Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 13.9.1994 anerkannte die Beklagte den Unfall des Klägers vom 19.12.1993 als Arbeitsunfall (AU). Als unfallbedingte Verletzungen stellte sie fest:
Gehirnerschütterung, Rißquetschwunde am Hinterkopf und am Hoden, Bruch des linken Scham- und Sitzbeines und Fissur am linken Schienbein. Auf einer Bemessungsgrundlage von 343.200 S und unter Berücksichtigung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 vH gewährte die Beklagte ab 12.5.1994 eine vorläufige Versehrtenrente (VR) von 4.085,70 S monatlich und eine Zusatzrente von 817,10 S monatlich. Letztere begründete sie mit der Schwerversehrteneigenschaft (§ 205 Abs 4 ASVG). Wegen der Folgen des durch die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten Mannheim entschädigten AUs vom 17.9.1962 sei die Erwerbsfähigkeit nämlich um 80 vH gemindert.
In der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage begehrt der Kläger von der Beklagten "aufgrund der durch den Arbeitsunfall vom 19.12.1993 bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 12.5.1994 eine volle Versehrtenrente samt gesetzlicher Zusatzrente". Obwohl ihm infolge des AUs vom 17.9.1962, durch den seine Erwerbsfähigkeit um 80 vH gemindert worden sei, beide Unterschenkel amputiert worden seien, sei es ihm dank der Unterschenkelprothesen möglich gewesen, seinen beruflichen und privaten Interessen "in weitgehend gleichem Maß" nachzugehen wie vor diesem Unfall. Wegen der Folgen des AUs vom 19.12.1993 benötige er ständig Unterarmstützkrücken und sei nur mehr beschränkt gehfähig. Das linke Knie blockiere zeitweilig. Er könne die Unterschenkelprothesen nur zwei Stunden pro Tag tragen und habe auch große Schmerzen beim Sitzen. Wegen dieser schweren Folgen des AUs vom 19.12.1993 sei er nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Seine individuelle Erwerbsfähigkeit sei daher gegenüber dem Vorzustand um 100 vH eingeschränkt. Die Vorschädigung um 80 vH bewirke, daß der Kläger von der (durch den weiteren AU verursachten) "MdE" in "relativ höherem Maße" betroffen sei als eine Person ohne Vorschädigung. Diese relative Erhöhung müsse umso stärker ausfallen, je größer die Vorschädigung sei.
Die Beklagte wendete ein, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers wegen der Folgen des AUs vom 19.12.1993 (schmerzhafte Bewegungseinschränkung des linken Hüftgelenks, herabgesetzte Gangleistung und subjektive Beschwerden) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur um 25 vH gemindert sei.
Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger für die Folgen des AUs vom 19.12.1993 ab 12.5.1994 eine 25 %ige vorläufige Versehrtenrente samt Zusatzrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Das Mehrbegehren auf eine Vollrente aus diesem Arbeitsunfall ab 12.5.1994 samt gesetzlicher Zusatzrente wurde abgewiesen.
Nach den erstgerichtlichen Feststellungen erlitt der Kläger anläßlich des AUs vom 17.9.1992 (richtig 1962) eine Amputation beider Unterschenkel. Dafür bezieht er seit 1964 eine 80 %ige Dauerrente. Beim AU vom 19.12.1993 zog er sich eine Gehirnerschütterung, eine Rißquetschwunde am Hinterkopf und am Hoden, einen Bruch des linken Scham- und Sitzbeines, eine Fissur am linken Schienbein und einen Nierenriß zu. Die unfallbedingte Heilbehandlung dauerte bis 11.5.1994. Nach dem AU vom 19.12.1993 bestehen seit 12.5.1994 zusammengefaßt folgende Unfallfolgen: deutliche Belastungsschmerzen am linken Becken. Diese machen das Gehen mit Hilfe von Stützkrücken und nach 15 - 20-minütigem Sitzen bzw Liegen (auf dem Rücken) einen Haltungswechsel erforderlich. Diese erheblichen Schmerzzustände bedingen - bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt - eine MdE von 25 vH. Obwohl das Beschäftigungsverhältnis des im Krankenstand befindlichen Klägers (Geschäftsführer eines Tourismusverbandes) noch aufrecht ist, ist zu erwarten, daß er dieser Erwerbstätigkeit auf längere Zeit nicht mehr nachgehen kann und auch sonst auf dem Arbeitsmarkt kaum mehr zu vermitteln ist. Vor dem AU vom 19.12.1993 war er trotz seiner beidseitigen Unterschenkelamputation als Dienstnehmer eines Tourismusverbandes voll erwerbsfähig.
In der rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, die durch den AU vom 17.9.1962 bedingten, erheblichen Vorschädigungen seien bei der Ausmessung der vorläufigen Rente nach dem Unfall vom 19.12.1993 nicht zu berücksichtigen. Die Folgen beider AUe würden mit Dezember 1995 gemäß § 210 ASVG in einer Gesamtrentenbildung zu beurteilen sein, wobei die Gesamtrente entsprechend einer MdE von höchstens 100 vH mit 100 vH begrenzt sein werde. Hingegen sei wegen der gebotenen gesonderten Betrachtung der beiden AUe neben der Dauerrente von 80 vH nach dem ersten AU eine vorläufige Versehrtenrente von 25 vH zuzusprechen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge.
Das Gesetz kenne nur einen einzigen Begriff der Versehrtenrente. Diese sei unter den im § 209 Abs 1 ASVG bezeichneten Voraussetzungen als vorläufige Rente, sonst als Dauerrente und spätestens vom Beginn des dritten Jahres nach dem Eintritt des neuerlichen Versicherungsfalles an nach dem Grad der durch alle Versicherungsfälle verursachten MdE festzustellen (§ 210 Abs 2 leg cit). Solange diese Gesamtrente nicht festgestellt sei, gebühre dem Versehrten nach Abs 4 der letztzit Gesetzesstelle unter den Voraussetzungen des Abs 1 derselben eine Rente entsprechend dem Grade der durch die neuerliche Schädigung allein verursachten MdE. Dieser Fall liege hier vor. Die Vorschädigungen durch den AU vom 17.9.1962 seien demnach erst bei der Gesamtrentenbildung zu berücksichtigen. Die vorläufige Versehrtenrente könne hingegen nur in Höhe der MdE infolge des AUs vom 19.12.1993 gewährt werden. Abgesehen davon, daß eine Gesamtrentenbildung erst Ende 1995 zu erfolgen habe, hätte das Erstgericht den AU vom 17.9.1962 auch deshalb nicht zum Gegenstand seiner Entscheidung machen dürfen, weil der Kläger seine Klage nur auf den AU vom 19.12.1993 gestützt habe.
In der Revision macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache geltend; er beantragt, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Die Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nach § 46 Abs 3 Z 3 ASGG auch bei Fehlen der Voraussetzungen des Abs 1 dieser Gesetzesstelle zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.
Unter Erwerbsfähigkeit iS der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Fähigkeit des Versicherten zu verstehen, sich unter Ausnützung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten im gesamten Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Als MdE ist daher die Beeinträchtigung dieser Fähigkeit anzusehen. Für die Ermittlung der MdE gilt das Prinzip der abstrakten Schadensberechnung: Zunächst wird die individuelle Erwerbsfähigkeit des Versicherten vor dem Unfall ermittelt. Sie wird auch dann mit 100 vH bewertet, wenn der Verletzte bereits vorgeschädigt und deshalb nicht mehr voll erwerbsfähig war. Ein Vorschaden steht der Gewährung einer VR nur dann entgegen, wenn der Verletzte bereits völlig erwerbsunfähig war. In diesem Fall fehlt es an einer Erwerbsfähigkeit, die durch den AU gemindert werden konnte. Der vor dem AU bestehenden und mit 100 vH bewerteten individuellen Erwerbsfähigkeit des Verletzten wird das nach dem AU verbliebene Ausmaß seiner Erwerbsfähigkeit als Vergleichswert gegenübergestellt. Die Differenz beider Werte ergibt die MdE. Entschädigt wird also nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten vor und nach dem AU. Ob der AU tatsächlich zu einem Einkommensausfall führt, ist dagegen bedeutungslos. VR wird infolge der abstrakten Schadensberechnung auch dann gewährt, wenn kein Lohnausfall entstanden ist oder sogar ein höheres Einkommen erzielt wird.
