OGH 10ObS270/94

OGH10ObS270/946.12.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag.Dr.Friedrich Hötzl (Arbeitgeber) und Helmut Stöcklmayer (Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Nuri R*****, Arbeiter, ***** vertreten durch Dr.Peter Rudeck und Dr.Gerhard Schlager, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 1.August 1994, GZ 33 Rs 66/94-21, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 21.Februar 1994, GZ 8 Cgs 149/93x-14, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben, die Sache wird zur Ergänzung des Verfahrens und zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 18.5.1947 geborene Kläger hat in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1.10.1992) 136 Beitragsmonate der Pensionsversicherung erworben, davon 52 als Betonierer, 14 als Hausbesorger, 47 als Kraftfahrer und 23 als Kranfahrer. Seit 2.3.1992 ist er im Krankenstand. Unter Berücksichtigung der bestehenden Leidenszustände ist der Kläger in der Lage, leichte und mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Arbeiten, die Bücken unter Kniehöhe erfordern, Arbeiten in gebückter Körperhaltung und solche, die gehäuftes Bücken erfordern (öfter als fünfmal pro Stunde unter Tischhöhe) sind nicht möglich. Der Kläger ist auch nicht in der Lage, Arbeiten unter besonderem Zeitdruck (Band- und Akkordarbeiten), Arbeiten an erhöht exponierten Stellen und solche im dauernden Gehen zu verrichten. Der Kläger kann auch keine Arbeiten verrichten, die eine besondere Geschicklichkeit oder Kraft der linken Hand oder Feinarbeiten mit der linken Hand erfordern.

Mit Bescheid vom 25.1.1993 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter den auf Gewährung der Invaliditätspension gerichteten Antrag des Klägers vom 7.9.1992 ab.

Mit der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt der Kläger, die beklagte Partei zur Gewährung der Invaliditätspension zu verpflichten. Er habe im Beobachtungszeitraum überwiegend die angelernten Berufe eines Betonierers und eines Kranführers ausgeübt; diese könne er nicht mehr verrichten, so daß die Voraussetzungen für den erhobenen Anspruch erfüllt seien.

Die beklagte Partei beantragt die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht wies das Begehren des Klägers ab. Der Kläger genieße schon deshalb keinen Berufsschutz, weil er keine der Tätigkeiten während mehr als der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübt habe. Seine Invalidität sei daher nach § 255 Abs 3 ASVG zu beurteilen. Da der Kläger noch in der Lage sei, als Portier, Lagerplatzaufseher, Sortier- oder Verpackungsarbeiter tätig zu sein, bestehe kein Anspruch auf Invaliditätspension.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es erachtete die vom Kläger gegen die Beweiswürdigung vorgetragenen Einwendungen nicht für berechtigt, verneint das Vorliegen von Verfahrensmängeln und trat im wesentlichen der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts bei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit der Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des Eventualantrages berechtigt.

Zu Recht wendet sich der Kläger gegen die Rechtsansicht der Vorinstanzen, daß Berufsschutz nur bestehe, wenn eine bestimmte Tätigkeit während des Beobachtungszeitraumes von 15 Jahren vor dem Stichtag während mehr als der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübt wurde. Gemäß § 255 Abs 1 ASVG gilt ein Versicherter, der überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig war, als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist. Gemäß § 255 Abs 2 ASVG gelten solche erlernte (angelernte) Berufstätigkeiten als überwiegend, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wurden.

