OGH 10ObS200/95

OGH10ObS200/9514.11.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Mag.Dr.Friedrich Hötzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Rudolf Schleifer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria D*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Arnulf Summer und Dr.Nikolaus Schertler, Rechtsanwälte in Bregenz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension (Weitergewährung) infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25.Juli 1995, GZ 5 Rs 52/95-27, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 22.Februar 1995, GZ 33 Cgs 9/94i-23, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das Urteil der ersten Instanz wiederhergestellt wird.

Die Beklagte hat der Klägerin binnen vierzehn Tagen die einschließlich 676,48 S Umsatzsteuer mit 4.058,88 S bestimmten Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin bezog von der Beklagten vom 1.3. bis 31.10.1993 eine befristete Invaliditätspension wegen vorübergehender Invalidität. Mit Bescheid vom 15.12.1993 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung vom 1.9.1993 ab.

Die rechtzeitige Klage richtet sich auf Weitergewährung der Invaliditätspension. Sie stützt sich darauf, daß die Klägerin ihren angelernten Beruf als Kellnerin aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben könne.

Die Beklagte bestritt den behaupteten Berufsschutz und beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagte zur Weitergewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.11.1993 und trug der Beklagten ab diesem Tag eine vorläufige monatliche Zahlung von 8.350 S brutto auf.

Nach den unbekämpft gebliebenen erstgerichtlichen Tatsachenfeststellungen arbeitete die am 10.8.1953 geborene Klägerin nach der Pflichtschule zunächst als Haus- und Zimmermädchen und von 1974 bis 1992 als Kellnerin, und zwar seit Februar 1977 in einem Landgasthof in Hard (Vorarlberg). Durch diese Tätigkeit eignete sie sich innerhalb von etwa drei Jahren ca 85 % der Kenntnisse und Fähigkeiten einer gelernten Kellnerin an. So beherrscht sie korrektes Tischdecken, ist in der Lage, Gäste über Getränke und Menüzusammenstellung zu beraten und bei der Erstellung der Wein-, Getränke- und Tageskarte mitzuwirken. Hingegen fehlen ihr Kenntnisse über die Herstellung von Mischgetränken, die Diätküche, das Flambieren, Tranchieren und Filetieren. Auf Grund ihrer durch praktische Arbeit erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten ist sie in der Lage, den Anforderungen, die in einem Landgasthof oder in einem Ein- bis Drei-Sterne-Restaurant an gelernte Kellner und Kellnerin gestellt werden, zu genügen. Auch in solchen Betrieben werden gelernte Kellner und Kellnerinnen eingesetzt. Für ein Vier- oder Fünf-Sterne-Haus reichen ihre Kenntnisse und Fähigkeiten jedoch nicht aus. In solchen Häusern ist es durchaus üblich, daß der Kellner (die Kellnerin) am Tisch flambiert, tranchiert und filetiert. Die Klägerin kann den Beruf einer Kellnerin wegen ihres seit dem 1.11.1993 bestehenden körperlichen Zustandes in keiner auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gefragten Variante ausüben; sie könnte aber noch als Webgutkontrollarbeiterin tätig sein.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei die Klägerin überwiegend im angelernten Beruf einer Kellnerin tätig gewesen und gelte deshalb als invalid im Sinne des § 255 Abs 1 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten, in der nur eine Rechtsrüge erhoben wurde, Folge und änderte das erstgerichtliche Urteil durch Abweisung des Klagebegehrens ab.

Das Gericht zweiter Instanz vertrat die Rechtsansicht, daß die Klägerin von jenen Betrieben ausgeschlossen sei, in denen die im Lehrberuf vermittelten, von ihr jedoch nicht beherrschten Kenntnisse verlangt würden. Wenn diese auch nur 15 % der Berufskenntnisse ausmachten und nur in speziellen Fachbetrieben gefragt seien, würden sie doch einen wesentlichen Teil bilden. Deshalb sei die Frage der Invalidität der Klägerin nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen und zu verneinen.

In der Revision macht die Klägerin unrichtige rechtliche Beurteilung (der Sache) geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil "aufzuheben und das Urteil des Erstgerichtes zu bestätigen" (richtig: durch Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichtes abzuändern) oder es allenfalls aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die unbeantwortet gebliebene Revision ist nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 der zit Gesetzesstelle zulässig; sie ist auch berechtigt.

Nach der stRsp des erkennenden Senates ist Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der (die) Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild eines Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß er (sie) über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Hingegen reicht es nicht aus, wenn sich die Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in einem viel weiteren Umfang beherrscht wird (zB SSV-NF 5/122 und 7/108, jeweils mwN).

