Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 11.1.1994 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 30.8.1993 auf Pflegegeld ab; sein Pflegebedarf beschränke sich auf die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände und die Pflege der Leib- und Bettwäsche und betrage durchschnittlich nicht mehr als 50 Stunden monatlich.
Dieser Bescheid ist durch die innerhalb der Frist von drei Monaten ab seiner Zustellung (§ 67 Abs 2 ASGG idF BGBl 1994/110) erhobene Klage zur Gänze außer Kraft getreten (§ 71 Abs 1 ASGG). Ihr iS des § 82 Abs 1 bis 4 leg cit hinreichend bestimmtes Begehren richtet sich auf Pflegegeld (in Höhe) der Stufe 1 oder 2 im gesetzlichen Ausmaß ab 1.8.1993. Es stützt sich darauf, daß der Kläger auf Grund seines körperlichen Zustandes (Amputation dreier Zehen links, Neuropathie, Diabetes und beschränkte Beweglichkeit der linken Schulter) einen durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 50 bzw 75 Stunden habe.
Die Beklagte beantragte aus den Gründen ihres Bescheides die Abweisung des Klagebegehrens.
Das Erstgericht holte zwei ärztliche Sachverständigengutachten ein.
Im schriftlichen orthopädisch-chirurgischen Gutachten ON 6 AS 6 wurden eine Kontraktur der etwas muskelverschmächtigten linken Schulter und eine schwere periphere Durchblutungsstörung in beiden unteren Extremitäten mit Gangrän im linken Vorfußbereich nach Amputation der ersten drei Zehen links sowie massiver Verdickung des linken Unterschenkels und des linken Sprunggelenkes und nicht tastbare Fußpulsen bei ansonsten unaufälligem orthopädischem Befund diagnostiziert. Der linke Arm kann nur bis 90 Grad gehoben und abgespreizt werden, die Beweglichkeit des (linken) Unterschenkels ist zu 2/3 eingeschränkt. Der Kläger kann sich selbständig an- und auskleiden, waschen, die Toilette aufsuchen und sich (danach) reinigen, einen Verband anlegen und komplette Mahlzeiten (Hausmannskost) zubereiten, "die dazu notwendigen Lebensmittel müssen ihm zur Verfügung gestellt werden". Er kann einfache Reinigungsarbeiten (zB Staubabwischen in Tischhöhe) durchführen, benötigt aber für gröbere und zur Versorgung der großen Wäsche Hilfe. Er kann die vorhandene Gasetagenheizung warten.
Der Sachverständige für innere Medizin diagnostizierte in seinem schriftlichen Gutachten ON 7 AS 13-15: Diabetes (seit der Kindheit, seit zwei Jahren insulinpflichtig), Bluthochdruck, Zustand nach Herzinfarkt (1984) und nach Zehenamputation. Der Kläger braucht zur Nahrungsaufnahme, zum An- und Auskleiden, zur Notdurftverrichtung, zum Wechsel der Körperhaltung, zur Fortbewegung, zum Aufwärmen von Speisen und zur Zubereitung kompletter Mahlzeiten keine Hilfe, wohl aber zur körperlichen Reinigung. Oberflächliche Reinigung der Wohnung, Bettenüberziehen und Wartung des Ofens sind ihm zumutbar, gründliche Reinigung der Wohnung und der Hauswäsche sind ihm teilweise zumutbar, Fensterputzen ist ihm nicht zumutbar. Im Hinblick auf Tätigkeiten außerhalb der Wohnung ist die Beweglichkeit und daher auch das Einkaufen erschwert. Die Beschaffung von Brennmaterial ist unmöglich (der Kläger heizt allerdings nach eigenen Angaben mit einer Gasetagenheizung); die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist möglich.
In der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 12.7.1994 ON 11 AS 23 ergänzten die Sachverständigen ihre schriftlichen Gutachten. Der Sachverständige für Orthopädie und Chirurgie ergänzte, daß der Kläger beim Ausgehen sicher Hilfe brauche und ohne solche nicht regelmäßig den Arzt aufsuchen könne. Wegen des Zustandes des Fußes sei es überhaupt fraglich, ob Ausgänge ratsam seien. Der Internist stellte klar, er habe in seinem schriftlichen Gutachten deshalb angeführt, daß die körperliche Reinigung nur mit Hilfe möglich sei, weil ihm der Kläger die Behinderung seines Schultergelenkes geschildert habe. Diese Beschwerden seien aber grundsätzlich chirurgisch-orthopädisch zu bewerten. Wenn der Sachverständige dieses Fachgebietes meine, daß (diesbezüglich) keine Einschränkung vorliege, habe dessen Gutachten den Vorrang. In seinem schriftlichen Gutachten seien die Einschränkungen durch den Diabetes berücksichtigt. Zusammenfassend bleibe es seit Antragstellung beim chirurgischen Gutachten ohne gegenseitige Leidensbeeinflussung.
