monat konnte stets völlig unabhängig davon erfolgen, ob auf ein diesem Stundensatz entsprechendes Pflegegeld Anspruch bestand. Der Standpunkt der Beklagten, alle Normen der EinstV, die zu einem höheren Pflegegeld als dem der Stufe 2 geführt hätten, wären vor dem 1.7.1995 unanwendbar gewesen, kann daher nicht geteilt werden.
Zutreffend verweist die Revisionswerberin darauf, daß die aus dem Versorgungsrecht übernommene (Pfeil, Pflegevorsorge 199) Definition des § 7 Abs 2 EinstV ("Als hochgradig sehbehindert gilt, wer das Sehvermögen so weit eingebüßt hat, daß er sich zwar in nicht vertrauter Umgebung allein zurechtfinden kann, jedoch trotz der gewöhnlichen Hilfsmittel zu wenig sieht, um den Rest an Sehvermögen wirtschaftlich verwerten zu können") ziemlich unklar und daher auslegungsbedürftig ist. Ob jemand sein Sehvermögen noch "wirtschaftlich verwerten" kann, ist dabei zweifellos keine reine Tatfrage, wie dies offenbar die Vorinstanzen angenommen haben. Eine nähere Erörterung dieses Problems kann aber im vorliegenden Fall aus folgenden Gründen auf sich beruhen:
Selbst wenn man den Pflegebedarf der Klägerin, dem Standpunkt der Beklagten folgend, nicht nach § 7 EinstV, sondern nach § 4 Abs 1 und 2 BPGG aF (nur Z 1 und 2) unter Bedachtnahme auf §§ 1 bis 5 EinstV ermittelt, ergibt sich kein von der Beurteilung der Vorinstanzen abweichendes Bild.
Nach den vom Berufungsgericht ausdrücklich übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes wurde der Pflegebedarf der Klägerin dahin konkretisiert, daß für sie die (also alle) Arbeiten im Haushalt ausgeschlossen sind und sie auch nicht alleine ausgehen kann. Daraus folgt aber nicht nur ein Hilfsbedarf nach § 2 EinstV, also jeweils 10 Stunden für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche, die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn, sondern zumindest darüberhinaus auch noch ein Betreuungsbedarf für die Zubereitung von Mahlzeiten im Mindestausmaß von 1 Stunde täglich (§ 1 Abs 4 EinstV). Ist die Klägerin nämlich von allen Haushaltsarbeiten ausgeschlossen, dann kann mangels abweichender Feststellungen davon ausgegangen werden, daß sie auch nicht in der Lage ist, täglich eine ordentlich gekochte warme Mahlzeit zuzubereiten (vgl insb. SSV-NF 8/74 und 8/104; auch Pfeil, Pflegevorsorge 187 mwN). Unter Hinzuzählung von 30 Stunden pro Monat aus diesem Titel errechnet sich aber ein durchschnittlicher Pflegebedarf der Klägerin von mehr als 75 Stunden monatlich, sodaß auch unter Zugrundelegung des Rechtsstandpunktes der Beklagten die Voraussetzungen für das Pflegegeld der Stufe 2 gegeben sind.
Auf die weitere Frage, welche Bedeutung den vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 26.5.1994 zu Zl 48.100/16-2a/94 versendeten "Ärztlichen Begutachtungsrichtlinien im Rahmen des BPGG" (sog. "Konsensuspapier" zur Vereinheitlichung der ärztlichen Begutachtung nach dem BPGG) zukommt, braucht im vorliegenden Fall nicht eingegangen zu werden.
Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.
Kosten des Revisionsverfahrens wurden nicht verzeichnet.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)