Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 13.725,-- (darin enthalten S 2.287,50 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war am 1.8.1992 mit seinem PKW im asiatischen Teil der Türkei in einen Verkehrsunfall verwickelt. Hiebei wurde seine Ehefrau schwer verletzt. Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse macht als Sozialversicherer Regreßforderungen gegen den Kläger geltend. Der Kläger war mit seinem PKW bei der beklagten Partei haftpflichtversichert. Den Versicherungsantrag vom 18.5.1992 füllte der Versicherungsvertreter Otto R***** aus, über dessen Vermittlung der Kläger bereits eine Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung und eine Haushaltsversicherung bei der beklagten Partei abgeschlossen hatte. Durch Ankreuzen im vorgesehenen Feld wurde mit der Polizze auch die Ausstellung einer Internationalen Versicherungskarte, der sogenannten kleinen "Grünen Karte" beantragt. Der Kläger erhielt diese zusammen mit der Polizze und den Allgemeinen und Besonderen Bedingungen für die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung (AKHB und BKHB) 1988 zugesendet. § 2 Abs.1 BKHB 1988 lautet: "Die Versicherung umfaßt Versicherungsfälle, die in Europa eintreten. Der Begriff Europa ist geographisch zu verstehen. Nicht in den örtlichen Geltungsbereich fallen jedoch Island, Grönland und Spitzbergen, ferner die Kanarischen Inseln, Madeira, Zypern, die Azoren und die asiatische Türkei." Auf der kleinen "Grünen Versicherungskarte" ist in der Spalte "nicht zutreffende Länder streichen" unter anderem die Abkürzung "TR" durchgestrichen.
Der Kläger stammt aus dem asiatischen Teil der Türkei. Er lebt seit 1980 in Vorarlberg. Er ist der deutschen Sprache so weit mächtig, daß er sich problemlos unterhalten kann. Er ist aber nicht in der Lage, einen komplizierten deutschen Text zu lesen und zu verstehen. Der Kläger las die ihm zugesandten Unterlagen nicht und wäre auch nicht imstande gewesen, die AKHB und BKHB zu lesen.
Otto R***** wußte, daß der Kläger türkischer Staatsangehöriger ist. Er konnte sich mit ihm problemlos unterhalten. Daß sich der Versicherungsschutz nur auf den europäischen Teil der Türkei erstreckt, erwähnte Otto R***** nicht. Der räumliche Geltungsbereich der Versicherung in der Türkei kam nicht zur Sprache. Der Kläger war der Meinung, auch für Unfälle im asiatischen Teil der Türkei versichert zu sein. Vom mangelnden Versicherungsschutz erfuhr er erst, als die Regreßansprüche der Gebietskrankenkasse gestellt wurden. Der Kläger wies Otto R***** nicht darauf hin, daß er die ihm von der beklagten Partei zugesendeten Schriftstücke nicht lesen könne. Daß Otto R***** auch vor dem 18.5.1992 davon informiert wurde, daß der Kläger mit seinem PKW in die Türkei bzw. in seinen Heimatort fahren werde, ist nicht erwiesen.
