OGH 10ObS139/95

OGH10ObS139/9519.9.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Steinbauer als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Theodor Kubak (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alfred Klair (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ulrike M*****, vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Bezirkshauptmannschaft Leoben, Peter Tunner-Straße 6, 8700 Leoben, wegen Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 19.April 1995, GZ 7 Rs 56/95-20, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 18.Jänner 1995, GZ 23 Cgs 13/94p-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Klägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die 25-jährige Klägerin leidet seit der Geburt an einer Hirnschädigung. Es besteht eine verminderte intellektuelle Leistungsbreite (Debilität) sowie eine erhöhte Muskelspannung im Bereich sämtlicher Exemtritäten aufgrund der Geburtsschädigung; auch ein Einwärtsschielen links liegt vor. Die Klägerin ist in der Lage, die tägliche Körperpflege im ausreichenden Ausmaß selbst vorzunehmen. Sie kann selbständig die Mahlzeiten einnehmen sowie die Notdurft verrichten und sich nach dem Toilettengang ausreichend reinigen, sie kann sich an- und ausziehen sowie Medikamente einnehmen. Sie ist aber nicht in der Lage, Mahlzeiten zuzubereiten und die Leib- und Bettwäsche in ausreichendem Ausmaß zu pflegen. Die Elektroheizung kann von der Klägerin selbst bedient werden. Eine Mobilitätshilfe im engeren oder weiteren Sinn ist nicht erforderlich. Die Klägerin kann zwar auch Nahrungsmittel und Medikamente herbeischaffen, sie kann allerdings nicht einen Einkauf zweckmäßig planen und den Erfordernissen des Haushaltes bzw des Nahrungsbedarfes anpassen. Die selbständige Herbeischaffung von Nahrungsmitteln kann nur dadurch gewährleistet werden, daß ihr eine Einkaufsliste zusammengestellt und sie darauf aufmerksam gemacht wird, wieviel Geld sie für einen Einkauf benötigt. Die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände ist der Klägerin aufgrund ihrer körperlichen Fähigkeiten zumutbar. Sie ist jedoch zu diesen Reinigungsarbeiten fallweise anzuleiten und benötigt etwa zu 10 vH des zeitlichen Aufwandes Anleitung.

Mit Bescheid vom 6.12.1993 lehnte die beklagte Partei den bei ihr am 27.8.1993 eingelangten Antrag auf Gewährung von Pflegegeld ab.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Der Pflegebedarf überschreite nicht ein Ausmaß von durchschnittlich 40 Stunden im Monat.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Bei der Klägerin bestehe ein Pflegebedarf von insgesamt 30 Stunden für die Zubereitung von Mahlzeiten und 10 Stunden für die Pflege der Leib- und Bettwäsche. Das Herbeischaffen von Nahrungsmitteln falle nicht ins Gewicht, weil die erforderliche Einkaufsliste von jeder Hilfsperson erstellt werden kann, die die Klägerin täglich mit ausreichenden Mahlzeiten versorgt. Auch die fallweise Anleitung zur Reinigung der Wohnung könne ohne zeitlichen Mehraufwand von der Person vorgenommen werden, die die Pflege der Leib- und Bettwäsche der Klägerin durchführt.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Jene Hilfsperson, die das Kochen vornehme, könne ohne besonderen Aufwand den Lebensmittelbedarf auf einem Zettel festhalten sowie das erforderliche Geld bereitstellen. Der Klägerin fehle zwar ein sinnvoll planendes Handeln im Rahmen der Zubereitung einer Mahlzeit, sie könne aber durchaus einzelne ihr konkret aufgetragene Arbeitsvorgänge im Rahmen des Kochens wahrnehmen. Dadurch könne die betreuende Person bei der Zubereitung von Mahlzeiten soweit entlastet werden, daß der Aufwand für die Erstellung der Einkaufsliste und die Bereitstellung des Geldes nicht ins Gewicht falle. In gleicher Weise gelte dies für die Anleitung der Klägerin beim Aufräumen und Reinigen der Wohnung. Auch hier sei der Aufwand bei der Anleitung der Klägerin, was sie im einzelnen tun solle, gering und nicht ins Gewicht fallend.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der klagenden Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, daß der Klägerin Pflegegeld im gesetzlichen Ausmaß ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt gewährt werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Gemäß § 4 EinstV zum Steiermärkischen Pflegegeldgesetz (im folgenden kurz EinstV) ist die Anleitung und Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 EinstV angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen. Die betroffene Person ist hier zwar rein physisch in der Lage, die in Frage kommenden Verrichtungen zu besorgen, kann dies aber wegen einer im psychischen Bereich liegenden Behinderung nur unter Anleitung und unter Aufsicht einer Betreuungsperson besorgen. Diese Bestimmung hat Fälle im Auge, in denen die Anwesenheit der Betreuungsperson während der Verrichtung erforderlich ist (arg "Anleitung und Beaufsichtigung.... bei der Durchführung"). Nur in diesem Fall ist die Regelung der Verordnung verständlich, daß die Anleitung und Beaufsichtigung mit dem für die Verrichtungen in den §§ 1 und 2 EinstV bestimmten Zeitwert gleichzusetzen ist.

