OGH 10ObS289/94

OGH10ObS289/9428.3.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Michael Manhard (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag.Ernst Löwe (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann W*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Jörg Hobmeier und Dr.Hubertus Schumacher, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, wegen Invaliditätspension infolge Rekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5. Oktober 1994, GZ 6 Rs 11/94-23, womit das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 21. April 1994, GZ 43 Cgs 53/93f-18, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Rekurskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid vom 18.2.1993 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 20.11.1992 auf Invaliditätspension ab. Er genieße keinen Berufsschutz und könne auf dem Arbeitsmarkt bewertete und zumutbare Tätigkeiten ausüben.

Das auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.12.1992 gerichtete Klagebegehren stützt sich im wesentlichen darauf, daß der als angelernter Fernfahrer im internationalen Verkehr tätig gewesene Kläger wegen seines körperlichen Zustandes nicht mehr imstande sei, entsprechende Tätigkeiten zu verrichten. Einem LKW-Fernfahrer sei es nicht möglich, alle zwei Stunden eine Pause von zehn Minuten einzulegen.

Die Beklagte gestand zu, daß der Kläger in den letzten Jahren vor dem Stichtag ausschließlich in seinem angelernten Beruf als Berufskraftfahrer (§ 255 Abs 2 ASVG) beschäftigt war. Da er diesen Beruf jedoch weiterhin ausüben könne, sei das Klagebegehren abzuweisen.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte schuldig, dem Kläger ab Stichtag die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, ohne der Beklagten eine vorläufige Zahlung aufzutragen.

Nach den wesentlichen Tatsachenfeststellungen kann der am 2.2.1939 geborene Kläger mit dem seit 1.12.1992 bestehenden, genau beschriebenen körperlichen Zustand ganztägig mit den üblichen Arbeitspausen leichte bis mittelschwere Arbeiten im Verhältnis 1:1 im Gehen, Stehen und Sitzen bzw im Wechsel dieser Körperhaltungen in geschlossenen Räumen und im Freien leisten. Etwa alle zwei Stunden sollte die Arbeitshaltung für mindestens zehn Minuten gewechselt werden. Das regelmäßige Heben und Tragen von Lasten über zehn kg, häufiges Bücken und Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sind zu vermeiden. Bei Tätigkeiten im Freien sollte ein Schutz vor Kälte und Nässe möglich sein. Bei den Wegen zum und vom Arbeitsplatz kann ein Fußmarsch von 500 bis 1000 m in einem Zuge bewältigt werden; es kann auch ein öffentliches Verkehrsmittel benützt werden. Der Kläger befand sich nach der Volksschule drei Jahre in einer kaufmännischen Lehre, legte aber keine Lehrabschlußprüfung ab. Seit 1959 war er durchgehend als Kraftfahrer, und zwar überwiegend im internationalen Fernverkehr tätig. Er besitzt die Führerscheine der Gruppen B, D und E. Ein Berufskraftfahrer führt Güter- oder Personentransporte mit Lastkraftwagen oder Bussen im Nah- und Fernverkehr (In- und Ausland) durch. Er sorgt für die Wartung und Instandsetzung des Fahrzeuges, prüft regelmäßig dessen Funktionsfähigkeit, plant Fahrrouten, führt Fahrtenbücher, erledigt verschiedene Verwaltungsaufgaben, zB Zollformalitäten im grenzüberschreitenden Verkehr, überwacht die Verladung der Waren und ist für die Einhaltung der transport- und sicherheitstechnischen Vorschriften verantwortlich. Wegen der langen Fahrten im Fernverkehr ist physische Ausdauer erforderlich. Eine Erkrankung der Wirbelsäule bedingt wegen des langen Sitzens und der Belastung durch Vibration des Fahrzeuges (insbesondere im Güterverkehr) wesentliche Einschränkungen. Bei der Tätigkeit des Berufskraftfahrers treten jedoch in der Regel nur leichte manuelle Belastungen auf; nennenswerte Hebe- und Tragebelastungen kommen nicht vor. "Unter Bedachtnahme auf die ärztlichen Einschränkungen (Körperhaltungswechsel nach etwa zwei Stunden für mindestens zehn Minuten) ist dem Kläger die weitere Ausübung seines Berufes als Berufskraftfahrer nicht mehr möglich. Auch kommen für ihn qualifizierte Verweisungsberufe nicht in Frage."