Die Grundlage für die Ermittlung des Grades der MdE bildet regelmäßig ein ärztliches Gutachten über die Unfallfolgen und deren Auswirkungen einschließlich der MdE. Das Gericht hat dann nachzuprüfen, ob bei dieser ärztlichen Einschätzung der MdE alle wichtigen Gesichtspunkte berücksichtigt wurden und ob ein Abweichen von dieser Einschätzung geboten ist. Die ärztliche Einschätzung, die sich bestimmter Richtlinien bedient und auf diese Weise auch die Auswirkungen von Unfallverletzungen auf die Einsatzmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt berücksichtigt, bildet allerdings nicht die einzige Grundlage der gerichtlichen Entscheidung. Bei dieser ist auch zu prüfen, ob im Hinblick auf die besondere Situation im Einzelfall die Ausbildung und die bisherigen Berufe des Verletzten zur Vermeidung unbilliger Härten angemessen zu berücksichtigen sind. Die Entscheidung, ob ein derartiger Härtefall vorliegt, der ein Abweichen von der ärztlichen Einschätzung der MdE geboten erscheinen läßt, ist Gegenstand der rechtlichen Beurteilung (stRsp: SSV-NF 1/64 mwN, 7/52 mit weiteren Judikaturhinweisen). Die vom Versicherten (vor dem Versicherungsfall) ausgeübten Tätigkeiten wirken sich auf den Grad der MdE in der Regel nicht aus. Sie sind für das Ausmaß der Geldleistungen der Unfallversicherung nur insoweit von Bedeutung, als die Beitragsgrundlagen im letzten Jahr vor dem Eintritt des Versicherungsfalles nach § 179 Abs 1 ASVG die Bemessungsgrundlage bilden und auf diese Art die Bemessung der Versehrtenrente mitbestimmen. Daß der Versehrte seinen früheren Beruf nicht mehr ausüben kann, kann vor allem zu beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation iS des § 198 Abs 1 ASVG und zur Gewährung einer Übergangsrente oder eines Übergangsbetrages nach § 211 leg cit führen. Im übrigen wird in diesem Versicherungszweig das Risiko der MdE versichert. Dafür sind aber ua die bisherige Berufstätigkeit und die Höhe des dadurch erzielten Einkommens wegen der abstrakten Bewertung - abgesehen von besonderen Härtefällen - ohne Bedeutung (SSV-NF 7/52). Daß ein solcher besonderer Härtefall bei dem am 11.12.1942 geborenen Kläger vorliege, wurde nicht einmal behauptet.
Auch bei Berücksichtigung der in der E SSV-NF 2/104 vertretenen Rechtsansicht, daß sich die MdE dann erhöhen könne, wenn die Unfallfolgen auf Grund eines Vorschadens den Versicherten wesentlich stärker treffen als einen Gesunden, ist für den Kläger nichts gewonnen. Nach der zit E rechtfertigt es eine Vorschädigung nämlich nicht in allen Fällen, die unfallbedingte Minderung der individuellen Erwerbsfähigkeit mit einem höheren Prozentsatz einzuschätzen. Sie könne dann keine Berücksichtigung finden, wenn sie keine wesentliche Bedeutung für die Unfallfolgen und deren Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit habe. Zwischen dem Vorschaden und dem Unfallschaden müsse ein besonders qualifizierter Zusammenhang bestehen und es müßten wesentlich verstärkte Unfallfolgen vorliegen. Nach der E SSV-NF 5/125 ist eine Vorschädigung nur dann rechtlich von Bedeutung, wenn zwischen ihr und dem durch den AU verursachten Körperschaden eine funktionelle Wechselwirkung besteht. Davon kann aber im vorliegenden Fall keine Rede sein.
Die vorläufige Versehrtenrente ist daher entsprechend § 205 Abs 1 ASVG nach dem Grade der durch den AU (vom 19.12.1993) herbeigeführten MdE zu bemessen. Die Vorschädigung durch den AU vom 17.9.1962 wird dadurch berücksichtigt, daß dem Kläger, der als Schwerversehrter iS des Abs 4 leg cit gilt, gemäß § 205 a Abs 1 ASVG eine Zusatzrente in der Höhe von 20 vH der Versehrtenrente gebührt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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