OGH 1Ob609/94

OGH1Ob609/9411.10.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schubert als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schlosser, Dr. Schiemer, Dr. Gerstenecker und Dr. Rohrer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Gabriela B*****, vertreten durch Dr. Andreas Waldhof, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1. Adolf A***** und 2. Herta A*****, vertreten durch Dr. Heinrich Nagl, Rechtsanwalt in Horn, wegen S 115.845 s.A., infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes vom 24. März 1994, GZ 15 R 42/94-33, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Teilzwischenurteil des Landesgerichtes Krems an der Donau vom 23. Dezember 1993, GZ 4 Cg 263/93-28, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Teilurteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, daß das Teilzwischenurteil des Erstgerichtes wiederhergestellt wird.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin begehrte die Verurteilung der Beklagten zur ungeteilten Hand zum Ersatz ihres zuletzt mit S 115.645 bezifferten Schadens (Schmerzengeld und Verunstaltungsentschädigung) und die Feststellung, daß ihr die beiden Beklagten zur ungeteilten Hand für alle künftigen Nachteile aus dem Schadensereignis einzustehen hätten. Sie brachte vor, sie sei am 31.3.1992 vor dem Anwesen der Beklagten von deren auf der Straße frei umherlaufenden Bernhardinerrüden angefallen und verletzt worden.

Die Beklagten wendeten im wesentlichen ein, die Klägerin habe ihre Verletzung selbst verschuldet, weil sie versucht habe, den Hund der Beklagten von ihrer eigenen Hündin zu trennen. Dabei sei sie gegen den Bernhardiner gestoßen, der sich gewehrt habe.

Das Erstgericht sprach mit Teilzwischenurteil aus, daß das Leistungsbegehren dem Grunde nach zu Recht bestehe.

Es stellte fest, am 31.3.1992 sei die Klägerin gegen 13,30 Uhr in Begleitung ihrer Mutter und ihrer fünfjährigen Schäfermischlingshündin durch den Wohnort der Beklagten gegangen und habe dort ein Gasthaus gesucht; sie habe einen Kinderwagen mit ihrer fünf Monate alten Tochter geschoben. Dabei sei sie am Anwesen der Beklagten vorbeigekommen, in dem diese einen Bernhardinerrüden gehalten hätten. Das Tier habe sich im Garten des Anwesens aufgehalten, von dem es ungehindert auf die Straße habe laufen können. Als die Klägerin des Bernhardiners ansichtig geworden sei, habe sie das Halsband ihrer Hündin erfaßt und das Tier daran festgehalten. Der Rüde habe sich zunächst nicht auffällig verhalten, sei aber, als die Klägerin mit ihrer Begleitung bereits vorbeigegangen gewesen sei, der Gruppe langsam gefolgt. Dabei habe er sich der Hündin der Klägerin genähert und sie am Genitalbereich zu beschnuppern begonnen. Das habe die Hündin als Belästigung und „unerwünschte Überschreitung ihrer Individualdistanz“ empfunden. Sie habe ihren Kopf gewendet und dem Rüden im Gesichtsausdruck „aggressive Abwehr“ oder „ängstliche Abwehr“ bedeutet. Darauf sei der Bernhardiner über die Hündin hergefallen. Die Klägerin habe ihre Hündin wegziehen wollen und dabei ihr linkes Bein dem Bernhardiner entgegengestellt, der sich von jener Seite genähert habe, „aus der die Klägerin ihre Hündin“ habe wegziehen wollen. Das habe „in dem sexuelle Ziele verfolgenden Bernhardinerrüden den Eindruck eines Hindernisses und einer Abwehr“ erweckt, weshalb er die Klägerin in deren Unterschenkel gebissen habe.

Rechtlich meinte das Erstgericht, den Beklagten sei vorzuwerfen, daß sie das Tier nachlässig verwahrt hätten; der Rüde habe von ihrem Anwesen ohne weiteres auf die Straße gelangen können. Selbst wenn er vom Sachverständigen als gutmütig beschrieben werde, dürfe nicht übersehen werden, daß auch gutmütige Tiere insofern eine Gefahrenquelle darstellten, als Hunde nicht vernunftbegabt seien und ihr Verhalten vor allem bei Verfolgung sexueller Ziele unberechenbar sei. Die von solchen Tieren ausgehenden Gefahren erschöpften sich nicht in deren unkontrolliertem Auftauchen; sie könnten durch ihren Spieltrieb für Menschen gefährlich werden. Selbst gutmütigen Hunden dürfe daher nicht volle Bewegungsfreiheit gewährt werden, könnten sie dadurch in Kontakt mit fremden Menschen gelangen, weil sonst die Gefahr bestehe, daß sie diese durch instinktive Bewegungen angehen könnten. Aus der Tatsache, daß der Vorfall der erste gewesen sei, dürfe allein noch nicht auf die Ungefährlichkeit des Tieres geschlossen werden. Keinesfalls sei der Klägerin vorzuwerfen, sie habe sich ihre Verletzung selbst zuzuschreiben, weil sie versucht habe, die Hunde zu trennen, müsse doch dem Hundehalter zugebilligt werden, sein Tier vor Belästigungen zu schützen. In solchen Fällen müsse sogar eine Abwehrhandlung zulässig sein. Möge sich der Bernhardiner vielleicht auch durch die Klägerin angegriffen gefühlt haben, sei doch der objektive Sachverhalt maßgeblich und nicht, was einen Hund fühle.

