OGH 11Os119/94(11Os120/94)

OGH11Os119/94(11Os120/94)30.8.1994

Der Oberste Gerichtshof hat am 30.August 1994 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Lachner als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Hager, Dr.Schindler, Dr.Holzweber und Dr.Schmucker als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag.Kriz als Schriftführer, in der Strafsache gegen Heinz P***** wegen des Verbrechens nach § 12 Abs 1 SGG und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 9.Februar 1994, GZ 6 d Vr 4737/89-53, und den Vorgang, daß trotz der gesetzlichen Voraussetzungen die Einleitung des Widerrufsverfahrens (§ 53 StGB) unterblieb, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr.Raunig, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Im Strafverfahren zum AZ 6 d Vr 4737/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wurde das Gesetz verletzt:

1. durch den Vorgang, daß das Landesgericht aufgrund der Verständigung durch das Strafbezirksgericht Wien von der neuerlichen Verurteilung des Heinz P***** zum AZ 7 U 2284/92 und des Vorbehaltes der Entscheidung über den Widerruf gemäß § 494 a Abs 2 StPO (idF vor dem StPÄG 1993) nicht das Widerrufsverfahren einleitete, in den Bestimmungen der §§ 53 Abs 1 StGB und 495 Abs 1 StPO;

2. durch den Beschluß vom 9.Februar 1994 (ON 53) auf endgültige Strafnachsicht in dem in Art 4, 1. des 7.Zusatzprotokolls zur MRK verankerten Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen.

Der zuletzt bezeichnete Beschluß wird aufgehoben.

Text

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit dem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12.Juni 1990, GZ 6 d Vr 4737/89-21, wurde ua Heinz P***** des Verbrechens nach § 12 Abs 1 SGG sowie des Vergehens nach § 16 Abs 1 SGG schuldig erkannt und zu einer (zusätzlichen) Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollziehung gemäß § 43 Abs 1 StGB für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Mit Strafverfügung des Strafbezirksgerichtes Wien vom 23.Juli 1992, AZ 7 U 2284/92, wurde Heinz P***** wegen des am 23.Juni 1992, also während der Probezeit begangenen Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe verurteilt. Unter einem sprach das Strafbezirksgericht Wien gemäß § 494 a Abs 2 StPO idF vor dem StPÄG 1993 aus, daß die Entscheidung über den Widerruf der im Verfahren 6 d Vr 4737/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien gewährten bedingten Strafnachsicht diesem Gericht vorbehalten bleibt (ON 37). Das Strafbezirksgericht Wien verständigte gemäß § 494 a Abs 8 StPO idF vor dem StPÄG 1993 mit Note vom 23.Juli 1992 das Landesgericht für Strafsachen Wien von dieser Entscheidung (ON 35) und übermittelte diesem auch eine Ablichtung der Strafverfügung (ON 37). Dennoch unterließ das Landesgericht für Strafsachen Wien die Einleitung eines Verfahrens über den Widerruf.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 27.August 1993, GZ 2 d Vr 4961/93-34, wurde Heinz P***** schließlich des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 139 erster Fall und 15 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Zugleich faßte der gemäß § 494 a Abs 1 Z 4 StPO hiefür zuständige Schöffensenat den Beschluß auf Widerruf der mit dem eingangs bezeichneten Urteil vom 12.Juni 1990, GZ 6 d Vr 4737/89-21, gewährten bedingten Strafnachsicht. Beide Entscheidungen erwuchsen infolge Rechtsmittelverzichts sofort in Rechtskraft. Die gemäß § 494 a Abs 8 StPO idF vor dem StPÄG 1993 vorgeschriebene unverzügliche Verständigung erging mit Note vom 2.September 1993 (ON 45).

Ungeachtet dieser Entscheidung sprach das Landesgericht für Strafsachen Wien - dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend - mit rechtskräftigem Beschluß vom 9.Februar 1994, GZ 6 d Vr 4737/89-53, gemäß § 497 StPO die endgültige Strafnachsicht aus.

Zutreffend zeigt die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde auf, daß der wiedergegebene Vorgang und der zuletzt zitierte Beschluß mit dem Gesetz nicht im Einklang stehen, dies aus folgenden Gründen:

1. Wird der Rechtsbrecher wegen einer während der Probezeit begangenen strafbaren Handlung verurteilt, so hat das Gericht die bedingte Strafnachsicht oder die bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe zu widerrufen und die Strafe, den Strafteil oder den Strafrest vollziehen zu lassen, wenn dies in Anbetracht der neuerlichen Verurteilung zusätzlich zu dieser geboten erscheint, um den Rechtsbrecher von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten (§ 53 Abs 1 erster Satz StGB). Wird in einem solchen Fall die bedingte Strafnachsicht oder Entlassung nicht widerrufen, so kann das Gericht die Probezeit, falls sie kürzer bestimmt war, bis auf höchstens fünf Jahre verlängern. Zugleich hat es zu prüfen, ob und welche Weisungen neu zu erteilen sind und ob, falls das noch nicht geschehen sein sollte, ein Bewährungshelfer zu bestellen ist (§ 53 Abs 2 StGB).

Im Fall der Verurteilung eines Rechtsbrechers wegen einer während der Probezeit begangenen strafbaren Handlung hat das hiefür zuständige Gericht somit von Amts wegen ein Verfahren zur Klärung der Frage einzuleiten, ob die bedingte Strafnachsicht oder Entlassung zu widerrufen ist (ÖJZ-LSK 1977/223 = EvBl 1977/217 = JBl 1977, 432 = SSt 48/33). Da das Strafbezirksgericht Wien im Verfahren 7 U 2284/92 gemäß § 494 a Abs 2 StPO idF vor dem StPÄG 1993 zum Widerruf der im Verfahren 6 d Vr 4737/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien gewährten bedingten Strafnachsicht nicht berufen war und aussprach, daß die Entscheidung hierüber diesem Gericht vorbehalten bleibt, war das Landesgericht für Strafsachen Wien gemäß § 495 Abs 1 StPO zur Entscheidung über den Widerruf zuständig, welches jedoch dieser Entscheidungspflicht nicht nachgekommen ist.

2. Der im Verfahren zum AZ 2 d Vr 4961/93 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien gefaßte Widerrufsbeschluß vom 27.August 1993 entfaltete eine Bindungswirkung, derzufolge kein Gericht ohne vorangegangene Aufhebung des Beschlusses berechtigt gewesen ist, über den Entscheidungsgegenstand neuerlich abzusprechen. Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat daher durch seine Beschlußfassung vom 9. Februar 1994 im Verfahren 6 d Vr 4737/89 eine Entscheidungskompetenz rechtswidrig in Anspruch genommen (EvBl 1989/64 = JBl 1989, 400; 15 Os 76/91, 12 Os 3, 4/94).

Dieser Beschluß konnte weder den schon vorher wirksam (und rechtskräftig) beschlossenen Widerruf der bedingten Strafnachsicht beseitigen noch sonst für den Verurteilten irgendwelche Rechtsfolgen nach sich ziehen; die konstitutive Wirkung des Widerrufsbeschlusses blieb vielmehr hievon unberührt. Da somit der Beschluß vom 9.Februar 1994 ON 53 für Heinz P***** keinerlei Rechtswirkung entfalten konnte, war er - ohne daß damit ein Nachteil für den Verurteilten verbunden wäre - durch Aufhebung zu beseitigen (siehe abermals die vorstehend zitierte Judikatur).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte