OGH 7Ob27/95

OGH7Ob27/9531.5.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Christian H*****, vertreten durch Dr.Christian Slana und Dr.Günther Tews, Rechtsanwälte in Linz, wider die beklagte Partei W***** Versicherungs-AG, ***** vertreten durch Dr.Heinz Oppitz und Dr.Heinrich Neumayr, Rechtsanwälte in Linz, wegen S 95.760,-- sA, infolge außerordentlicher Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Linz als Berufungsgericht vom 16.Februar 1995, GZ 19 R 6/95-21, womit infolge Berufung der beklagten Parei das Urteil des Bezirksgerichtes Linz vom 15.November 1994, GZ 31 C 43/94w-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen, soweit diese nicht hinsichtlich der Abweisung eines Teilbegehrens unbekämpft in Rechtskraft erwachsen sind, werden dahingehend abgeändert, sodaß sie insgesamt zu lauten haben:

Das Klagebegehren des Inhalts, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger einen Betrag von S 95.760,-- samt 9,75 % Zinsen seit 8.2.1993 zu bezahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 17.635,68 (darin S 2.364,28 USt) bestimmten Verfahrenskosten erster Instanz binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen. Die klagende Partei ist weiters schuldig, der beklagten Partei die mit S 10.370,72 (darin S 845,12 USt und S 5.300,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit S 12.706,40 (darin S 1.014,40 USt und S 6.620,-- Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die beklagte Partei war Kaskoversicherer des PKWs des Klägers Marke Opel Vectra 16 V und dem Kennzeichen *****. Mit diesem Fahrzeug verursachte er am 25.10.1992 in W***** auf der Kreuzung E*****straße/*****L*****-Straße einen Verkehrsunfall durch Mißachtung des Rotlichtes der automatischen Verkehrslichtsignalanlage (aVLSA). Die dreispurig als Einbahn geführte E*****straße befindet sich im Stadtgebiet von W***** und weist im Unfallsbereich eine Breite von 9,9 m auf. Der Straßenverlauf ist in Annäherung an die Unfallskreuzung auf eine Strecke von etwa 800 m gerade, die Sicht auf die Kreuzung war auch bei nieselndem bzw. nassem Wetter wie am Unfallstag zumindest auf 200 m gegeben. Die ***** L*****-Straße quert im rechten Winkel. An der Unfallskreuzung sind insgesamt drei Ampeln montiert, und zwar eine Hängeampel in der Mitte und zwei Ständerampeln in Fahrtrichtung des Klägers gesehen rechts und links am Fahrbahnrand an der Kreuzungsecke. Der ortsunkundige Kläger wollte die am Unfallstag in W***** auf dem Messegelände stattfindende PS-Show besuchen und konzentrierte sich auf die Suche nach der richtigen Abzweigung zum Messegelände nach links, die nach den Angaben des Bruders der Beifahrerin bei einer großen Kreuzung sei. Er näherte sich der Unfallskreuzung auf dem äußersten linken Fahrstreifen mit einer Geschwindigkeit von 47 bis 49 km/h bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Die die Kreuzung vor der Unfallskreuzung regelnde Ampelanlage war auf gelb blinkendes Licht geschaltet. Bei Passieren dieser Kreuzung entdeckte der Kläger das in einer Entfernung von 270 m angebrachte Hinweisschild zur PS-Show. Er konzentrierte sich so darauf, daß ihm bei Annäherung an die Unfallskreuzung die vor dem Unfall bereits 10 bis 11 Sekunden lang Rotlicht anzeigende Ampel nicht auffiel. Als er sie erstmalig bemerkte, befand er sich bereits unmittelbar am Beginn des Kreuzungsbereiches; ein rechtzeitiges Abbremsen vor dem bei Grünlicht von links mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h einfahrenden PKW der Brigitte K***** war ihm nicht mehr möglich. Auch Brigitte K***** war ein rechtzeitiges Anhalten nicht mehr möglich. Ob während der Sekunden vor dem Unfallsgeschehen die Ampel auf der nächstfolgenden Kreuzung nach der Unfallskreuzung in Fahrtrichtung des Klägers auf Grünlicht geschaltet war oder nicht, konnte nicht festgestellt werden.

Der Kläger begehrt von der beklagten Kaskoversicherin den Ersatz seines Schadens aus diesem Unfall von S 95.760,--. Die ihm angelastete Sorgfaltswidrigkeit begründe kein grobes Verschulden, weil er in W***** ortsunkundig gewesen sei und sich auf der Suche nach der Abbiegestelle zum Messegelände befunden habe.