Das Gericht zweiter Instanz wies das Leistungsbegehren der Klägerin mit Teilurteil ab, sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei, und stellte nach teilweiser Beweiswiederholung noch fest, der von den Beklagten gehaltene Bernhardiner sei „sehr gutmütig“, eine Bißverletzung sei nur dann erwarten, wenn sich das Tier von einem Menschen „erheblich attackiert“ fühle. Der Rüde sei auch nicht über die Schäferhündin der Klägerin „hergefallen“, sondern habe auf deren Abweisung lediglich instinktgemäß in der üblichen Weise durch Schnappen nach dem Nackenfell der Hündin reagiert, ohne daß sich diese dabei in Gefahr befunden hätte. Diese Instinkthandlung sei jedoch von der Klägerin und deren Mutter mißverstanden worden. Die Klägerin habe mit ihren Füßen nach dem Rüden getreten, ihre Mutter habe ihn an den Schwanzhaaren gerissen. Der Bernhardiner habe der Klägerin darauf die Bißverletzungen zugefügt und sich nur seiner besonderen Gutmütigkeit wegen nicht auch gegen deren Mutter gewandt.

Rechtliche Beurteilung

In rechtlicher Hinsicht führte das Gericht zweiter Instanz aus, die Auffassung des Erstgerichts, daß auch gutmütige Hunde - wie hier ein Fleischerhund in ländlicher Gegend - innerhalb des Anwesens eingesperrt werden müßten, damit sie nicht unbeaufsichtigt auf die Straße gelangen könnten, sei nicht zu teilen. Ausnahmen von dieser Regel bestünden nur in besonderen Fällen, vor allem wenn es um die Gefahren des Straßenverkehrs oder des Spieltriebs eines noch ganz jungen, aber schon schweren Hundes gehe. Beides spiele hier keine Rolle. Selbst wenn man mit dem Erstgericht annehmen wollte, daß eine solche Verwahrungspflicht auch hier bestünde, würde daher jedenfalls der Rechtswidrigkeits- bzw Gefährdungszusammenhang fehlen. Der Klägerin könne durchaus zugebilligt werden, daß sie ihr eigenes Tier - wenn auch zu Unrecht - in Gefahr wähnte. Da sie als Hundehalterin Sachverständige gemäß § 1299 ABGB sei, müßte ihr das nicht gerechtfertigte Treten nach dem Rüden als verschuldetes fahrlässiges Reizen angerechnet werden, doch bestehe schon von vornherein keine Haftung der Beklagten. Die Klägerin habe sich die Verletzungsfolgen wegen ihres grob unsachgemäßen Verhaltens selbst zuzuschreiben und verdanke es nur der besonderen Gutmütigkeit des Bernhardiners, daß nicht auch ihre Mutter, die ihn an den Schwanzhaaren gerissen habe, gebissen worden sei.

Die von der Klägerin dagegen erhobene Revision ist berechtigt.

Die dort behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt allerdings, wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat, nicht vor.

In rechtlicher Hinsicht gelangt das Gericht zweiter Instanz unter Berufung auf Reischauer (in Rummel, ABGB2 § 1320 Rz 18) zum Ergebnis, den Beklagten falle als Tierhaltern keine Vernachlässigung der ihnen durch § 1320 ABGB aufgetragenen Verwahrungs- und Beaufsichtigungspflicht zur Last, obschon der Bernhardinerrüde - ein kräftiges und massiges Tier - im Anwesen frei umherlief und ohne jedes Hindernis auf die Straße gelangen konnte, in Wahrheit also überhaupt nicht verwahrt war (ZVR 1970/201 ua); in der Tat meint Reischauer (aaO), das Umherlaufen an sich gutmütiger Hunde auf der Straße sei - ebenso wie in Haus und Hof - unbedenklich, soweit dadurch nicht der Straßenverkehr gefährdet sei; beiße ein gutmütiger Hund ohne besondere Einflüsse, scheitere ein darauf gestützter Schadenersatzanspruch schon am Rechtswidrigkeits(gefährdungs-)zusammenhang. In dieser allgemeinen Aussage kann der Meinung Reischauers indessen nicht beigetreten werden:

