OGH 2Ob18/93

OGH2Ob18/9330.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Andreas G*****, vertreten durch Dr.Clement Achammer, Rechtsanwalt in Feldkirch, wider die beklagte Partei Peter V*****, vertreten durch Dr.Rolf Philipp, Rechtsanwalt in Feldkirch, wegen S 104.750,-- sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 20.Jänner 1993, GZ 1 R 228/92-45, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 19.März 1992, GZ 5 Cg 188/91-41, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit S 6.789,60 (darin enthalten S 1.131,60 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 15.8.1989 fuhr der Kläger mit seinem Motorrad auf der Laternser Straße L 51 vom Furka-Paß kommend in Richtung Laterns. Etwa 100 m vor dem Gasthof Bad Laterns lief ein Kalb gegen das Motorrad des Klägers, wodurch dieser zu Sturz kam und verletzt wurde. Die Unfallstelle liegt am oberen Ende des Laternsertales. Dort grenzt an die L 51 das Flurgebiet, welches den Namen "Alpe Bad Laterns" trägt. Diese ist im Vorarlberger Alpkataster eingetragen und seit 1983 von der Eigentümerin, der Agragemeinschaft Alpenstadt, an den Beklagten verpachtet. Dieses Alpgebiet hat eine Größe von 5,75 ha. Es wird auf einer Länge von rund 350 m teilweise beidseitig durch die L 51 durchschnitten. Nach der Durchquerung dieser Kleinalpe steigt die L 51 durch die Alpen Neugehren, Altgehren und Gampernest zum Furka-Paß an. Das gesamte Alpgebiet ist 1200 bis 1500 ha groß. Die L 51 durchzieht das Alpgebiet der Alpe Bad Laterns zur Gänze. Das gesamte Alpgebiet ist auch von ihr aus einsehbar, es ist nicht nur an den Alphütten und den Tieren, sondern auch an der spezifischen Art der Vegetation als solches für jedermann erkennbar. Zur Alpe Bad Laterns, die seit Menschengedenken bewirtschaftet wird, gehört auch das Gasthaus "Bad Laterns". Hinter diesem Gasthaus - ca 50 m rechtsseitig in Richtung Furka-Paß gesehen - steht ein dazugehöriger Sommerstall für die Vieheinstellung während der Alpzeit. Linksseitig der L 51 befindet sich ein Brunnen, den die Tiere zur Tränke benützen. In diesem Fall müssen sie also die L 51 überqueren. Auf der Alpe Bad Laterns ist es seit jeher üblich, daß sich das Vieh frei und unbeaufsichtigt bewegt. Auch der Weidegang wird seit altersher ohne Einzäunung durchgeführt. Die Alpweide und auch die Tiere sind von der Straße aus gut einsehbar. Für den Bereich der Laternserstraße L 51 - Abschnitt Bad Laterns - Furka - ist eine Verordnung im Sinne des § 81 Abs 3 StVO bisher nicht erlassen worden. In diesem Straßenabschnitt bestehen lediglich die Gefahrenzeichen "Achtung Tiere" und "Wildwechsel". Die Straße verläuft im Unfallsbereich gerade, steigt jedoch in Richtung Furka-Paß an und weist eine asphaltierte Breite von 3,4 m auf. In Richtung Rankweil gesehen befindet sich rechtsseitig der Straße eine Stützmauer. Diese ist etwa 90 cm hoch, sinkt dann im direkten Unfallsbereich auf ca 30 cm ab und besteht dann aus teilweise randsteinähnlichen Steinen, die ca 10 cm über die Straßenoberfläche ragen. Anschließend steigt die Mauer wieder an und erreicht eine Höhe von rund 1,50 m. Die Laternser Straße ist nur 3 Monate im Jahre offen, sie wird nach Pfingsten geöffnet. Im Sommer ist sie bei schönem Wetter an Wochenenden stark frequentiert, sonst nicht.