Das Erstgericht verurteilte die Beklagte, dem Kläger ab 1.9.1993 Pflegegeld der Stufe 1 "im gesetzlichen Ausmaß" zu gewähren, ohne die bestimmte Höhe der zugesprochenen Leistung zu nennen und ohne eine Leistungsfrist anzuordnen.
Es stellte fest, daß der 46-jährige Kläger an den von den Sachverständigen diagnostizierten Zuständen leide. Deshalb sei er nicht mehr in der Lage, Lebensmittel und Medikamente einzukaufen, benötige auch für das Aufsuchen von Ärzten und sonstige Ausgänge Mobilitätshilfe iwS und auch Hilfe bei der Pflege der Leib- und Bettwäsche und bei der Wohnungsreinigung. Wegen der Behinderung der Schulter einerseits und der offenen Wunde am Fuß andererseits brauche er aber auch teilweise Hilfe bei der täglichen Körperpflege. Bei der letzten Feststellung folgte das Erstgericht den Ausführungen des internistischen Sachverständigen. Dieser habe seine Begutachtung zwar im Hinblick auf die anderslautende chirurgische Begutachtung eingeschränkt. Es erscheine aber lebensnah, daß der Kläger angesichts der offenen Wunde am Fuß und der schmerzhaft bewegungseingeschränkten Schulter zB nicht ohne Unterstützung duschen oder baden oder sich die Füße waschen könne.
Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes sei für die Hilfsverrichtungen nach § 2 (Abs 2 und 3) der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz (BGBl 1993/314) insgesamt ein - auf einen Monat bezogener - fixer Zeitwert von 40 Stunden anzunehmen. Für die tägliche Körperpflege sei nach § 1 (Abs 4) dieser Verordnung ein zeitlicher Mindestwert von 2 x 25 Minuten, monatlich also 25 Stunden festgelegt. Da der Pflegebedarf des Klägers durchschnittlich 65 Stunden monatlich betrage, habe er nach § 4 Abs 2 Bundespflegegeldgesetz - BPGG (BGBl 1993/110) Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 1.
Gegen dieses Urteil erhob die Beklagte Berufung. Unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung infolge unrichtiger Beweiswürdigung bekämpfte sie die Feststellung, daß der Kläger auch zumindest teilweise Hilfe bei der täglichen Körperpflege benötige. Den Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache führte sie dahin aus, ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichtes, daß der Kläger Hilfe beim Baden, Duschen bzw Füßewaschen benötige, sei der (dafür) angesetzte Wert von 25 Stunden monatlich überhöht. Da diese Hilfsverrichtungen nicht täglich anfielen, könne nicht von dem in der Einstufungsverordnung festgelegten Mindestwert ausgegangen werden. Nach neuerer Judikatur des Obersten Gerichtshofes sei für das Baden ein Betreuungsaufwand von vier Stunden monatlich anzunehmen. Der Pflegebedarf des Klägers betrage daher nur 44 Stunden monatlich, so daß kein Anspruch auf Pflegegeld bestehe.
Das Berufungsgericht gab der Berufung nicht Folge.
Zur Beweisrüge verwies es auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Nach diesem sei das Erstgericht durchaus berechtigt gewesen, aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung und Menschenkenntnis festzustellen, daß der Kläger wegen der offenen Wunde am Fuß und der schmerzhaft bewegungseingeschränkten Schulter zB nicht ohne Unterstützung duschen oder baden bzw sich die Füße waschen könne. "Inwieweit diese Begründung des Erstgerichtes nicht nachvollziehbar sein soll," sei "für das Berufungsgericht nicht erkennbar." Es übernahm daher auch die bekämpfte Feststellung und legte sie seiner Entscheidung zugrunde.
Zur Rechtsrüge führte das Berufungsgericht aus: "Insofern die beklagte Partei in ihrer Rechtsrüge die Meinung vertritt, der Pflegebedarf des Klägers übersteige keinesfalls 50 Stunden pro Monat, weshalb die Voraussetzungen für die Gewährung der Pflegestufe 1 nicht gegeben seien, ist die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt, weil sie nicht vom festgestellten Sachverhalt ausgeht. Es erübrigen sich daher weitere Ausführungen des Berufungsgerichtes (SSV-NF 1/28 ua)."
In der Revision macht die Beklagte Aktenwidrigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache geltend; sie beantragt, das angefochtene Urteil durch Abweisung des Klagebegehrens abzuändern oder es allenfalls aufzuheben.
Rechtliche Beurteilung
Der Kläger erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Die Revision ist nach § 46 Abs 3 ASGG in der gemäß Art X § 2 Z 7 Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz-Novelle 1994 BGBl 624 in diesem Fall noch anzuwendenden Fassung BGBl 1989/343 zulässig; sie ist auch iS des Eventualantrages berechtigt.
Die geltend gemachte Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Das Berufungsgericht hatte gegen die in der Berufung bekämpfte erstgerichtliche Feststellung keine Bedenken. Es hielt nämlich die Überlegungen, aus denen das Erstgericht diesbezüglich nicht den ärztlichen Gutachten, sondern seiner eigenen Lebenserfahrung folgte, nicht nur für nachvollziehbar, sondern offensichtlich auch für richtig. Damit nahm es selbst eine Beweiswürdigung vor. Diese kann vom Revisionsgericht nicht überprüft werden, weil unrichtige Beweiswürdigung nicht zu den im § 503 ZPO abschließend aufgezählten zulässigen Revisionsgründen zählt.
Das Berufungsgericht hat sich mit der Beweiswüdigungsrüge befaßt und seine diesbezüglichen Überlegungen im angefochtenen Urteil festgehalten. Daher liegt die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) insoweit nicht vor (Kodek in Rechberger, ZPO § 503 Rz 3).
Die Revisionswerberin macht aber zutreffend geltend, daß das Berufungsverfahren deshalb an einem wesentlichen Verfahrensmangel iS des § 503 Z 2 ZPO leidet, weil das Berufungsgericht die in der Berufung bekämpfte rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes zu Unrecht nicht überprüfte (SSV-NF 5/18). Entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes wurde der Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung - wie sich aus dem schon oben dargestellten diesbezüglichen Teil der Berufungsschrift ergibt - jedenfalls teilweise gesetzgemäß ausgeführt (SSV-NF 8/37; Kodek in Rechberger, ZPO § 471 Rz 9 mwN). Es wurde nämlich - wie dies die ZPO für die Revision (§ 506 Abs 2) und den Rekurs (§ 520 Abs 2) ausdrücklich anordnet - dargelegt, daß die rechtliche Beurteilung der Sache der Berufungswerberin deshalb unrichtig erscheint, weil das Erstgericht die im Zusammenhang mit der Körperpflege notwendigen Maßnahmen zu Unrecht als "tägliche Körperpflege" iS des § 1 Abs 4 Einstufungsverordnung zum BPGG beurteilt und dafür zu Unrecht den in der zit Verordnungsstelle für "tägliche Körperpflege" festgelegten zeitlichen Mindestwert von 2 x 25 Minuten täglich angesetzt habe. Dabei ging die Rechtsmittelwerberin ausdrücklich von den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen einschließlich der bekämpften und in der Beweiswürdigung präzisierten Feststellung aus, daß der Kläger infolge der Behinderung der Schulter und der offenen Wunde am Fuß zumindest teilweise Hilfe bei der täglichen Körperpflege benötige, weil er sich zB nicht ohne Unterstützung duschen oder baden bzw die Füße waschen könne.
Das Berufungsgericht hätte daher die rechtliche Beurteilung allseitig überprüfen müssen (SSV-NF 3/127; Kodek in Rechberger, ZPO § 471 Rz 9 mwN).
Deshalb ist das angefochtene Urteil aus dem Grunde des § 503 Z 2 ZPO aufzuheben; die Sozialrechtssache ist an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verhandlung zurückzuverweisen (§ 510 Abs 1 ZPO). Im Rahmen der bei der Erledigung der Rechtsrüge vorzunehmenden allseitigen Überprüfung wird auch zu prüfen sein, ob die bisherigen Tatsachenfeststellungen zu einer gründlichen Beurteilung ausreichen, inwieweit der Kläger im Zusammenhang mit der Körperpflege Hilfe braucht.
Der im § 503 Z 4 ZPO bezeichnete Revisionsgrund, daß das Urteil des Berufungsgerichtes auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache beruht, liegt nicht vor, weil das Berufungsgericht eine solche Beurteilung - wenn auch zu Unrecht - abgelehnt hat (SSV-NF 5/18 ua).
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