OGH 1Ob618/95

OGH1Ob618/9517.10.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Manfred K*****, 2.) Kay M*****, 3.) Elisabeth K*****, 4.) Ewald N*****, 5.) Suna I*****, 6.) Gertrude Waltraud U*****, alle *****, 7.) Hubert W*****, 8.) Werner Z*****, alle vertreten durch Dr.Manfred Melzer, Dr.Erich Kafka, Dr.Manfred Palkovits, Dr.Robert Steiner, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Raimund L*****, vertreten durch Dr.Ernestine Behal, Rechtsanwalt in Wien, wegen Aufkündigung, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 12.Jänner 1995, GZ 49 R 356/94-21, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 22.Juli 1994, GZ 42 C 440/93-13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß die Aufkündigung vom 30.8.1993 aufgehoben und das Klagebegehren, der Beklagte sei schuldig, die Wohnung im Haus *****, den klagenden Parteien geräumt von seinen Fahrnissen binnen 14 Tagen bei Exekution zu übergeben, abgewiesen wird.

Die klagenden Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der beklagten Partei die mit S 6.233,47 (darin S 1.038,91 USt) bestimmten Kosten der Verfahren zweiter und dritter Instanz binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Beklagte ist seit Mitte der 70-er Jahre Mieter der aufgekündigten Wohnung. Er lebte nach seiner Scheidung mehrere Jahre hindurch mit seiner Lebensgefährtin abwechselnd in dieser Wohnung und in jener seiner Partnerin. Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin hielt sich der Beklagte täglich in der Wohnung einige wenige Stunden während der Nachtzeit auf, um dort zu schlafen. Tagsüber besuchte er ab den frühen Morgenstunden Freunde oder verschiedene Gasthäuser. Der Beklagte betreute mehrere Katzen. Nach dem Tod der letzten Katze Ende April 1993, verbrachte der Beklagte die Zeit von Mai bis November 1983 im Garten bei seiner Schwiegermutter und bei einem Bekannten. Während dieser Sommermonate kam er nur gelegentlich in seine Wohnung, um die Post abzuholen, das sich an der Wohnungstür anhäufende Reklamematerial wegzunehmen und den nach der Reinigung des Stiegenhauses an die Wand gelehnten Fußabstreifer wieder vor die Wohnungstür zu legen. Am 12.8.1993 wurde der Stromzähler der Wohnung wegen unterbliebener Zahlung gesperrt. Mitte November 1993 zog der Sohn des Beklagten, der bisher nicht mit seinem Vater zusammen gewohnt hatte, in die Wohnung ein. Seit diesem Zeitpunkt nächtigt auch der Beklagte wieder gelegentlich, nämlich etwa 4 bis 6mal im Monat dort. Er verläßt die Wohnung jeweils zeitlich in der Früh wieder, um sich in verschiedene Gasthäuser zu begeben oder Gelegenheitsarbeiten zu verrichten.

Die Kläger stützten ihre am 30.8.1993 beim Erstgericht eingelangte Aufkündigung auf den Kündigungsgrund des § 30 Abs 2 Z 6 MRG, weil die Wohnung leerstehe und weder vom Beklagten noch von eintrittsberechtigten Personen zur Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses verwendet werde. Aufgrund der vom Beklagten erhobenen Einwendungen erklärte das Erstgericht die Aufkündigung für rechtswirksam und verurteilte den Beklagten zur Räumung der Wohnung. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und führte in rechtlicher Beurteilung aus, daß die Wohnung im Zeitpunkt der Zustellung der Aufkündigung Anfang September 1993 weder vom Beklagten noch von einer sonstigen Person regelmäßig bewohnt worden sei. Der Beklagte habe die Wohnung jeweils nur kurz aufgesucht, um durch das Abholen der Post und die Entfernung des Reklamematerials den Anschein einer Benützung zu erwecken. Die Abwesenheit aus der Wohnung sei weder zur Kur- oder Unterrichtszwecken noch aus beruflichen Gründen erfolgt. Auch seit November 1993 benütze der Beklagte die Wohnung nicht zur regelmäßigen Befriedigung seines Wohnbedürfnisses. Eine regelmäßige Verwendung zu Wohnzwecken könne nur angenommen werden, wenn der Mieter die Wohnung wenigstens während eines beachtlichen Zeitraumes im Jahr oder einiger Tage in der Woche als wirtschaftlichen und familiären Mittelpunkt benutze. Eine derartig regelmäßige Verwendung zu Wohnzwecken liege nicht vor. Da der Sohn des Beklagten nicht im Sinne des § 14 Abs 3 MRG eintrittsberechtigt sei, könne auch die regelmäßige Benützung der Wohnung durch ihn seit Mitte November 1993 die Wirksamkeit der Aufkündigung nicht beseitigen.

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung des Beklagten nicht Folge und erklärte die ordentliche Revision als nicht zulässig. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes und verneinte insbesondere das Vorliegen einer auf den behaupteten Verstoß gegen die Anleitungspflicht gemäß § 182 ZPO gegründeten Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens. Die in der Berufung erstmals aufgestellte Behauptung, die Kläger seien insgesamt nur zu 35,11 % Anteilen Eigentümer des Hauses und daher zur Einbringung der Aufkündigung nicht legitimiert gewesen, verstoße gegen das Neuerungsverbot. Zur Rechtsrüge führte es aus, daß sich in Ermangelung der Behauptung eines schutzwürdigen Interesses an der Aufrechterhaltung des Mietsverhältnisses die Frage nach anderen Wohnmöglichkeiten des Beklagten nicht stelle. Daß die aufgekündigte Wohnung im „unsteten Leben“ des Beklagten den „einzigen Fixpunkt bildet“, könne nichts daran ändern, daß in vier bis sechs Übernachtungen je Monat eine regelmäßige Verwendung zu Wohnzwecken im Sinne der ständigen Judikatur nicht zu erblicken sei. Da die Kenntnis der Hauseigentümer von der behaupteten jahrelangen eingeschränkten Nutzung der Wohnung gar nicht behauptet worden sei, könne auch nicht von einem Verzicht auf die Geltendmachung des Kündigungsgrundes ausgegangen werden.