In der auch in der Revision erwähnten letztgenannten E bejahte der Oberste Gerichtshof die Frage, ob der damalige Kläger bei Berücksichtigung des Berufsbildes "Universalschweißer" über jene Kenntnisse und Fähigkeiten verfügte, die üblicherweise von gelernten Universalschweißern in den auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Berufes verlangt werden. Auch wenn er die eine oder andere in der Praxis eher untergeordnete Schweißtechnik, wie etwa das Kaltpreßschweißen, nicht beherrsche und auch keine Kenntnisse im Fachzeichnen und Fachrechnen habe, könne doch keine Rede davon sein, daß sich seine Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf ein oder mehrerer Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränkten, der von ausgelernten Universalschweißern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht werden. Nach den Feststellungen sei es nämlich in der Praxis teilweise nicht notwendig, daß der Schweißer Berechnungen und Zeichnungen selbst anfertige; es genüge, daß er sie lesen könne. Obwohl es sich beim Fachrechnen und Fachzeichnen um Prüfungsgegenstände iS der Prüfungsordnung für die Lehrabschlußprüfung handle, könne dem Fehlen solcher Kenntnisse (bei der Beurteilung der Anlernung) im Hinblick auf die erwähnte Praxis keine entscheidende Bedeutung zukommen.

Die ebenfalls von der Revisionswerberin genannte E SSV-NF 7/129 betraf eine Versicherte, die den Küchenbetrieb eines Jugendhortes weitgehend selbständig geleitet hatte. Dort wurde das Mitagessen (österreichische Hausmannskost) für etwa 120 bis 130 Kinder zubereitet. Festgestellt war, daß die überwiegende Zahl der Köche mit der Herstellung von Speisen und Speisenteilen einfacher bis durchschnittlicher Art befaßt sei, wie sie vom einfachen Gasthof bis zum 3-Sterne-Restaurant allgemein angeboten würden. Die Auswahl der Speisen könne zwar vielfältig sein, die Speisen seien aber in der breiten Konsumentenschaft allgemein bekannt und wiederholten sich auf der Speisekarte immer wieder. Auch die Nebenspeisen seien eher wenig abwechslungsreich. In Häusern mit exquisiter Küche gebe es wegen der Qualität und der Vielfalt des Speisenangebotes eine sehr große Zahl von Köchen, die mit ihren Hilfskräften zu Brigaden zusammengefaßt seien und weitgehend spezialisiert und arbeitsteilig arbeiteten. Der erkennende Senat war der Meinung, daß die damalige Klägerin als angelernte Köchin anzusehen sei. Daß in diesem Betrieb nur Hausmannskost zubereitet worden sei, stelle keinen wesentlichen Unterschied zu einer Vielzahl von gelernten Köchen dar, die in überwiegender Zahl in Betrieben tätig seien, in denen nur Speisen einfacher und durchschnittlicher Art (Hausmannskost) zubereitet würden. Auch gelernte Köche, die in Jugendheimen, Erholungsheimen, Internaten etc beschäftigt werden, beschränkten sich auf die Tätigkeiten, die von der Klägerin ausgeübt worden seien. Diese habe daher eine Tätigkeit verrichtet, für die Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich seien, die das Berufsbild der überwiegenden Zahl der gelernten Köche ausmachten.

Die Revisionswerberin weist zutreffend darauf hin, daß ihr Fall den den E SSV-NF 7/108 und 129 zugrundeliegenden Fällen ähnlich ist. Hier geht es um eine Kellnerin in einem nicht der gehobenen Gastronomie angehörenden Landgasthof, die nur die Kenntnisse und Fähigkeiten eines (einer) dort tätigen Kellners (Kellnerin) benötigte. Die an die Klägerin gestellten beruflichen Anforderungen unterschieden sich daher nicht von denen, die an die in vielen vergleichbaren Betrieben beschäftigten gelernten Kellner und Kellnerinnen gestellt werden. Daß ein Kellner bzw eine Kellnerin beim Servieren am Tisch Fleisch, Geflügel oder Fisch mit Tranchier- oder Filetbesteck auslösen und (besondere) Mischgetränke zubereiten kann, wird nur in Betrieben der gehobenen Gastronomie gefordert, in denen nur ein Teil dieser Berufsgruppe tätig ist, nicht aber von den vielen Kellnern und Kellnerinnen, die in allen übrigen Gastronomiebetrieben (Landgasthöfen und 1- bis 3-Sterne-Restaurants etc) beschäftigt sind. Deshalb handelt es sich nicht um eine allgemeine Anforderung in dieser Berufsgruppe.

Damit ist die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes, daß die Klägerin überwiegend eine Tätigkeit ausgeübt hat, für die es erforderlich war, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen im erlernten Beruf Kellner/Kellnerin gleichzuhalten sind (§ 255 Abs 2 ASVG), und daß ihre daher nach Ab 1 leg cit zu beurteilende Invalidität nach Ablauf des 31.10.1993 weiterbesteht und die Pension ab 1.11.1993 weiter zuzuerkennen ist (§ 256 ASVG), richtig.

Das angefochtene Urteil ist deshalb durch Wiederherstellung des Urteils der ersten Instanz abzuändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG (Kostenbemessungsgrundlage 50.000 S).

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