Am 15.8.1989 fuhr der Kläger mit seinem Motorrad vom Furka-Paß kommend in Richtung Laterns mit rund 30 km/h Geschwindigkeit. Rechtsseitig der Straße, auf der dort ansteigenden Böschung, befand sich 30 m von der Straße entfernt ein Kalb. Dieses konnte von der Straße aus etwa 50 m vor der späteren Kollisionsstelle gesehen werden. Plötzlich sprang dieses Kalb, durch irgendetwas erschreckt, wodurch konnte nicht festgestellt werden, von diesem Standort aus gegen die Straße. Unter Zugrundelegung einer Laufgeschwindigkeit des Kalbes von 10 km/h, die aufgrund der gegebenen Örtlichkeit möglich ist, betrat das Kalb etwa 0,5 Sekunden vor der Kollision die Fahrbahn. Etwa 6 Sekunden vor der Kollision befand sich der Kläger rund 50 m vor der Kollisionsstelle, das Kalb war zu diesem Zeitpunkt etwa 16 bis 17 m vor der Unfallsstelle. Der Anhalteweg des Klägers bei einer Fahrgeschwindigkeit von 30 km/h und einer Bremsverzögerung von 3,5 m/sec2 (normale Bremsung) beträgt 19,8 m. Auf Grund der Feststellung, daß das Kalb von der Böschung in Richtung Kollisionsstelle gesprungen ist, wäre die Kollision für den Kläger vermeidbar gewesen, wenn er die Bewegung des Kalbes auf der Böschung als Gefahr wahrgenommen und sein Motorrad abgebremst hätte. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Motorrades betrug ca 30 km/h, sie entsprach der Annäherungsgeschwindigkeit, der Kläger hatte sein Motorrad vor dem Anprall nicht abgebremst. Durch den Unfall erlitt der Kläger Verletzungen und Sachschäden.

Ältere Tiere (Rinder) sind weniger schreckhaft als junge. Es kann aber sein, daß ein Tier erschrickt, und zwar auch durch den eigenen Fußtritt, durch Wildtiere oder weil es sonst irgendwie angetrieben wird. Es macht dann Sprünge. Wird es geringfügig erschreckt, springt es einige Schritte oder weicht aus. Bei einer starken Erschreckung kann das Tier eine längere Strecke zurücklegen. Bei Kühen bzw Rindern handelt es sich um Fluchttiere. Wenn ein Tier dermaßen springt, wie das Kalb im vorliegenden Fall, dann ist es höchstwahrlich stark erschreckt worden. Manchmal werden Tiere auf durch sogenannte "Luftwurzeln" erschreckt, dh wenn sie auf durch Stroh udgl gefüllte Hohlräume treten, wodurch ein eigenartiges Geräusch entsteht. Ein Kalb ist ein bis zu einem Jahr altes Tier und das erste Mal auf der Alpe. Alptiere gewöhnen sich an den Straßenverkehr und reagieren in der Regel bei herannahenden Fahrzeugen nicht schreckhaft oder panikartig, sondern eher gelassen. Beim festgestellten Bewegungsablauf des Kalbes handelt es sich um ein atypisches Verhalten des Tieres.

Der Kläger begehrt Schmerzengeld, Verunstaltungsentschädigung und Ersatz von Sach- und Vermögensschäden mit der Begründung, der Beklagte habe die ihm obliegende Verwahrungs- und Aufsichtspflicht gemäß § 1320 ABGB verletzt. Für den Kläger sei der Unfall trotz unverzüglicher Reaktion unvermeidbar gewesen. Eine Verordnung gemäß § 81 Abs 4 StVO bestehe für das vorliegende Weidegebiet nicht, auch sei kein Gefahrenzeichen gemäß § 50 Z 13a StVO zur Unfallszeit angebracht gewesen. Der Beklagte hätte vielmehr für eine geeignete Umzäunung der Weidefläche Sorge tragen müssen, um ein Eindringen des Viehs auf die Fahrbahn der L 51 zu verhindern. Im Sommer handle es sich bei der L 51 um eine stark frequentierte Ausflugsstraße.

Der Beklagte beantragte Abweisung des Klagebegehrens und wandte im wesentlichen ein, der Kläger habe infolge unaufmerksamer Fahrweise den Unfall selbst verschuldet. Da im vorliegenden Alpgebiet nach altem Herkommen der unbeaufsichtigte Weidegang von Rindern und Kälbern üblich sei, treffe ihn keine Verletzung der Aufsichts- und Verwahrungspflicht in der Richtung, daß er im Bereich der L 51 die Weidegebiete abzäunen müßte.