Aus der Verwendung des Plurals ("Berufe") in § 255 Abs 1 und 2 ASVG ergibt sich, daß nicht gefordert wird, daß ein und derselbe Beruf während der Beitragsmonate im Beobachtungszeitraum überwiegend ausgeübt wird. Berufsschutz wird vielmehr auch erworben, wenn während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag mehrere erlernte oder angelernte Berufe ausgeübt wurden, sofern nur die Summe der dadurch erworbenen Beitragsmonate die Zahl der Beitragsmonate, während derer unqualifizierte Tätigkeiten verrichtet wurden, übersteigt. Dies zeigt auch klar der letzte Satzteil des § 255 Abs 1 (arg "in jedem dieser Berufe"). Darin unterscheiden sich die Voraussetzungen für die Invaliditätspension gemäß § 255 Abs 1 und 2 ASVG vom Fall der vorzeitigen Alterspension gemäß § 253 d ASVG (früher Invaliditätspension gemäß § 255 Abs 4 ASVG). Im letzteren Fall stellt das Gesetz (§ 253 d Abs 1 Z 3 ASVG) unter Verwendung der Einzahl darauf ab, daß während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag eine gleiche oder gleichartige Tätigkeit ausgeübt wurde und der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, durch diese Tätigkeit wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Der Unterschied zu der Fassung des § 255 Abs 1 und 2 ASVG tritt dabei deutlich zu Tage.

In diesem Sinne hat der Oberste Gerichtshof bereits entschieden, daß dann, wenn der Versicherte in den letzten 15 Jahren in mehreren erlernten Berufen tätig war, Invalidität dann vorliegt, wenn seine Arbeitsfähigkeit nicht nur im zuletzt ausgeübten oder überwiegend ausgeübten, sondern in jedem dieser Berufe auf weniger als die Hälfte der eines gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist (SSV-NF 6/19, 5/65, 4/143, zuletzt 10 Ob S 75/94 mwN).

Daß der Kläger nicht nur einen Beruf während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausgeübt hat, steht daher der Annahme des Berufsschutzes grundsätzlich nicht entgegen. Ein solcher könnte auch bestehen, wenn der Kläger mehrere angelernte (dafür, daß der Kläger einen Beruf erlernt hätte, bestehen keine Anhaltspunkte) Berufe in Summe während mehr als der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübt hätte.

Der Kläger behauptete, er habe in den letzten 15 Jahren die angelernten Berufe eines Maurers, Kranführers und Zimmerers überwiegend ausgeübt. Dieses Vorbringen blieb ungeprüft. Das Erstgericht stellte fest, daß der Kläger als Betonierer, Kranfahrer, Hausmeister und Kranführer tätig gewesen sei, ohne zu klären, welche Tätigkeiten der Kläger dabei im einzelnen verrichtete. Ohne genaue Feststellung des Inhaltes der verrichteten Tätigkeiten kann aber nicht beurteilt werden, ob diese im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG qualifiziert waren. Es trifft wohl zu, daß der Oberste Gerichtshof ausgesprochen hat, daß es sich bei der Tätigkeit eines Kranführers nicht um einen angelernten Beruf handelt (SSV-NF 7/90). Diese Aussage bezieht sich jedoch nur auf die Tätigkeit des Kranführens selbst. Hätte der Kläger etwa auch in größerem Umfang Reparatur- und Wartungsarbeiten verrichtet, könnte eine qualifizierte Tätigkeit vorliegen. In gleicher Weise sagt die Berufsbezeichnung Betonierer nichts darüber aus, ob der Kläger dabei nicht qualifizierte Maurer- oder Schalertätigkeiten verrichtete. Sollten die Voraussetzungen für die Annahme eines angelernten Berufes durch diese Tätigkeiten erfüllt sein, so käme dem Kläger Berufsschutz zu, weil sie zusammen während mehr als der Hälfte der Beitragsmonate ausgeübt wurden.

Zu diesen Fragen fehlen sohin wesentliche Feststellungen. Abgesehen davon, daß der Kläger entsprechende Prozeßbehauptungen aufstellte, wäre das Erstgericht verpflichtet gewesen, die für die Beurteilung der Frage, ob der Kläger Berufsschutz genießt, wesentlichen Fragen von Amts wegen zu prüfen (SSV-NF 4/119 ua). Das Verfahren erweist sich daher ergänzungsbedürftig.

Der Kostenvorbehalt stützt sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte