OGH 2Ob596/94

OGH2Ob596/9424.11.1994

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj.Dimitre N*****, geboren am 20.2.1977, in Obsorge bei seiner Mutter Violetta N*****, ***** infolge außerordentlichen Rekurses des Magistrates der Stadt Linz-Amt für Jugend und Familie als Vertreter des Kindes gemäß § 9 Abs 2 UVG gegen den Beschluß des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 29.September 1994, GZ 18 R 388/94-68, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Linz vom 31.März 1994, GZ 1 P 179/91-59, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

Für das mj.Kind wurde der Unterhalt zuletzt mit Beschluß des Erstgerichtes vom 18.1.1993 in Höhe von S 2.200 ab 1.11.1992 festgesetzt. Damals gingen sowohl das Jugendamt als auch der Vater von einem Nettoeinkommen von rund 10.000 S aus. Am 14.12.1993 beantragte der Vater die Herabsetzung des monatlichen Unterhaltes auf S 1.500 ab 15.12.1993. Er sei nämlich seit 1.12.1993 beim Amt für soziale Angelegenheiten als Sozialhilfearbeiter beschäftigt und verdiene derzeit netto monatlich S 5.560. Vorher sei er zwischen 13.5.1993 und 29.9.1993 arbeitslos gewesen und habe ein Arbeitslosenentgelt von S 7.362 monatlich bezogen. Zwischen 29.9.1993 und 1.12.1993 habe er kein Einkommen gehabt. Die Arbeitslosenunterstützung sei eingestellt worden, da er mit Aussicht auf die Anstellung am 1.12.1993 verschiedene Vorstellungstermine vom Arbeitsamt nicht mehr wahrgenommen habe. Auf Grund der angespannten wirtschaftlichen Situation sei es ihm nicht möglich, eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Er wohne in einem Sozialheim.

Das Jugendamt als Vertreter des Kindes sprach sich gegen die Unterhaltsherabsetzung aus. Eine Rücksprache mit dem Amt für soziale Angelegenheiten habe ergeben, daß der Vater nur auf Grund seiner Alkoholprobleme befristet voraussichtlich für ein Jahr als Sozialhilfearbeiter beschäftigt worden sei. Andere, insbesondere gesundheitliche Gründe würden den Kindesvater nicht an der Aufnahme einer Beschäftigung hindern. Der Alkoholismus des Vaters könne nicht zu Lasten des Kindes gehen.

Der Vater nahm hiezu Stellung, daß er bei der Leasing-Firma, bei der er zuletzt beschäftigt gewesen sei, selbst gekündigt habe, da er einem zu großen Firmenwechsel ausgesetzt worden sei. Damals hätte er zwischen S 10.000 und S 11.000 netto verdient. Er sei gesund und arbeitsfähig. Wie das Jugendamt darauf komme, daß er Alkoholismusprobleme habe, sei ihm unerfindlich. Er bemühe sich, eine besser bezahlte Arbeitsstelle zu finden.

Das Erstgericht gab dem Herabsetzungsantrag des Vaters statt und setzte den monatlichen Unterhaltsbetrag von S 2.200 mit Wirkung vom 15.12.1993 auf S 1.500 herab. Es stellte fest, daß der Vater vom 13.5.1993 bis 29.9.1993 Arbeitslosengeld von S 245,40 täglich bezogen hat. Er ist seit 1.12.1993 als Sozialhilfearbeiter beschäftigt und erhält monatlich S 5.560 netto. Außer für dieses Kind hat er für niemanden zu sorgen. Die Kindesmutter verfügt als Diplomkrankenschwester über ein eigenes Einkommen. Auch sie hat für sonst niemanden mehr zu sorgen. Rechtlich hielt das Erstgericht beim jetzigen Einkommen des Vaters einen höheren Unterhaltsbetrag als S

1.500 für unzumutbar.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Amtes für Jugend und Familie nicht Folge, erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig und führte folgendes aus:

Grundlage der Unterhaltsbemessung sei grundsätzlich das Einkommen des Unterhaltspflichtigen. Der Rekurswerber wolle unter Berufung auf die sogenannte Anspannungstheorie von einer höheren Bemessungsgrundlage ausgehen, nämlich dem fiktiven Einkommen aus der Arbeitslosenunterstützung. Mit der Anspannung seiner Leistungskraft könne der Unterhalt auf der Grundlage eines zwar nicht tatsächlich erzielten, wohl aber erzielbaren (also fiktiven) Einkommens bemessen werden. Alle Fähigkeiten und Kräfte seien bei Erlangung eines entsprechenden Einkommens einzusetzen. Den Unterhaltspflichtigen treffe die Obliegenheit, im Interesse seines Kindes alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen. Tue er dies nicht, so werde er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können. Im konkreten Fall müsse davon ausgegangen werden, daß der Rekurswerber nicht auf das frühere Einkommen von S 10.000 als Grundlage der Anspannung abstelle, sodaß dies außer Betracht gelassen werden könne. Die Frage, ob der Vater im Interesse seines Kindes verpflichtet sei, eine Arbeit als Sozialhilfearbeiter auszuschlagen und stattdessen weiterhin Arbeitslosenunterstützung zu beziehen, müsse verneint werden. Grundsätzlich sei es gesetzlich wünschenswert, wenn jemand seinen Lebensunterhalt durch Arbeit und nicht durch Sozialleistungen finanziere. Auch wenn seine Tätigkeit als Sozialhilfearbeiter nur eine vorübergehende und vorläufig auf ein Jahr befristete sein sollte, handle es sich dabei doch um ein relativ sicheres Einkommen, wenn auch in niedrigerer Höhe. Demgegenüber habe der Vater auch nur noch 98 Resttage Arbeitslosengeld offen gehabt, in denen er Arbeitslosenunterstützung in der Höhe von S 7.362 monatlich beziehen hätte können. Auf eine Arbeitslosenunterstützung könne der Unterhaltspflichtige dann nicht angespannt werden, wenn er ein tatsächliches Arbeitseinkommen beziehe, das zwar niedriger als die Arbeitslosenunterstützung sei, doch ein gesichertes, weil dauerhafteres Einkommen darstelle. Die Beschäftigung als Sozialhilfearbeiter schließe auch nicht aus, daß der Vater daneben eine besser bezahlte Arbeitsstelle finde und seinen Arbeitsplatz wechsle.