Der dagegen erhobenen Revision des Beklagten kommt Berechtigung zu.

Rechtliche Beurteilung

Soweit in der Revision neuerlich ausgeführt wird, der Beklagte wäre vom Erstgericht gemäß § 182 ZPO einerseits dazu anzuleiten gewesen, ihm im Rahmen der Verfahrenshilfe einen Rechtsanwalt beizugeben und andererseits Behauptungen zur Aktivlegitimation der Kläger aufzustellen, ist darauf zu verweisen, daß ein in der Berufung zwar geltend gemachter, vom Berufungsgericht aber verneinter Mangel des Verfahrens erster Instanz nach ständiger Rechtsprechung in der Revision nicht mehr gerügt werden kann (JBl 1972, 569; SZ 62/157; EFSlg 64.136). Die erstmals im Berufungsverfahren aufgestellte Behauptung der mangelnden Aktivlegitimation ist als Einwendung rechtlicher Natur nur dann keine unzulässige Neuerung im Sinne des § 482 Abs 1 ZPO, wenn bereits in erster Instanz alle Tatsachen vorgetragen und die hiefür erforderlichen Beweismittel angeboten wurden (ZVR 1961/136; 3 Ob 588/81). Da der Beklagte aber in erster Instanz Tatsachenvorbringen, aus dem sich die mangelnde Aktivlegitimation der Kläger ergeben könnte, nicht erstattet hat, hat das Gericht zweiter Instanz auf dieses Berufungsvorbringen zu Recht nicht Bedacht genommen. Sein Verfahren ist diesbezüglich nicht mit einem Mangel behaftet.

Allerdings ist das Berufungsgericht bei seiner rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes von der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen. § 30 Abs 2 Z 6 MRG nennt als wichtigen, die Kündigung rechtfertigenden Grund, daß die vermietete Wohnung nicht zur Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses des Mieters oder der eintrittsberechtigten Personen (§ 14 Abs 3 MRG) regelmäßig verwendet werde, es sei denn, daß der Mieter zu Kur- oder Unterrichtszwecken oder aus beruflichen Gründen abwesend ist. Schon zu der im wesentlichen gleichlautenden Bestimmung des § 19 Abs 2 Z 13 MRG wurde in ständiger Rechtsprechung judiziert, daß ein schutzwürdiges Interesse des Mieters an der Aufrechterhaltung des Mietverhältnisses dann anzunehmen sei, wenn sein Wohnbedürfnis nicht anderweitig angemessen befriedigt werde, wenn er also die aufgekündigte Wohnung nach wie vor zu Wohnzwecken benötige. In Fällen, in welchen der gekündigte Mieter über keine sonstige Wohnung, sondern nur eine Unterkunft (möbliertes Untermietzimmer, Aufnahme als Gast) verfüge, sei deshalb die zentrale Frage des dauerndes Mangels eines schutzwürdigen Interesses auch bei bloß gelegentlicher Benützung der aufgekündigten Wohnung nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles sorgfältig zu prüfen. Das schutzwürdige Interesse könne nur dann verneint werden, wenn zur Zeit des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz die Rückkehr des Mieters in die aufgekündigte Wohnung nicht in absehbarer Zeit zu erwarten oder ungewiß sei (MietSlg 30.426; 33.383). Diese rechtlichen Erwägungen gelten uneingeschränkt auch für den Bereich des § 30 Abs 2 Z 6 MRG. Ist der Mieter alleinstehend, kann von einem „familiären“ Mittelpunkt schon begrifflich keine Rede sein. Auch an die Anforderungen des Lebensschwerpunktes kann naturgemäß kein allzustrenger Maßstab angelegt werden. Auch eine längere Abwesenheit, etwa während des Sommers, läßt nicht den Schluß zu, daß die aufgekündigte Wohnung nicht mehr zur Befriedigung eines dringenden Wohnbedürfnisses benützt werde. Wie oft der Aufgekündigte in der Woche nächtigt, ist nicht maßgeblich. Entscheidend ist lediglich, ob dem Mieter auf Dauer ein schutzwürdiges Interesse mangelt (MietSlg 40.458 ua).

Nach den allein maßgeblichen erstinstanzlichen Feststellungen verfügt der Beklagte über keine andere Wohnmöglichkeit und nächtigt zumindest seit November 1993 wieder mehrmals monatlich in der Wohnung. Damit allein schon kann dem Beklagten ein schutzwürdiges Interesse am Weiterverbleib in der Wohnung nicht abgesprochen werden, weil die aufgekündigte Wohnung seine einzige rechtlich gesicherte Unterkunftsmöglichkeit darstellt. Da der Beklagte sonst keinen Lebensmittelpunkt hat, kann wohl nur die - zugestandenermaßen - mit Unterbrechungen benützte Wohnung als solcher angesehen werden; jede andere Sicht würde dem Wesen dieses für den geltend gemachten Kündigungsgrund ausschlaggebenden Merkmal nicht gereicht.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 50, 41 ZPO.

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