Das Erstgericht wies - auch im zweiten Rechtsgang - das Klagebegehren ab. Es führte in rechtlicher Hinsicht aus, Vorkehrungen zum Schutz von weidenden Kühen seien im vorliegenden Fall nicht erforderlich gewesen, weil die Straße im Unfallsbereich an Alpgebiete grenze, in welchen der unbeaufsichtigte Weidegang seit Jahrhunderten üblich sei. Daran ändere auch nichts, daß eine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO nicht erlassen worden sei, handle es sich doch nicht um Grundstücke, sondern um ein 1200 bis 1500 m ha durchgehendes Alpgebiet, dessen Abzäunung unmöglich sei. Auch aus der größeren Frequentierung der Straße bei Schönwetter an Wochenenden könne eine besondere Verwahrungs- und Aufsichtspflicht nicht abgeleitet werden, zumal dem Beklagten eine bösartige Eigenschaft seines Weideviehs weder bekannt gewesen sei, noch bekannt sein hätte müssen.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte das Ersturteil und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Es vertrat folgende Rechtsansichten: Gemäß § 1320 ABGB hafte der Tierhalter für die Unterlassung der nach den Umständen gebotenen Vorkehrungen zur Verwahrung oder Beaufsichtigung des Tieres. Welche Maßnahmen dabei im einzelnen notwendig seien, richte sich nach den dem Tierhalter bekannten und erkennbaren Eigenschaften des Tieres und den jeweiligen Umständen, wobei das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Verwahrung nicht überspannt werden dürfe. Jene Vorkehrungen seien als genügend anzusehen, die vom Tierhalter unter Berücksichtigung der Art des Tieres billigerweise erwartet werden könnten. Im allgemeinen müsse die Verwahrung eines Tieres in unmittelbarer Nähe einer stark frequentierten Straße sorgfältig erfolgen, weil die fortschreitende Entwicklung des Kraftfahrzeugverkehrs auch auf die ländlichen Verhältnisse nicht ohne Einfluß geblieben sei. Diesen Erfordernissen werde durch § 81 StVO insoweit entsprochen, als dessen Abs 1 eine Verpflichtung zur Beaufsichtigung und zum Fernhalten von weidendem Vieh für Autobahnen und Vorrangstraßen, und dessen Abs 2 eine derartige Verpflichtung auch für andere Straßen vorsehe, die keine ausreichende Sicht auf nicht abgezäunte Weidegrundstücke ermöglichten. Liege hingegen - wie im vorliegenden Fall - ausreichende Sicht auf solche Grundstücke vor, bedürfe es keiner Beaufsichtigung des Weideviehs durch Personen und auch keiner Abzäunung. Die Aufstellung des Gefahrenzeichens "Achtung Tiere" sei daher ausreichend, um einen Kraftfahrzeuglenker darauf hinzuweisen, daß er im Bereich der L 51 im Unfallsbereich mit unbeaufsichtigten Weidetieren zu rechnen habe. Er könne sich auch durch ausreichende Sicht und Übersichtlichkeit des Weidegebietes auf das typische Verhalten von Weidevieh rechtzeitig einstellen. Berücksichtige man nun, daß es sich bei dem festgestellten Bewegungsablauf des Kalbes um ein atypisches Verhalten gehandelt habe, das bisher vom Beklagten als Tierhalter im Unfallsbereich nicht wahrgenommen worden sei, und daß die Laternser Straße lediglich an Wochenenden bei Schönwetter stark frequentiert sei, dann könne dem Beklagten unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Unfall sich in einem Alpgebiet ereignet habe, in dem der unbeaufsichtigte Weidegang seit Jahrhunderten herkömmlich sei, eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht im Sinn des § 1320 ABGB nicht angelastet werden, auch wenn im allgemeinen die Anbringung eines elektrischen Weidezaunes durchaus zumutbar und als ausreichende Verwahrung angesehen werden müßte, soferne nicht konkret wahrgenommen werde, daß ein derartiger elektrischer Weidezaun vom Weidevieh nicht respektiert werde.

Rechtliche Beurteilung

Die gegen das Urteil des Berufungsgerichtes erhobene Revision des Klägers ist zwar zulässig, weil zur Frage der Beaufsichtigung von seit altersher frei weidendem Alpvieh im Bereich von alpinen Ausflugsstraßen, die lediglich an Wochenenden bei Schönwetter stärker frequentiert sind, Rechtsprechung nicht vorliegt; sie ist jedoch nicht berechtigt.

Wie der Oberste Gerichtshof bei der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch erhob, handelt es sich bei der Laternser Landesstraße L 51 nicht um eine Vorrangstraße im Sinne des § 43 Abs 3 lit c StVO, weil eine derartige Verordnung der Behörde nicht erlassen wurde und die Straße daher auch nicht als Vorrangstraße gekennzeichnet ist. Die Anwendung des § 81 Abs 1 StVO auf den vorliegenden Fall scheidet daher schon aus diesem Grund aus. Da nach den maßgeblichen Feststellungen für den Kläger als Benützer der L 51 aber auch ausreichende Sicht auf die neben der Straße gelegenen uneingezäunten Weidegrundstücke bestand, kommt auch § 81 Abs 2 StVO für die Beurteilung der Pflichten des Beklagten, sein frei weidendes Vieh zu beaufsichtigen und von der Straße fern zuhalten, nicht zur Anwendung. Dies enthebt jedoch, wie die Vorinstanz zutreffend erkannte, den Beklagten noch nicht seiner auf § 1320 ABGB beruhenden Verwahrungs- und Beaufsichtigungspflicht.

Gemäß § 1320 ABGB haftet der Tierhalter für den von seinen Tieren verursachten Schaden, wenn er nicht beweist, für die erforderliche Verwahrung und Beaufsichtigung des Tieres gesorgt zu haben. Welche Verwahrung und Beaufsichtigung durch den Halter im Einzelfall erforderlich ist, hängt von den Umständen des Falles ab, richtet sich nach den dem Tierhalter bekannten und erkennbaren Eigenschaften des Tieres und den äußeren Umständen, wobei jedoch das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Verwahrung nicht überspannt werden darf. Vielmehr müssen jene Vorkehrungen als genügend angesehen werden, die vom Tierhalter unter Berücksichtigung des Tieres billigerweise erwartet werden können. Ganz allgemein müssen an den Tierhalter nur dann höhere Anforderungen gestellt werden, wenn er Tiere in unmittelbarer Nähe einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Straße unbeaufsichtigt weiden läßt (ZVR 1977/59; ZVR 1983/163 ua). Nach den Feststellungen ist die Laternser Straße L 51 nur an drei Monaten im Jahr offen und auch dann nur an Wochenenden bei Schönwetter (Ausflugswetter) stärker frequentiert. Es handelt sich um eine Straße, die durch Alpgebiet führt, in dem seit Jahrhunderten freier Weidegang von Rindern üblich ist. Wird nun in Betracht gezogen, daß Kühe im allgemeinen nicht dazu neigen, Menschen oder Sachen anzugreifen, sondern sich an diese oder auch an den nur fallweise stärkeren Kraftfahrzeugverkehr auch während des unbeaufsichtigten freien Weideganges gewöhnen, dann erscheinen Vorkehrungen zum Schutz vor weidendem Vieh - etwa in der Form eines Elektrozaunes oder anderer Sperrvorrichtungen - im Bereich der vorliegenden Alpregion überhaupt nicht erforderlich (ZVR 1983/163). Dem Kläger fallen bei den vorliegend festgestellten Verhältnissen der Unfall und seine Folgen allein zur Last, weil er innerhalb der auf dem Gefahrenzeichen Achtung Tiere angegebenen Strecke mit dem Auftauchen unbeaufsichtigter Weidetiere rechnen mußte und sich der angekündigten Gefahr entsprechend zu verhalten gehabt hätte. Dies wäre ihm nach den Feststellungen auch möglich gewesen, weil er 6 Sekunden vor dem Unfall Sicht auf das von rechts von der Böschung auf die Straße zuspringende Kalb hatte und bei rechtzeitiger Reaktion den Unfall leicht verhindern hätte können.

Zutreffend haben daher die Vorinstanzen das Klagebegehren abgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 50, 41 ZPO.

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