Die zum Anlaß der in § 1320 ABGB verankerten Verwahrungspflicht gemachte besondere Tiergefahr besteht in der allgemeinen Erfahrung, daß Tiere durch von ihren Trieben und Instinkten gesteuerten, aber nicht vernunftgemäß kontrollierten Bewegungen Schaden stiften (können). Schadensursache ist zwar bei Hunden nicht selten deren Bösartigkeit, vor allem Beißwütigkeit, doch erschöpfen sich auch die von gutmütigen Tieren ausgehenden Gefahren keineswegs darin, daß sie unbeaufsichtigt, aber unfähig, sich verkehrsgerecht zu verhalten, plötzlich auf öffentlichen Straßen auftauchen (JBl 1993, 315 mwN): Auch sonst können gutmütige Hunde für Menschen gefährlich werden; das trifft nicht bloß auf zwar schon kräftige und schwere, aber noch junge und verspielte Tiere, sondern auch - wie hier - auf bereits ältere Rüden zu, wenn sie sich triebhaft Hündinnen nähern, die von arglosen Passanten geführt werden, deren begreifliches Bemühen, ihre Hunde zu schützen, als Angriff deuten und dann trotz ihrer bisher bekundeten Gutmütigkeit zubeißen; daß die Folgen nachhaltiger sein können, wenn das Tier - wie etwa ein Bernhardinerrüde (vgl hiezu 6 Ob 633/78) - groß und massig ist, liegt auf der Hand, zumal der Betroffene durch das Tier dann auch umso eher zum Sturz gebracht werden kann. Entgegen der Auffassung des Gerichtes zweiter Instanz kann die gänzlich unterlassene Verwahrung bzw Beaufsichtigung eines großen Hundes nicht durch dessen erwiesene Gutmütigkeit allein gerechtfertigt werden; die Beklagten haben ihren Bernhardinerrüden nicht nur im Anwesen frei umherlaufen lassen, sondern nicht einmal dafür Sorge getragen, daß er nicht auf die Straße entweichen konnte. Auch wenn das Tier an sich gutmütig ist, waren sie als Tierhalter nicht von jeder Verwahrungs- und Beaufsichtigungspflicht befreit.

Keine Rede kann auch davon sein, daß es im vorliegenden Fall am Rechtswidrigkeits- bzw Gefährdungszusammenhang mangle: Schutzzweck des § 1320 ABGB ist die Vermeidung jedweden Schadens an Personen oder Sachen, der aus dem nicht durch Vernunft, sondern trieb- und instinktgesteuerten gefährlichen Verhalten von Tieren droht (ZVR 1985/45 uva); der den Tierhalterpflichten unterstellte Schutzzweck erstreckt sich nicht auf die typischen Gefahren des Straßenverkehrs bzw die mit der Bösartigkeit wie selbstverständlich verbundenen Gefahren, sondern - den vorher angestellten Erwägungen zufolge - auch auf die selbst aus dem Verhalten gutmütiger, unbeaufsichtigt umherlaufender Tiere drohenden Gefahren. Mangels jedweder Verwahrung bzw Beaufsichtigung des Rüden haben die Beklagten daher für den von der Klägerin geltend gemachten Schaden einzustehen, weil ihnen im Verfahren der Beweis nicht gelungen ist, die dem Tierhalter auferlegte Sorgfaltspflicht beachtet zu haben.

Vollends verfehlt sind die - mit Rücksicht auf die Verneinung der Halterhaftung der Beklagten - bloß theoretischen Überlegungen des Berufungsgerichtes zum Mitverschulden der Klägerin; diese Erwägungen versteigen sich zur Schlußfolgerung, die Klägerin verdanke es nur der „besonderen Gutmütigkeit“ des Tieres, daß nicht auch noch ihre Mutter gebissen wurde: Von dem nach § 1320 erster Satz ABGB für die Schadenszurechnung maßgeblichen „Reizen“ des Tieres kann nur dann gesprochen werden, wenn ein Mensch den Angriff des Tieres aus Mutwillen, Willkür oder sonstiger sachlich unberechtigter Einstellung durch sein Verhalten geradezu herausfordert (LwBetr 1971, 33 uva). Versuchte die Klägerin im verständlichen Bemühen, ihre Hündin vor Angriffen des körperlich überlegenen Rüden zu schützen, den Bernhardiner durch Fußtritte zu verjagen, so kann darin noch kein meßbarer Sorgfaltsverstoß erkannt werden, standen ihr doch wohl andere Möglichkeiten gar nicht zu Gebote; auch daß sie das Schnappen des Rüden nach dem Nacken ihrer Hündin als gefährlichen Angriff deutete, kann ihr angesichts ihrer Bedrängnis nicht zum Vorwurf gemacht werden. Mag den Hundehalter auch der Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB treffen, so erstreckt sich dieser erhöhte Sorgfaltsmaßstab doch nur auf die Erfüllung seiner Halterpflichten, nicht aber auch auf eine plötzlich notwendig gewordene Reaktion auf einen unerwarteten Angriff durch ein unbeaufsichtigtes anderes Tier.

In Stattgebung der Revision ist daher das erstinstanzliche Teilurteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 392 Abs 2 iVm § 52 Abs 2 ZPO.

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