Der ordentliche Revisionsrekurs im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG sei deswegen nicht zulässig, weil bei der Frage der Anspannungstheorie von den Grundsätzen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ausgegangen worden sei und doch nur die konkreten Umstände des Einzelfalles für die Verneinung der Anspannung maßgeblich gewesen seien, sodaß keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne der zitierten Gesetzesstelle vorliege.

Gegen diese Rekursentscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Amtes für Jugend und Familie mit dem Antrag, die Herabsetzungsentscheidung aufzuheben und die Rechtssache an das Erstgericht oder das Rekursgericht zurückzuverweisen.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und auch berechtigt.

Der Rechtsmittelwerber führt im wesentlichen aus, nie beabsichtigt zu haben, den Kindesvater auf die mögliche Arbeitslosenunterstützung anzuspannen. Im gegenständlichen Fall verdiene aber ein seinen eigenen Angaben nach gesunder und arbeitsfähiger Kindesvater ein Einkommen in einer Einrichtung, die grundsätzlich geschaffen worden sei, um Menschen, deren geistige und/oder körperliche Voraussetzungen nicht erlaubten, sie in einer Vollzeitbeschäftigung einzusetzen, doch auch unter geringeren Belastungen in einen Arbeitsprozeß miteinbeziehen zu können. Der Kindesvater habe eine derartige Beschäftigung angenommen, obwohl er sich lediglich beim Arbeitsamt wieder hätte melden müssen, um wieder als Arbeitssuchender geführt und mit Stellenangeboten versorgt zu werden. Er begebe sich daher der Möglichkeit, über das Arbeitsamt eine Arbeitsstelle zu erhalten, um ein Einkommen zu erzielen, mit dem er seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechend zum Unterhalt seines Sohnes beitragen könne.

Hiezu wurde erwogen:

Gemäß § 140 Abs 1 ABGB haben die Eltern nach Kräften zur Deckung des Bedarfes des Kindes beizutragen. Sie müssen ihre gesamten persönlichen Möglichkeiten, besonders ihre Leistungskraft unter Berücksichtigung ihrer Ausbildung, ihrer beruflichen Möglichkeiten und ihrer Fähigkeiten ausschöpfen, um ihrer Unterhaltspflicht nachkommen zu können. Mit der Anspannung der Leistungskraft des Unterhaltspflichtigen kann der Unterhalt auf der Grundlage eines zwar tatsächlich nicht erzielten, aber wohl erzielbaren Einkommens bemessen werden (Pichler in Rummel2 § 140 ABGB Rz 6; RZ 1991/25). Die Anspannung darf freilich nicht zu einer bloßen Fiktion führen, sondern muß immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den Zeiträumen, für die die Unterhaltsbemessung erfolgt, unter Berücksichtigung seiner konkreten Fähigkeiten und Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen in der Lage wäre (EFSlg 67.952; 2 Ob 576/94 ua). Die im Gesetz vorgesehene Anspannung eines Unterhaltspflichtigen greift immer dann Platz, wenn dem Unterhaltspflichtigen die Erzielung eines höheren als des tatsächlichen Einkommens zugemutet werden kann; die Anwendung dieses Grundsatzes ist nicht auf die Fälle bloßer Arbeitsunwilligkeit beschränkt. Der Verzicht auf die Erzielung eines höheren Einkommens, der nicht durch besondere Gründe gerechtfertigt ist, darf den Unterhalt des Kindes nicht schmälern (1 Ob 502/94).

Im vorliegenden Fall ist einerseits dem Rekursvorbringen zu entnehmen, daß dem Kindesvater von seinem letzten Arbeitgeber (offenbar einem Personal-Leasing-Unternehmen) keine Arbeit (bei Kunden dieses Unternehmens) mehr vermittelt werden konnte; das Arbeitsamt wollte sich in der Frage der Vermittelbarkeit nicht festlegen. Andererseits hat der Kindesvater selbst betont, gesund und arbeitsfähig zu sein.

Die Feststellungen der Vorinstanzen reichen nun nicht aus, um nachprüfen zu können, ob die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen vorliegen. Die über den Herabsetzungsantrag des Kindesvaters getroffene Entscheidung ist anhand dieser Feststellungen nicht nachvollziehbar.

Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben.

Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht - allenfalls unter Beiziehung eines Sachverständigen - die Entscheidungsgrundlagen im Hinblick auf die dargestellte Rechtslage zu ergänzen haben. Erst dann wird beurteilt werden können, ob der Vorwurf, der Kindesvater gebe sich mit dem Einkommen eines Sozialhilfearbeiters zufrieden und verzichte auf ein mögliches höheres Einkommen, berechtigt ist oder nicht.

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