OGH 5Ob513/95

OGH5Ob513/9516.5.1995

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schwarz, Dr.Floßmann, Dr.Adamovic und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Rainer F*****, geboren am 16.Juli 1981, infolge Revisionsrekurses der Mutter des Pflegebefohlenen, Andrea F*****, vertreten durch Dr.Adolf Kriegler, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Wien als Rekursgericht vom 9.Februar 1995, GZ 43 R 64/95-96, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 25.November 1994, GZ 3 P 131/88-92, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben und in Abänderung der angefochtenen Entscheidung der Beschluß des Erstgerichtes wiederhergestellt.

Text

Begründung

Der mj. Rainer wurde unehelich geboren; die Obsorge kommt daher gemäß § 166 ABGB allein der Mutter zu.

Bereits am 1.9.1992 stellte der Vater den Antrag, ihm die Obsorge zu übertragen (ON 32). Der Grund hiefür war ein von der Mutter geplanter Schulwechsel des Kindes von F***** (dem Wohnort des Vaters) nach W***** (dem neuen Wohnsitz der Mutter), der gegen den Willen des Kindes vollzogen werden sollte, doch lehnte das Pflegschaftsgericht nach einer Auskunft des Jugendamtes (das der Mutter bescheinigte, die Pflege des Kindes in keiner Weise zu vernachlässigen) und einer Empfehlung des gerichtlichen Sachverständigen (das Kind jedenfalls bis zum Abschluß der Hauptschule bei der Mutter zu lassen) eine Änderung der Obsorgeverhältnisse ab (Beschluß vom 12.2.1993, ON 46).

Am 15.10.1993 regte der Vater beim Pflegschaftsgericht erneut an, "etwas zu unternehmen", weil der Minderjährige Schwierigkeiten in der (neuen) Hauptschule habe und die zweite Klasse wiederholen müsse. Am 19.7.1994 wiederholte dann der Vater ausdrücklich seinen Antrag, ihm die Obsorge über das Kind zu übertragen, weil der nach einer Übereinkunft mit der Mutter mehrere Monate bei ihm lebende Minderjährige den Wunsch geäußert habe, bei ihm zu bleiben (ON 69). Die Mutter sprach sich jedoch gegen den Wechsel der Obsorgeverhältnisse aus, weil die väterliche Großmutter, die in Wahrheit die Pflege ausübe, einen schlechten Einfluß auf das Kind ausübe. Als dann die Mutter unter Begleitung von drei Frauen und einem Gendarmeriebeamten den Minderjährigen zu sich zurückholte, stellte der Vater nochmals den Antrag, der Mutter die Obsorge zu entziehen und sie ihm zu übertragen. Der Minderjährige beharre auf seinem Wunsch, bei ihm zu bleiben, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er sich mit dem Lebensgefährten der Mutter nicht verstehe (ON 78).

Im Zuge dieser Auseinandersetzung um das Obsorgerecht über den Minderjährigen beantragte die Mutter schließlich noch, das dem Vater eingeräumte Besuchsrecht auf ein "übliches Ausmaß" zu beschränken (ON 72), wogegen der Vater den Antrag stellte, es bei einem Besuchsrecht an jedem Wochenende zu belassen.

Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters auf Zuteilung der Obsorge ab und traf eine Besuchsrechtsregelung dergestalt, daß der Vater den Minderjährigen jedes zweite Wochenende von Samstag nach Schulschluß bis Sonntag 19.00 Uhr zu sich nehmen darf (ON 92).

Die hiefür maßgeblichen Feststellungen gehen dahin, daß beide Elternteile erziehungstauglich sind, wobei der Vater (der als technischer Angestellter im Schichtdienst bei den A***** arbeitet) auf die Unterstützung seiner Mutter bauen kann. Eine Gefährdung des Minderjährigen durch ein Verbleiben bei der Mutter wurde nicht angenommen; sie ist um ihr Kind bemüht und hat ihm - gegen ihre Überzeugung - ab Februar 1994 auch einen mehrmonatigen Aufenthalt beim Vater ermöglicht. Die dabei getroffene Vereinbarung, die Situation im Mai 1994 durch einen Familientherapeuten abklären zu lassen, wurde vom Vater nicht eingehalten.