Die Klägerin kann Nahrungsmittel und Medikamente aufgrund ihrer körperlichen Fähigkeiten zwar selbst herbeischaffen und die Wohnung und die persönlichen Gebrauchsgegenstände reinigen. Sie bedarf aber, damit sie die erstere Hilfsverrichtung zweckmäßig und den Erfordernissen des Haushalts und des Bedarfes gemäß durchführt, der Erstellung einer Einkaufsliste und des Hinweises, wieviel Geld sie benötigt. Zur zweiten Hilfsverrichtung muß sie zu 10 vH des zeitlichen Aufwandes fallweise angeleitet werden.

Diese Betreuungsmaßnahmen entsprechen nicht dem Tatbestandsmerkmal der Anleitung und Beaufsichtigung im Sinne des § 4 EinstV, sondern stellen sich vielmehr als eine Form der psychischen Betreuung dar. Sie dienen dazu, der Klägerin, bei der eine verminderte intellektuelle Leistungsbreite (Debilität) besteht, den Rahmen der notwendigen Tätigkeiten vorzugeben, wobei der notwendige Zeitaufwand im Verhältnis zu dem für die Verrichtungen selbst erforderlichen Zeitaufwand relativ gering ist. § 4 EinstV ist daher auf diesen Fall nicht anwendbar.

Die Landesregierung ist gemäß § 4 Abs 5 StPGG ermächtigt, nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfes durch Verordnung festzulegen. Die Verordnung kann insbesondere festlegen: 1. eine Definition der Begriffe "Betreuung" und "Hilfe", 2. Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand, wobei verbindliche Mindestwerte zumindest für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind, 3. verbindliche Pauschalwerte für den Zeitaufwand der Hilfsverrichtungen, wobei der gesamte Zeitaufwand für alle Hilfsverrichtungen mit höchstens 50 Stunden pro Monat festgelegt werden darf....

Diese Bestimmung gibt der Landesregierung den Regelungsumfang der Verordnung vor, doch ergibt sich hieraus, was aus dem Wort "insbesondere" abzuleiten ist, nicht, daß sämtliche denkbaren Verrichtungen von der Verordnungsregelung erfaßt sein müssen, daß diese sohin die einzige Grundlage für die Beurteilung des Pflegeaufwandes bildet. So führt etwa auch Pfeil (Neuregelung der Pflegevorsorge in Österreich, 183) dazu aus, daß für die meisten Verrichtungen im Rahmen der Betreuung und für alle Hilfsverrichtungen Vorgaben hinsichtlich des dafür jeweils zu veranschlagenden zeitlichen Ausmaßes bestimmt wurden; er räumt damit ein, daß Betreuungsmaßnahmen denkbar sind, die von der Regelung der Verordnung nicht erfaßt sind und diese damit nicht erschöpfend ist. Die Gesetzesmaterialien (776 BlgNR 18.GP, 26) weisen darauf hin, daß die Festlegung von Pauschalwerten für den Zeitaufwand unbedingt erforderlich sei, da eine Prüfung im Einzelfall verwaltungstechnisch zu aufwendig und damit kaum administrierbar wäre. Da das Pflegegeld außerdem nur der teilweisen Abdeckung des pflegebedingten Mehraufwandes diene, erscheine überdies schon aus diesem Grunde eine Pauschalierung sachlich gerechtfertigt. Durch die Pauschalierung solle auch eine einheitliche Entscheidungspraxis im gesamten Bundesgebiet sichergestellt werden. Auch die Gesetzesmaterialien bieten daher keinen Hinweis dafür, daß die EinstV eine abschließende Regelung für alle Betreuungsfälle vorzunehmen hätte. Die dort dargestellten Motive für die getroffene Regelung lassen eher den Schluß zu, daß nur die gängigsten, häufigsten Fälle des Betreuungsaufwandes der Pauschalierung unterworfen werden sollten, um die Erledigung der Masse der Fälle nach einer einheitlichen Leitlinie sicherzustellen. Dies schließt aber nicht aus, daß in einzelnen Fällen, in denen ein spezifischer Betreuungsaufwand anfällt, der sich vom üblichen unterscheidet, dessen Umfang konkret zu ermitteln ist.

Wurden durch die EinstV für eine bestimmte Betreuungsverrichtung Pauschalwerte nicht festgelegt, so ist der tatsächlich notwendige Zeitaufwand im Einzelfall zu ermitteln und in Anschlag zu bringen (10 ObS 91/95).

Im vorliegenden Fall wird durch die festgestellten erforderlichen Anleitungen insgesamt ein Pflegeaufwand von 10 Stunden nicht überschritten. Die Anspruchsvoraussetzung nach § 4 Abs 2 StPGG von mehr als 50 Stunden Pflegebedarf zur Begründung des Anspruches auf Pflegegeld nach der Stufe 1 ist sohin nicht erfüllt.

Die Vorinstanzen haben den Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld daher zutreffend verneint.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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