OGH 14Os56/95

OGH14Os56/9530.5.1995

Der Oberste Gerichtshof hat am 30.Mai 1995 durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Walenta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Massauer, Dr.Ebner, Dr.E.Adamovic und Dr.Holzweber als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Stöckelle als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Todor T***** wegen der Finanzvergehen der gewerbsmäßigen Abgabenhehlerei nach §§ 37 Abs 1 lit a, 38 Abs 1 lit a FinStrG sowie der Monopolhehlerei nach § 46 Abs 1 lit a FinStrG über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 23. März 1995, AZ 24 Bs 97/95, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, des Generalanwaltes Dr.Presslauer und des Angeklagten Todor T***** zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Durch den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien vom 23.März 1995, AZ 24 Bs 97/95, ist das Gesetz in der Bestimmung des § 180 Abs 1 StPO verletzt.

Text

Gründe:

Im Strafverfahren AZ 11 b Vr 9129/94 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien erhob die Staatsanwaltschaft am 16.August 1994 gegen Todor T***** Anklage wegen der Finanzvergehen der gewerbsmäßigen Abgabenhehlerei nach §§ 37 Abs 1 lit a, 38 Abs 1 lit a FinStrG sowie der Monopolhehlerei nach § 46 Abs 1 lit a FinStrG. Die Anklage erwuchs mit der Ablehnung eines Einspruchs am 13.Jänner 1995 in Rechtskraft.

Am 18.Jänner 1995 und am 21.Februar 1995 erstattete das Zollamt Wien gegen den Angeklagten Nachtragsanzeigen wegen weiterer Finanzvergehen der Abgabenhehlerei und der Monopolhehlerei. Zu diesen Nachtragsanzeigen gab die Staatsanwaltschaft die Erklärung ab, sich die Ausdehnung der Anklage in der Hauptverhandlung vorzubehalten. Ferner beantragte sie am 24.Februar 1995 die Erlassung eines Haftbefehles gegen den Angeklagten gemäß §§ 175 Abs 1 Z 4, 176 StPO und die Verhängung der Untersuchungshaft nach seiner Einlieferung aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO.

Rechtliche Beurteilung

Diesen Antrag wies der Journalrichter des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 17.März 1995 "wegen Unverhältnismäßigkeit" ab (S 3 i verso) und verfügte die Enthaftung des vom Zollamt Wien dem Gericht eingelieferten (§ 179 Abs 1 StPO) Todor T***** (§ 179 Abs 2 StPO) unter Anwendung der gelinderen Mittel nach § 180 Abs 5 Z 2 und 3 StPO (S 287 verso).

Gegen diesen Beschluß erhob die Staatsanwaltschaft Beschwerde, welcher das Oberlandesgericht Wien am 23.März 1995, unter dem AZ 24 Bs 97/95, nicht Folge gab.

Die Entscheidung beruht auf der Auffassung, daß es auch bei Annahme eines dringenden Tatverdachtes in Ansehung der von der Anklage erfaßten Finanzvergehen an der weiteren Untersuchungshaftvoraussetzung des § 180 Abs 1 StPO fehlen würde, wonach die Haft zu der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis stehen dürfe. Ungeachtet der (zahlreichen) einschlägigen finanzbehördlichen Verurteilungen, des überaus raschen Rückfalls nach einer erst am 29.März 1994 rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe sei allein für die der Anklage zugrundliegenden Taten mit der Verhängung einer unmittelbar zu vollziehenden Freiheitsstrafe nicht zu rechnen. Das Oberlandesgericht führte ferner aus: "Mag sein, daß der in den Nachtragsanzeigen des Zollamtes Wien vom 18.Jänner 1995 und vom 21.Februar 1995 behauptete mehrfache Rückfall eine davon abweichende Beurteilung ermöglicht hätte. Grundvoraussetzung dafür wäre es indes, daß auch hinsichtlich dieser Anzeigensachverhalte entweder eine auf dem Antrag des berechtigten Anklägers beruhende Voruntersuchung geführt oder Anklage erhoben würde (vgl die ausdrückliche Anordnung des § 180 Abs 1 erster Satz). Insoweit aber hat sich der Staatsanwalt ausdrücklich nur die Ausdehnung der Anklage in der Hauptverhandlung (§ 263 StPO) vorbehalten, eine Erklärung, die weder ein Verständnis als Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung (§ 92 Abs 2 StPO) noch als Anklageerhebung (§ 207 Abs 1 StPO) erlaubt ... . Weil mithin die Frage der Unverhältnismäßigkeit im Sinne des § 180 Abs 1 zweiter Satz StPO ausschließlich den von der Anklage der Staatsanwaltschaft Wien vom 16.August 1994, 27 d St 46152/94-1, erfaßten Sachverhalt in den Blick zu nehmen hat, steht die Verhängung der Untersuchungshaft in der Tat zu der (hiefür) zu erwartenden Strafe außer Verhältnis, womit der Beschwerde ein Erfolg zu versagen war".

Zutreffend zeigt der Generalprokurator in seiner deshalb erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes auf, daß das Vorgehen des Oberlandesgerichtes Wien in einem Teilbereich seines Erkenntnisses mit § 180 Abs 1 StPO nicht vereinbar ist.

Die Rechtsmittelentscheidung stellt zunächst mit Recht darauf ab, daß als (vom dringenden Tatverdacht betroffene) Anlaßtat nur ein mutmaßliches Verhalten des Beschuldigten in Betracht kommt, welches den Gegenstand einer Voruntersuchung oder einer Anklage bildet und somit in ein Prozeßrechtsverhältnis (Roeder, Lehrbuch, S 2; Lohsing-Serini, S 2) einbezogen ist. Der Gesetzeswortlaut läßt ein anderes Normverständnis nicht zu. Demgemäß wird mit der in einen Vorbehalt gekleideten Ankündigung des Anklägers, in der Hauptverhandlung die Anklage (allenfalls) auf eine weitere Tat ausdehnen zu wollen, keine Grundlage dafür geschaffen, diese als Anlaßtat für die Verhängung der Untersuchungshaft nach § 180 Abs 1 StPO heranzuziehen. Da solche bloß in einem sogenannten Ausdehnungsvorbehalt bezeichnete Taten nicht geeignet sind, die Basis für eine Verhängung der Untersuchungshaft abzugeben, haben sie auch bei der Ableitung jener Strafdrohung außer Betracht zu bleiben, mit welcher zwecks Unverhältnismäßigkeitsprüfung die im Einzelfall konkret zu erwartende Strafe abgeschätzt werden muß. Diesbezüglich entsprechen die dargelegten Standpunkte des Oberlandesgerichtes dem Gesetz.

Soweit das Beschwerdegericht jedoch darüber hinaus annahm, bei der prognostischen Beurteilung der erwarteten Unrechtsfolgen für die (angeklagten) Anlaßtaten an der Berücksichtigung aller aus den Nachtragsanzeigen ersichtlichen Umstände überhaupt gehindert gewesen zu sein, entsprach die Entscheidung nicht der Rechtslage. Dem Gesetz kann nicht entnommen werden, daß Nachtragsanzeigen nur dann als Erkenntnisquellen über Untersuchungshaftvoraussetzungen dienen dürfen, wenn der Ankläger wegen der Anzeige die Einleitung der Voruntersuchung veranlaßt oder eine Anklage erhoben und somit die Bedingung für die Wertung des Antragsgegenstandes als Anlaßtat im Sinne des § 180 Abs 1 StPO geschaffen hat. Solche Anzeigen können vielmehr auch ohne Einbeziehung in ein Prozeßrechtsverhältnis ebenso wie irgendwelche anderen Verfahrensumstände zusätzliche taugliche Mittel bei Beurteilung der (für die schon vorher in Voruntersuchung gezogenen oder bereits den Gegenstand einer Anklage bildenden strafbaren Handlungen) zu erwartenden Strafe sowie des Vorliegens oder Fehlens von Haftgründen sein. Die Prozeßordnung enthält keinerlei Regelung, wonach ein Beweismittel vom Gericht nur dann herangezogen werden darf, wenn der Ankläger damit bestimmte Anträge verbunden hat.

Mit der bewußten und strikten Ausklammerung der in den Nachtragsanzeigen bezeichneten Sachverhalte bei der Überprüfung, ob die Haft zu der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht, wurde der § 180 Abs 1 StPO unrichtig angewendet. Das Oberlandesgericht durfte zwar bei Veranschlagung der zu erwartenden Strafe keinen über die bereits erhobene Anklage hinausgehenden Schuldspruch wegen erst der Verfolgung vorbehaltener Taten unterstellen (vgl Leukauf-Steininger Komm3 § 33 RN 2), hätte aber an Hand des gesamten Akteninhaltes durchaus zu erwägen gehabt, ob der Inhalt der vom Angeklagten im Tatsächlichen nicht problematisierten Nachtragsanzeigen allfällige Aufschlüsse über die Täterpersönlichkeit und eine eventuelle Wohlverhaltensprognose (§ 15 Abs 2 FinStrG; siehe 14 Os 65, 81/94) und über sonstige für die Sanktion bedeutsamen Umstände vermittelte, welche die Straferwartung beeinflussen könnten (vgl Bertel Grundriß4, Rz 479).

Da die vollständige Ausklammerung des Inhalts der Nachtragsanzeigen bei der Rechtsfindung durch das Beschwerdegericht den Angeklagten nicht benachteiligt hat, muß es mit einem feststellenden Erkenntnis sein Bewenden haben.

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