Die beklagte Partei beantragte die Klagsabweisung und wendete Leistungsfreiheit ein, weil der Unfall auf das als grobe Fahrlässigkeit zu wertende Übersehen des Rotlichtes an der Ampel zurückzuführen sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Unter Berücksichtigung der Ortsunkundigkeit des Klägers und des Umstandes, daß die Ampel vor der Unfallskreuzung auf gelb blinkendes Licht umgeschaltet gewesen sei sowie weiter, daß der Kläger seine Aufmerksamkeit auf einen bei der Folgekreuzung angebrachten Vorwegweiser gelenkt und die dortige Verkehrslichtsignalanlage wahrgenommen habe, liege beim Kläger keine auffallende Sorglosigkeit vor, sondern ein Sorgfaltsverstoß, der sich nicht aus der Menge der auch für den sorgfältigsten Lenker nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens hervorhebe.

Das Berufungsgericht bestätigte mit der angefochtenen Entscheidung dieses Urteil. Es erklärte die Revision für unzulässig. Ein schweres Verschulden sei im allgemeinen nur dann anzunehmen, wenn ein Kraftfahrer durch bewußte Mißachtung von Verkehrsvorschriften eine Gefahrenlage schaffe, in der er dann bei einer von ihm nicht erwarteten Situation einen Verkehrsunfall nicht mehr vermeiden könne. Rotlichtverstöße seien objektiv als grob verkehrswidrig und damit als grob fahrlässig zu qualifizieren; im vorliegenden Fall mangle es jedoch an der subjektiven Vorwerfbarkeit gegenüber dem ortsunkundigen Kläger. Es liege keine bewußte Mißachtung bzw. kein bewußtes Hinwegsetzen über gravierende Verkehrsvorschriften vor, sondern ein bloß unbewußtes Übersehen eines Rotlichtes im Stadtverkehr, das nicht nur besonders nachlässigen und leichtsinnigen Menschen, sondern im Einzelfall auch einem sorgfältigen Menschen passieren könne. Mangels einer Wahrnehmung des Rotlichtes könne dem Kläger daher nicht der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gemacht werden.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen diese Entscheidung von der beklagten Versicherung erhobene Revision ist berechtigt.

Zur Annahme einer groben Fahrlässigkeit ist es erforderlich, daß bei Vorliegen einer objektiv groben Verkehrswidrigkeit dem Täter diese auch subjektiv schwer vorwerfbar sein muß. Soweit die zweite Instanz unter Hinweis auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 7 Ob 21/94 (= VersR 1994, 1092) die Ansicht vertritt, dem Kläger könne sein Versehen subjektiv nicht schwer vorgeworfen werden, hat sie die genannte Entscheidung offenbar mißverstanden. Nach der deutschen Rechtsprechung und Lehre (vgl. zusammenfassend Prölss/Martin VVG25, 1484 = AKB § 12 Anm.11 lit.a, cc) können Rotlichtverstöße nicht generell als grobe Fahrlässigkeit beurteilt werden, weil ein bloß augenblickliches Versagen kaum einen gesteigerten subjektiven Vorwurf rechtfertige. Neben den übrigen Umständen der Gesamtsituation sei vorrangig auf die Zeitspanne, in der Rot- und Gelblicht nicht beachtet wurden, abzustellen. Wer mehrere Sekunden eine Ampelanlage nicht beachte, ohne daß es anzuerkennende Gründe für seine Unaufmerksamkeit gebe, handle grob fahrlässig. Für die näheren Umstände der Nichtbeachtung des Rotlichtes sei der Versicherer beweispflichtig (vgl. auch Pienitz/Flöter, Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrversicherung4, 80 vor § 12, 3 ff, Stiefel-Hofmann, Kraftfahrversicherung15, § 12 AKB Rz 88 ff). Der deutsche Bundesgerichtshof hat die Grenzen für die Annahme grober Fahrlässigkeit eng gezogen. Es sei stets zu überlegen, daß bei einer Konzentration erfordernden Dauertätigkeit wie beim Führen eines Kfzs im Straßenverkehr auch einem sorgfältigen Kraftfahrer gelegentlich aus einem Augenblicksversagen heraus ein "Ausrutscher" unterlaufen könne, der das Verdikt "grobe Fahrlässigkeit" nicht verdiene. Die Beurteilung, ob es sich im Einzelfall um ein solches Augenblicksversagen oder um ein subjektiv schlechthin unentschuldbares Fehlverhalten handle, das erheblich über das normale Maß hinausgehe, hänge maßgeblich von inneren Vorgängen und Willensentschlüssen ab, die der äußeren Wahrnehmung entzogen sind. Dies mache den Nachweis der subjektiven Seite der groben Fahrlässigkeit schwierig, zumal die Regeln über den Anscheinsbeweis insoweit nicht anwendbar seien (Bruck/Möller/Johanssen VVG8 V 1 Anm.J 89). Die Annahme auch subjektiv grober Fahrlässigkeit aufgrund äußerer Beweisanzeichen ist laut Bundesgerichtshof insbesondere dann nicht begründet, wenn die praktische Möglichkeit eines den Vorwurf grober Fahrlässigkeit nicht rechtfertigenden anderen Verlaufes besteht (vgl VersR 1972, 944 [945]). Die subjektive Vorwerfbarkeit bei Beurteilung der groben Fahrlässigkeit muß nach Auffassung des erkennenden Senates aber nicht im Nachweis eines geradezu "absichtlichen" Verstoßes gegen grundsätzliche Gebote im vorgenannten Sinn bestehen (vgl. VersR 1994, 1092), sie kann auch durch eine Ablenkung auf einen für das Verkehrsgeschehen in der gebotenen Situation nicht wesentlichen Umstand wie hier auf ein Abbiegeschild unter gleichzeitiger Mißachtung der sonstigen Verkehrssituation begründet werden. Die Verkehrssituation, die der Kläger beim Herannahen an die Unfallskreuzung und die dortige aVLSA vorfand, war klar und eindeutig. Daß die Anfahrtsstrecke des Klägers mit mehreren auch im Betrieb befindlichen Ampelanlagen geregelt ist, hat der Kläger wahrgenommen; dementsprechend mußte ihm bewußt sein, daß er seine Konzentration bei Anfahrt zur jeweils nächsten ampelgeregelten Kreuzung eben auf diese nächste Anlage zu richten hat. Die Wetterverhältnisse waren zwar nicht optimal, eine Sichtbeeinträchtigung bestand jedoch nicht. Die Ampeln an der Unfallkreuzung sind, wie die Fotografien im Strafakt wiedergeben, übersichtlich angeordnet und schon von weitem erkennbar. Der Kläger hätte bei den gegebenen Sicht- und Straßenverhältnissen ausreichend Zeit gehabt, sich auf einen Lichtwechsel der aVLSA und das darauf folgende Rotlicht einzustellen. Er hat dennoch die gesamte Gelb- und 10 bis 11 Sekunden der Rotphase der Ampel an der Unfallskreuzung nicht beachtet. Weder die Ortsunkundigkeit des Klägers, noch die auf blinkendes Gelblicht geschaltete Ampelanlage vor der Unfallskreuzung, noch die Ausschau nach einem Hinweisschild entschuldigen ein derart langes Außerachtlassen der Ampelanlage an der Unfallskreuzung. Die nach der Unfallskreuzung befindliche Ampelanlage mußte dem Kläger allein schon aufgrund der perspektivischen Verkleinerung weniger auffallen als jene auf der Unfallskreuzung. Ein 14 bis 15 Sekunden langes Außerachtlassen der Ampelanlage an jener Kreuzung, der sich der Kläger näherte, nur um einen Wegweiser, der bei der Folgeampel angebracht ist, im Auge zu behalten, kommt einem Abwenden der Aufmerksamkeit von der Fahrbahn und vom Verkehrsgeschehen gleich. Gerade die Ortsunkundigkeit des Klägers hätte es ihm geboten, besonders aufmerksam zu fahren, um die Hinweise für die gewünschte Fahrstrecke neben der notwendigen Beachtung des Verkehrsgeschehens wahrnehmen zu können. Das - in der Nichtbeachtung einer Lichtsignalanlage, die für ihn während einer Zeitspanne von nicht weniger als 10 bis 11 Sekunden vor dem Unfall rotes Licht als Zeichen für "Halt" anzeigte, bestehende - Fehlverhalten des Klägers ist daher nicht nur als einfache Fahrlässigkeit, sondern auch in subjektiver Hinsicht als grob fahrlässig zu qualifizieren (vgl. VersR 1990, 848). Es war daher der Revision stattzugeben und es waren die angefochtenen Entscheidungen der Vorinstanzen in eine Klagsabweisung abzuändern.

Die Kostenentscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz gründet sich auf § 41 ZPO, jene über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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