Der Minderjährige selbst möchte zum Vater, bei dem er sich von Februar 1994 bis Mitte August 1994 aufgehalten hat. Die diesbezügliche Vereinbarung der Eltern hatte vorgesehen, daß er - unter Aufrechterhaltung des Obsorgerechtes der Mutter - die Zeit von Februar 1994 bis Schulschluß im Haushalt des Vaters verbringt. Der Bub wurde dann aber nicht zur Mutter zurückgebracht; der Vater buchte vielmehr ein Ferienlager für den Minderjährigen, das von Anfang August bis Mitte August dauerte. Der Mutter wurde der Aufenthaltsort ihres Sohnes nicht mitgeteilt. Kontakte zwischen ihr und dem Minderjährigen gestalteten sich nach Schulschluß sehr schwierig, weil zumeist die väterliche Großmutter des Minderjährigen am Telefon war und diese Telefonate nicht weiterleitete. Auch der Vater leitete den Minderjährigen nicht zu regelmäßigen Telefonkontakten mit der Mutter an. Nach der Rückkehr des Minderjährigen vom Ferienlager hat ihn daher die Mutter unter Beiziehung eines Gendarmeriebeamten vom Haus der Großmutter abgeholt, nachdem ein zunächst telefonisch vereinbarter Abholtermin verschoben worden war.

Bei dieser Sachlage sah das Erstgericht keinen Anlaß für eine Änderung der Obsorgeverhältnisse und glaubte dem Vater auch nur ein Besuchsrecht im üblichen Ausmaß zugestehen zu können. Ein Besuchsrecht, das jedes Wochenende ausgeübt wird, würde der Mutter die Möglichkeit zur gemeinsamen Freizeitgestaltung mit dem Sohn nehmen.

Das Rekursgericht änderte diesen Beschluß dergestalt, daß es der Mutter die Obsorge über den Minderjährigen entzog und sie dem Vater allein übertrug. Mit seinem Antrag auf Einräumung eines Besuchsrechtes wurde der Vater auf diese Entscheidung verwiesen.

Das Rekursgericht folgte damit der (bereits dem Erstgericht bekannten) Empfehlung des Jugendamtes, dem Wunsch des bereits im 14. Lebensjahr stehenden Pflegebefohlenen zu entsprechen und ihn beim Vater unterzubringen. Nach dessen Angaben seien die Schwierigkeiten mit dem Freund der Mutter keineswegs behoben. Der Minderjährige habe seine Rückholung durch die Mutter unter Assistenz der Gendarmerie als (massive) Irritation empfunden. Damit sei - auch wenn derzeit noch keine konkrete Gefährdung des Kindes (durch ein Verhalten der Mutter) vorliege - bei Beihaltung der derzeitigen Situation, die einer Negierung des den Minderjährigen beherrschenden Wunsches gleichkomme, eine Gefährdung (des Kindeswohls) in Zukunft nicht auszuschließen. Es erscheine unverantwortlich und mit dem Wohl des betroffenen Kindes unvereinbar, mit einer Maßnahme nach § 176 ABGB zuzuwarten, bis in concreto eine Gefährdung mit möglicherweise unabsehbaren Folgen für die weitere kindliche Entwicklung eingetreten ist. Nach der Judikatur solle auch einem mündigen Kind (das der Minderjährige bald werde) nach Möglichkeit die Erziehung durch einen abgelehnten Elternteil nicht aufgezwungen werden. Da der Wunsch des Minderjährigen auf Grund seines Alters nicht negiert werden dürfe, lägen - zusammengefaßt - doch besonders wichtige Gründe vor, die einen Pflegeplatzwechsel rechtfertigten. Die Übertragung der Obsorge an den Vater erscheine zum klaren und überwiegenden Vorteil des Minderjährigen.

Die Entscheidung des Rekursgerichtes enthält den Ausspruch, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Rechtsfragen der in § 14 Abs 1 AußStrG umschriebenen Qualifikation seien nämlich nicht zu lösen gewesen.

Im nunmehr vorliegenden ao. Revisionsrekurs der Mutter wird zur Zulässigkeit und Begründung des Rechtsmittels vor allem ausgeführt, daß die Judikatur die Übertragung der Obsorge von einem Elternteil auf den anderen nur als äußerste Notmaßnahme im Interesse des Kindeswohls zulasse. Dazu bedürfe es wichtiger Gründe, wobei ein besonders strenger Maßstab an deren Prüfung anzulegen sei. Im konkreten Fall sei der Mutter nichts vorzuwerfen; auf den Wunsch des Minderjährigen allein oder gar nur auf eine vielleicht in Zukunft zu befürchtende Gefährdung des Kindeswohls könne ein Entzug elterlicher Rechte nicht gestützt werden. Der Revisionsrekursantrag geht dahin, den angefochtenen Beschluß im Sinne einer Abweisung des väterlichen Antrags auf Übertragung der Obsorge abzuändern oder aber ihn aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne seines Abänderungsbegehrens auch berechtigt.

Der Rechtsmittelwerberin ist beizupflichten, daß eine Änderung der Obsorgeverhältnisse, die ja mit einer Entziehung ihrer in § 166 ABGB verbrieften Elternrechte verbunden ist (vgl EFSlg 62.900), nur als äußerste Notmaßnahme in Frage kommt (EFSlg 66.068; EFSlg 68.790; 5 Ob 516/94 ua). Es bedarf hiezu besonders wichtiger Gründe (EFSlg 62.897; EFSlg 66.042 ua), die im Interesse des Kindes eine so einschneidende Maßnahme dringend geboten erscheinen lassen (EFSlg 62.888 ua), weil andernfalls das Wohl des pflegebefohlenen Kindes gefährdet wäre (EFSlg 62.900; EFSlg 62.864; EFSlg 66.035; EFSlg 68.778 ua).

Der typische Rechtfertigungsgrund für eine Entziehung oder Einschränkung der Obsorge iSd § 176 ABGB, daß der das Kind betreuende Elternteil seine Erziehungspflichten vernachlässigt, seine Erziehungsgewalt mißbraucht oder den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen ist (vgl EFSlg 66.036; EFSlg 68.779 ua), scheidet im gegenständlichen Fall aus. An der Fähigkeit der Rechtsmittelwerberin, ihr Kind ordentlich zu betreuen und zu erziehen, ist nämlich nach den Verfahrensergebnissen nicht zu zweifeln, und es fehlen auch jegliche Anhaltspunkte für einen Erziehungsnotstand des Minderjährigen. Da es für eine Entziehung der Obsorge nicht ausreicht, daß der andere Elternteil noch bessere Betreuungsverhältnisse bieten könnte (vgl EFSlg 68.803), kommt nach der Sachlage als möglicher Grund für eine Änderung der Obsorgeverhältnisse also nur noch in Betracht, daß der Minderjährige durch die Rückholaktion seiner Mutter massiv irritiert wurde und selbst einen Wechsel des Pflegeplatzes anstrebt. Das Rekursgericht hat dazu noch gemeint, daß eine Gefährdung des Kindeswohls in Zukunft nicht auszuschließen sei, wenn diesem Wunsch nicht entsprochen wird. Deshalb der Mutter die Obsorge über den Minderjährigen zu entziehen und sie dem Vater zuzuteilen, erscheint jedoch nicht gerechtfertigt.

Daß der Minderjährige durch die Rückholaktion seiner Mutter (deren sachliche Rechtfertigung außer Zweifel steht, mag sie auch zu drastisch ausgefallen sein) erheblich irritiert wurde, ist anzunehmen, desgleichen die Tatsache, daß dadurch Beziehungsschwierigkeiten zwischen Mutter und Kind entstanden sind oder vertieft wurden. Diese Irritationen müßten jedoch irreversibel sein, um eine so einschneidende Maßnahme wie den Entzug des Obsorgerechtes begründen zu können (vgl EFSlg 71.852). Dafür fehlt im konkreten Fall jeglicher Anhaltspunkt. Auch der Umstand, daß der durchaus ernst zu nehmende Wille des Minderjährigen, bei seinem Vater zu bleiben, gebrochen wurde, reicht hiefür nicht aus. Über den Willen eines beinahe vierzehnjährigen Kindes soll sich das Gericht zwar nicht leichtfertig hinwegsetzen (vgl EFSlg 68.809), doch kann der Wunsch des Kindes, den Pflegeplatz zu wechseln, nicht der einzige Grund für die mit dem angestrebten Obsorgewechsel verbundene Entziehung der Rechte des anderen Elternteils sein (vgl EFSlg 62.880; EFSlg 71.840; 4 Ob 1625/92 ua). Genau darauf baut jedoch die rekursgerichtliche Entscheidung auf. Seine Befürchtung, das Wohl des Minderjährigen könnte in Zukunft gefährdet sein, würde man ihn zu einem Verbleiben bei der Mutter zwingen, läßt die Entscheidung, der unzweifelhaft erziehungstüchtigen Mutter die Obsorge zu entziehen, (derzeit) nicht zu, weil nur sichere Prognosen über den Einfluß des Obsorgewechsels auf das Kindeswohl eine so schwerwiegende Maßnahme rechtfertigen (vgl EFSlg 71.826).

Der Antrag des Vaters, ihm die Obsorge über den Minderjährigen zu übertragen, war daher abzuweisen. Da das Ausmaß des ihm gleichzeitig eingeräumten Besuchsrechts schon bei der Anrufung der zweiten Instanz kein besonderer Streitpunkt war, konnte der Beschluß des Erstgerichtes auch in diesem Punkt wieder hergestellt werden.

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