Der Kläger begehrte die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für Schadenersatzansprüche Dritter aufgrund des Unfalles vom 1.8.1992, weil ihn Otto R***** nicht darauf aufmerksam gemacht habe, daß für den asiatischen Teil der Türkei kein Versicherungsschutz bestehe, obwohl Otto R***** gewußt habe, daß der Kläger auch 1992 seinen Urlaub dort verbringen werde. Die beklagte Partei hafte daher aufgrund der ihr zuzurechnenden Verletzung vertraglicher Schutz- und Aufklärungspflichten. Im übrigen sei die Beschränkung der Versicherung auf Europa gemäß § 864a ABGB unwirksam.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Der Kläger, der der deutschen Sprache in Wort und Schrift mächtig sei, habe niemals darauf hingewiesen, daß er in die Türkei reisen werde. Er habe keinen Versicherungsschutz für derartige Fahrten begehrt. Er habe die Versicherungsbedingungen unbeanstandet angenommen. Die örtliche Beschränkung des Versicherungsschutzes sei keineswegs unüblich.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt, weil Otto R***** eine entsprechende Aufklärung unterlassen und damit seine Sorgfaltspflicht verletzt habe, wofür die beklagte Partei einzustehen habe.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte dieses Urteil und sprach aus, daß die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Es billigte die Ansicht des Erstgerichtes und führte aus, daß es die Pflicht der Leute der beklagten Partei gewesen wäre, sich zu überzeugen, daß die örtliche Begrenzung des Versicherungsschutzes auf den europäischen Teil der Türkei auch erfaßt und verstanden worden sei, zumal PKW-Fahrten von türkischen Staatsangehörigen in ihre Heimat nichts Ungewöhnliches seien. Es wäre Sache der beklagten Partei gewesen, den Kläger in geeigneter Weise, etwa durch Beischluß eines diese erkennbar wichtigen Umstände enthaltenden Beiblattes in türkischer Sprache aufzuklären. Der Kläger als Versicherungsnehmer sei daher so zu stellen wie bei einem Versicherungsvertrag mit dem von ihm gewünschten Inhalt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zu der in ihrer Bedeutung über diesen Anlaßfall hinausgehenden Frage fehlt, ob der Haftpflichtversicherer türkische Staatsangehörige im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht auf die Beschränkung des Versicherungsschutzes auf den europäischen Teil der Türkei (§ 2 BKHB) eigens hinweisen muß.
Die deutsche Rechtsprechung bejaht grundsätzlich diese Verpflichtung (vgl. BGH in VersR 1989, 948 sowie bereits in VersR 1963, 768; OLG Hamm in VersR 1984, 131 und in VersR 1991, 1238; LG Freiburg im Breisgau in VersR 1987, 897; OLG Karlsruhe in VersR 1988, 486). Das OLG Innsbruck hat diese Ansicht ebenfalls bereits in einer in ZVR 1991/108 veröffentlichten Entscheidung vertreten.
Die angeführte Rechtsprechung entspricht insoweit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß eine Aufklärungspflicht dann besteht, wenn dem Versicherer bzw. dem Agenten erkennbar ist, daß der Versicherungsnehmer über einen für ihn ganz wesentlichen Vertragspunkt eine irrige Vorstellung hat (VersR 1991, 87; vgl auch VersR 1985, 651). In Weiterführung dieses Gedankens ergibt sich für den vorliegenden Fall, daß sowohl Otto R***** als auch die beklagte Partei davon ausgehen mußten, daß der Kläger ein wesentliches Interesse daran hatte, daß sein PKW auch in der (asiatischen) Türkei haftpflichtversichert ist. Denn es ist eine allseits bekannte und jedes Jahr insbesondere während der Sommerferien zu beobachtende und nicht zu übersehende Tatsache, daß zahllose türkische Familien, die in Österreich oder Deutschland wohnen und arbeiten, mit ihren PKWs in ihre Heimat reisen, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Da es sich beim europäischen Teil der Türkei gegenüber dem asiatischen Teil um ein verschwindend kleines, wenn auch dichtbesiedeltes, Gebiet handelt, liegt die große Wahrscheinlichkeit, daß die Reise in den asiatischen Teil der Türkei geht, auf der Hand. Es macht daher keinen wesentlichen Unterschied für die Aufklärungspflicht der beklagten Partei, ob der türkische Versicherungsnehmer den Versicherer bzw. dessen Agenten ausdrücklich darauf hinweist, daß er mit dem PKW in die (asiatische) Türkei fahren werde oder nicht. Der Versicherer bzw. dessen Agent könnte nur dann davon ausgehen, daß der PKW nicht auch für Fahrten in die (asiatische) Türkei verwendet wird, wenn besondere Umstände diese Annahme rechtfertigen, die hier aber nicht vorliegen. Denn allein die Tatsache, daß der Kläger schon seit langem in Österreich lebt, schließt gerade bei den traditionell familien- und heimatbezogenen Türken nicht aus, daß bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Heimat aufgesucht wird.
Zugleich mußte Otto R***** aber auch in Erwägung ziehen, daß der Kläger mangels eines ausdrücklichen Hinweises auf das Gegenteil von der irrigen Annahme ausgeht, in der gesamten Türkei Versicherungsschutz zu genießen. Denn es entspricht der Erfahrung, daß die Anforderungen an die Deutschkenntnisse von Ausländern, die als Arbeiter beschäftigt sind und kaum mit Büroarbeiten und Schriftverkehr zu tun haben, nicht allzu hoch gesetzt werden dürfen, insbesondere wenn es um das Verständnis eines in der Rechtsterminologie gehaltenen schriftlichen Textes geht. Die Länge des Aufenthaltes in einem deutschsprachigen Land und auch der Umstand, daß ein Ausländer inzwischen ganz gut deutsch spricht, lassen noch nicht den Schluß zu, daß er auch schriftliche Texte problemlos verstehen kann.
Dazu kommt, daß der Kläger auf Initiative des Otto R***** die kleine "Grüne Versicherungskarte" zugesendet erhielt. Damit mußte sich der Versicherer aber des Problems bewußt sein, daß der Versicherungsnehmer durch den Erhalt dieser Karte in der Ansicht bekräftigt werden könnte, nun jedenfalls auch in seinem Heimatland versichert zu sein. Die Karte ist ja mit "Internationale Versicherungskarte für Kraftverkehr" überschrieben. Der Langtext gibt keinen Hinweis darauf, daß der Versicherungsschutz in bestimmten Ländern nicht gilt. Vielmehr ist die Türkei sogar unter der Überschrift "Namen und Adressen der Büros" vertreten. Es bedarf einiger Kombinationsgabe und entsprechender Deutschkenntnisse, um im Zusammenhang mit § 2 BKHB zu erkennen, daß der asiatische Teil der Türkei trotz Innehabung dieser Versicherungskarte vom Haftpflichtbereich ausgenommen ist.
Vom Obersten Gerichtshof wurde schon bisher ein Verstoß gegen vorvertragliche Sorgfaltspflichten angenommen, wenn die unrichtige Ansicht des Antragstellers durch eine unzutreffende Belehrung des Versicherers bzw. des Versicherungsvertreters hervorgerufen, jedenfalls aber bekräftigt wird (SZ 57/94; VersRdSch 1987/50). Auch diesem Grundgedanken entspricht es bei der hier vorliegenden Konstellation, für den Versicherer bzw. dessen Agenten eine entsprechende Aufklärungspflicht zu statuieren, die über die kommentarlose Zusendung der Versicherungspapiere und der Texte der in Betracht komenden Versicherungsbedingungen hinausgeht. Die Beifügung eines Hinweises auf den mangelnden Versicherungsschutz im asiatischen Teil der Türkei in türkischer Sprache wäre hier wohl als ausreichend anzusehen (vgl. etwa OLG Hamm in VersR 1984, 131). Andernfalls müßte - wie das Gericht zweiter Instanz ebenfalls bereits zutreffend ausgeführt hat - der Versicherer bzw. dessen Vertreter im Einzelfall darauf hinweisen bzw. sich durch Nachfrage vergewissern, ob der Versicherungsnehmer die Einschränkung des Versicherungsschutzes auf den europäischen Teil der Türkei verstanden hat.
Die Unterinstanzen haben daher die Haftung der beklagten Partei für den vorliegenden Schadensfall wegen ihr anzulastender culpa in contrahendo zu Recht bejaht (vgl. SZ 57/94; VR 1987/50).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.
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