Der Kläger gelte daher als invalid iS des § 255 Abs 1 und 2 ASVG. Zum Stichtag 1.3.1994 lägen auch die Voraussetzungen der vorzeitigen Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit nach § 253d ASVG vor.

Die Beklagte bekämpfte das erstgerichtliche Urteil zur Gänze mit Berufung, in der sie unrichtige rechtliche Beurteilung geltend machte.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge; es hob das angefochtene Urteil auf, verwies die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück und erklärte den Rekurs an den Obersten Gerichtshof für zulässig.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts reichten die Verfahrensergebnisse für eine abschließende Beurteilung der allfälligen Invalidität des Klägers nach § 255 Abs 2 "bzw § 253d" ASVG nicht aus.

Nach § 15 Arbeitszeitgesetz (AZG) sei beim Lenken von Kraftfahrzeugen nach einer ununterbrochenen Lenkzeit von höchstens vier Stunden eine Lenkpause von einer halben Stunde (Abs 2) bzw einer Stunde (Abs 3) einzuhalten. Der Berufungswerberin sei grundsätzlich darin beizupflichten, daß es beim Leistungskalkül des Klägers durchaus möglich sei, nach zwei Stunden Fahrzeit eine Pause von zehn Minuten einzuhalten und die nach weiteren zwei Stunden Lenkzeit notwendige Pause um zehn Minuten zu kürzen. Eine solche individuelle Pausenregelung bedürfe keines besonderen Entgegenkommens des Dienstgebers. Dieser erleide, weil die gesamte Arbeitszeit und Fahrleistung des Kraftfahrzeuges nicht berührt werde, keine Nachteile. Das Erstgericht habe zu Unrecht auf die Berufspraxis abgestellt, nach der im Güterfernverkehr "überwiegend nicht einmal die gesetzlichen Lenkpausen eingehalten werden können". Bei der Beurteilung der Verweisbarkeit sei die Einhaltung der arbeitsrechtlichen bzw kollektivvertraglichen Normen durch den Dienstgeber vorauszusetzen. Könne der Pensionswerber diese wegen seines Leistungskalküls nicht exakt, wohl aber annähernd erfüllen, sei zu prüfen, ob die Abweichung ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich mache. Dies sei zumindest nach den bisherigen Verfahrensergebnissen hier der Fall. Entgegen der Annahme des Erstgerichtes komme die geschilderte Verletzung von Arbeitnehmerschutzbestimmungen sicherlich fallweise, jedoch sicherlich nicht als Regel- bzw Normalfall vor. Der Sachverständige für Berufskunde und ihm folgende das Erstgericht hätten die Auffassung vertreten, daß es die Verhältnisse im Stadtverkehr (Stau) gelegentlich mit sich bringen könnten, daß fallweise erst nach einer Lenkzeit von 2 1/2 bis 3 Stunden Pausen eingelegt werden könnten. Das bisherige orthopädische Gutachten schließe solche gelegentlich längeren Fahrzeiten nicht zweifelsfrei aus. Der Sachverständige habe nämlich ausgeführt, daß die deutliche Funktionsstörung der Halswirbelsäule und die leichten Funktionsstörungen der Brust- und der Lendenwirbelsäule einen Wechsel der Körperhaltung "in etwa alle zwei Stunden für zumindest 10 Minuten" notwendig machten. Es liege in der Natur eines Circa-Wertes, daß er in Ausnahmefällen ohne gesundheitliche Gefährdung auch kurzfristig überschritten werden könne. Bei einer ausgesprochenen Stausituation, die wohl nur bei zum Teil stehendem Verkehr denkbar sei, müßte es einem Lkw-Lenker auch möglich sein, in kürzeren Intervallen von beispielsweise 1/2 bis 1 Stunde das Fahrzeug kurzfristig zu verlassen, um längere Zwangshaltungen zu vermeiden. Es wäre also durchaus möglich, daß die medizinische Auflage eines Haltungswechsels im Falle kürzerer Fahrzeiten entsprechend modifiziert werden könnte. Der Sachverständige für Orthopädie werde auch zur Frage des medizinischen Leistungskalküls im allfälligen Stadt- bzw Stauverkehr Stellung nehmen können. Aus den gleichen Erwägungen sei auch eine Ergänzung des berufskundlichen Gutachtens erforderlich. Erst dann könne abschließend beurteilt werden, ob das Leistungskalkül des Klägers ihn vom einschlägigen Arbeitsmarkt ausschließe bzw ob ein Arbeitgeber darauf bei der Planung des Betriebsablaufes Bedacht nehmen könne "bzw akzeptieren" werde. Falls diese Fragen zu bejahen seien, werden konkrete Feststellungen über den Berufsverlauf des Klägers zu treffen sein, um eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Invalidität nach § 253d ASVG zu schaffen.

Gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes richtet sich der Rekurs des Klägers; er macht unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, den angefochtenen Beschluß abzuändern und in der Sache selbst das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen.

Die Beklagte erstattete keine Rekursbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nach § 519 Abs 1 ZPO iVm § 45 Abs 4, § 46 Abs 2 und § 47 Abs 2 ASGG in der hier gemäß Art X § 2 Z 7 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz-Novelle 1994 BGBl 624 noch anzuwendenden Fassung BGBl 1989/343 jedenfalls zulässig; er ist jedoch im Ergebnis nicht berechtigt.

(Die folgenden Paragraphen sind solche des Arbeitszeitgesetzes - AZG BGBl 1969/461 in der vom Stichtag bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung in erster Instanz [21.4.1994] geltenden Fassung vor der Novelle BGBl 1994/446.)

Die Arbeitszeit für Lenker und Beifahrer von Kraftfahrzeugen umfaßt unbeschadet des § 2 die Lenkzeiten, die Zeiten für sonstige Arbeitsleistungen und Zeiten der Arbeitsbereitschaft (§ 14 Abs 1). Nach einer ununterbrochenen Lenkzeit von höchstens vier Stunden ist eine Lenkpause einzulegen. Die Lenkzeit gilt auch dann als ununterbrochen, wenn sie durch kürzere Zeiträume unterbrochen wird, als sie nach den Abs 2 und 3 für Lenkpausen vorgesehen sind (§ 15 Abs 1). Beim Lenken der in § 14 Abs 2 lit a und b genannten Kraftfahrzeuge - ein der Personenbeförderung dienendes Kraftfahrzeug ohne Anhänger oder mit einem Anhänger, dessen Gesamtgewicht fünf Tonnen nicht überschreitet oder ein der Güterbeförderung dienendes Kraftfahrzeug ohne Anhänger oder mit einem Anhänger oder Sattelanhänger, sofern das höchste zulässige Gesamtgewicht des Kraftfahrzeuges (Sattelkraftfahrzeuges) zwanzig Tonnen nicht überschreitet - hat die Lenkpause mindestens eine halbe Stunde zu betragen (Abs 2 leg cit). Beim Lenken von anderen als den in § 14 Abs 2 lit a und b genannten Kraftfahrzeugen hat die Lenkpause mindestens eine Stunde zu betragen. Durch Kollektivvertrag kann zugelassen werden, daß diese Lenkpause durch zwei Lenkpausen von mindestens je einer halben Stunde ersetzt wird, von denen die erste innerhalb der ersten vier Stunden der Lenkzeit, die zweite innerhalb der restlichen Lenkzeit einzuhalten ist (Abs 3 leg cit). Für den Kraftfahrlinienverkehr können, soweit es für die Erstellung der Fahrpläne erforderlich ist, durch Verordnung oder im Einzelfall durch Bewilligung des zuständigen Bundesministeriums von Abs 1 bis 3 abweichende Pausenregelungen zugelassen werden (Abs 4 leg cit).

Eine Lenkpause liegt nur vor, wenn der Dienst am Steuer des Kraftfahrzeuges unterbrochen wird und dabei die Erholung des Lenkers gewährleistet wird. Das ist zB dann nicht der Fall, wenn der Lenker andere Arbeitsleistungen zu erbringen hat (Grillberger, Arbeitszeitgesetz 101). Kürzere als die gesetzlich angeordneten oder kollektivvertraglich zugelassenen Unterbrechungen der Lenkzeit sind, wie sich aus § 15 Abs 1 Satz 2 ergibt, keine Lenkpausen (Grillberger aaO). Eine Ausnahmeverordnung iS des Abs 4 leg cit wurde nicht erlassen (Grillberger aaO 102).

Im Hinblich auf die dargestellten Bestimmungen des AZG ist dem Rekurswerber zwar insoweit beizupflichten, daß eine "individuelle" Lenkpausenregelung (durch den Lenker) nicht vorgesehen ist und daher gesetzwidrig wäre. Der Rekurswerber übersieht jedoch, daß der von ihm nach einer etwa zweistündigen sitzenden Tätigkeit beim Lenken eines Kraftfahrzeuges etwa zehn Minuten notwendige Wechsel der Körperhaltung nicht nur in einer Lenkpause iS des AZG möglich ist. So wird es zB im Kraftfahrlinienverkehr an den Endstellen Zeiten geben, die keine Lenkpausen in diesem Sinn sind, weil sie entweder die gesetzlich geforderte Dauer nicht erreichen, oder weil der Lenker währenddessen andere Arbeitsleistungen zu erbringen hat. Diese Stehzeiten könnten dem Kläger jedoch den aus gesundheitlichen Gründen erforderlichen Wechsel der Körperhaltung ermöglichen, weil er während dieser Fahrpausen nicht hinter dem Lenkrad sitzen müßte, sondern stehen und im oder auch außerhalb des Fahrzeuges gehen könnte. Es darf auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß während einer längeren Fahrt fallweise Unterbrechungen zwecks Verrichtung der Notdurft erforderlich werden.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher zu erörtern und festzustellen sein, ob es eine ausreichende Anzahl von Lenkerarbeitsplätzen gibt, die dem Kläger neben den gesetzlichen Lenkpausen iS des AZG den wegen seines Gesundheitszustandes notwendigen kürzeren Wechsel der Körperhaltung ermöglichen. In diesem Sinn ist die vom Berufungsgericht im Aufhebungsbeschluß vertretene Rechtsansicht zu modifizieren. Die vom Berufungsgericht gewünschte Präzisierung des Leistungskalküls bleibt jedoch weiterhin sinnvoll.

Schon jetzt sei darauf hingewiesen, daß die §§ 13 bis 15 AZG durch Art I Z 2 BG über die Änderung des Arbeitszeitgesetzes und des Arbeitsruhegesetzes BGBl 1994/446 wesentlich geändert wurden. Diese Änderungen traten gemäß Art I Z 18 der zit Novelle mit 1.7.1994 in Kraft. Sie werden im fortgesetzten Verfahren für die Zeit ab 1.7.1994 zu berücksichtigen sein.

Die vom Berufungsgericht gewünschten ergänzenden Feststellungen im Hinblick auf die Entscheidung nach § 253d ASVG sind hingegen entbehrlich. Diese Bestimmung regelt die vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, die keine Invaliditätspension iS des § 254 leg cit ist. Der durch die 51. ASVGNov BGBl 1993/335 eingeführte § 253d ASVG gilt seit 1.7.1993; er ist nach der Übergangsvorschrift des § 551 Abs 6 leg cit nur auf Versicherungsfälle anzuwenden, in denen der Stichtag nach dem 30.6.1993 liegt. Dies könnte zwar zutreffen, weil der Kläger am 2.2.1939 geboren wurde und daher ab einem Stichtag 1.3.1994 das 55. Lebensjahr vollendet hätte. Diebezügliche Verfahrensvoraussetzung wäre aber, daß der Versicherungsträger über einen Antrag des Klägers auf vorzeitige Alterspension wegen verminderter Arbeitsfähigkeit bereits mit Bescheid entschieden oder den Bescheid nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem Eingang des Antrags auf Zuerkennung der Leistung erlassen hätte (§ 67 Abs 1 ASGG).

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Rekurskosten beruht auf dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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