OGH 7Ob8/94

OGH7Ob8/9429.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Karl M*****, vertreten durch Dr.Andreas Fink, Rechtsanwalt in Imst, wider die beklagte Partei A***** Versicherung Aktiengesellschaft, ***** vertreten durch Dr.Paul Flach, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen

132.500 sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 19.November 1993, GZ 4 R 296/93-36, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 4.Juli 1993 GZ 13 Cg 353/90-31, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 6.789,60 (darin enthalten S 1.131,60 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war bei der beklagten Partei unfallversichert. Dem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung (AUVB) 1979 zugrunde. Gemäß Art 3 III Z 7 dieser Bedingungen sind Unfälle infolge von Bewußtseinsstörungen (auch durch Alkohol) ausgeschlossen.

Am 31.3.1990 kam der Kläger zwischen Mitternacht und 1 Uhr 30 auf dem Heimweg vom Gasthaus F***** in J***** auf der P***** Landesstraße ohne ersichtlichen Grund von der Fahrbahn ab und stieß gegen einen Baum. Er erlitt hiebei eine Gehirnerschütterung, eine Gesichtsschädelprellung mit Verletzung des Nervus infraorbitalis links, weiters eine Rißquetschwunde neben dem äußeren Augenrand links, eine Rißquetschwunde am Knie links, eine Hüftverrenkung links und multiple Abschürfungen. Eine Hirnerschütterung ist durch einen eventuell sehr kurzen Bewußtseinsverlust, durch eine kurze retrograde Amnesie, oft durch Erbrechen und manchmal durch postkomotionelle Kopfschmerzen, Schwindel und vorübergehende Hirnleistungsschwäche charakterisiert. Entscheidend für die Diagnose ist eine Bewußtseinsstörung, die unter Umständen von sehr kurzer Dauer sein kann und für einen Außenstehenden möglicherweise gar nicht merkbar ist. Für den Patienten besteht aber fast immer eine faßbare Erinnerungslücke, die häufig mit einer retrograden Amnesie einhergeht, wobei Ereignisse vor dem Unfall nicht erinnert werden können. Diesem Zustand folgt eine anterograde Amnesie, das heißt, die Erinnerungslücke hinsichtlich von Vorkommnissen nach dem Unfall bis zum Wiedereinsetzen der lückenlosen Erinnerung deckt sich nicht etwa mit der Bewußtlosigkeit, wohl aber weitgehend mit einem oft nicht ohne weiteres faßbaren posttraumatischen Dämmerzustand. Ein solcher Dämmerzustand dauert in der Regel bei einer einfachen Hirnerschütterung nicht länger als eine Stunde. Im Rahmen des posttraumatischen Dämmerzustandes ist der Betroffene in der Lage, bei scheinbar klarem Bewußtsein komplexe Handlungen auszuführen, ohne sich nachher daran erinnern zu können.

Der Kläger hatte vor dem Unfall im Gasthaus zwei große oder zwei kleine "Radler", das ist ein Bier-Limonadengemisch, getrunken. Es kann nicht festgestellt werden, daß er am 30.3.1990 bzw vor seinem Unfall noch weiteren Alkohol konsumiert hat.

Gegen 1 Uhr 40 kam Johann R***** zur Unfallstelle. Er fand den Kläger bewußtlos vor und öffnete den Sicherheitsgurt. Er nahm keinen Alkoholgeruch wahr und machte auch sonst keine Wahrnehmungen, die auf eine Alkoholisierung des Klägers schließen ließen. Als eine weitere Person am Unfallsort eintraf, fuhr Johann R***** weiter, um die Rettung und allenfalls die Gendarmerie zu verständigen. In der Folge kamen noch weitere Personen zum Unfallsort, unter ihnen Florian S*****. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht und befand sich in dem geschilderten posttraumatischen Dämmerzustand. Der Kläger schrie laut, und zwar vermutlich aufgrund seiner erheblichen Schmerzen. Es kann nicht festgestellt werden, welche Worte er verwendete, was er genau wollte, ob er allenfalls nach Schnaps schrie oder schrie, daß er sich umbringen wolle. Florian S*****, der eine Schnapsflache mitführte, meinte aufgrund dieser Schreie, dem Kläger Schnaps verabreichen zu müssen und gab ihm die Schnapsflasche, in der 0,8 Liter Schnaps waren. Der Kläger trank eine große Menge des Schnapes, und zwar bis zu einem halben Liter. Näher läßt sich die getrunkene Menge nicht feststellen. Als Florian S***** dies sah, nahm er dem Kläger die Flasche wieder weg. Der ebenfalls an der Unfallstelle eintreffende Thomas E***** brachte schließlich den Kläger in seinem PKW zum diensthabenden Arzt Dr.Ernst P*****. Als der Kläger beim Arzt eintraf, war er bewußtlos. Dr.P***** diagnostizierte eine Gehirnerschütterung und eine Beinverletzung. Gegen 4 Uhr früh wurde der Kläger mit der Rettung in das Krankenhaus Z***** eingeliefert. Dort wurde ihm mit seiner Einwilligung eine Blutprobe abgenommen, weil der Verdacht auf Alkoholisierung bestand. Im Krankenhaus wurde vor allem in der Atemluft des Klägers Alkoholgeruch wahrgenommen. Wann die Blutabnahme erfolgte, kann nicht festgestellt werden. Zum Zeitpunkt der Blutabnahme wies das Blut des Klägers eine Alkoholkonzentration von 1,81 oder 1,87 Promille auf. Der Kläger selbst kann sich an den Unfall und die daran anschließenden Ereignisse nicht erinnern.

Der Kläger begehrt aufgrund des Versicherungsvertrages insgesamt S

132.500 an Schmerzengeld und Taggeld. Er sei zum Unfallszeitpunkt nicht alkoholisiert gewesen. Das gegen ihn wegen des Verstoßes gegen § 5 StVO eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren sei eingestellt worden. Hinsichtlich des Nachtrunkes könne ihm kein vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten angelastet werden, weil er unzurechnungsfähig gewesen sei.

Die beklagte Partei behauptete Leistungsfreiheit, weil der Kläger im Unfallszeitpunkt alkoholisiert gewesen sei. Sollte die Alkoholisierung auf einen Nachtrunk zurückzuführen sein - was aber bestritten werde - , habe der Kläger die Obliegenheit der Aufklärungspflicht verletzt. Außerdem habe der Kläger seinen Anspruch nicht innerhalb der Ausschlußfrist des Art 8 II Z 2 AUVB geltend gemacht.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Der beklagten Partei sei der ihr obliegende Beweis nicht gelungen, daß der Unfall auf eine durch Alkoholgenuß hervorgerufene Bewußtseinsstörung zurückzuführen sei. Dem Kläger, der sich nach dem Unfall in einem posttraumatischen Dämmerzustand befunden habe, könne auch keine Verletzung einer vereinbarten Obliegenheit vorgeworfen werden. Die von der beklagten Partei geltend gemachte Ausschlußfrist komme nicht zum Tragen, weil eine Entschädigung für Dauerfolgen nicht begehrt worden sei.

Das Gericht zweiter Instanz bestätigte dieses Urteil und sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei. Es vertrat die Rechtsansicht, daß zwar ein Nachtrunk gegen die gemäß § 4 Abs 1 lit c StVO auferlegte Pflicht verstoße, an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken. Diese Gesetzesstelle könne jedoch nicht als eine im Versicherungsverhältnis zwischen den Streitteilen geltende Obliegenheit angesehen werden. Eine Aufklärungspflicht des Versicherungsnehmers im Sinn dieser Gesetzesstelle müßte ausdrücklich vereinbart werden. Die AUVB 1979 enthielten - im Gegensatz zu den Allgemeinen Bedingungen für die verschiedenen Kraftfahrversicherungen - lediglich eine Auskunftspflicht, nicht aber die darüber hinausgehende Pflicht, bereits vor Mitteilung des Wunsches nach Auskunft aus Eigeninitiative aktiv und auch gegen die eigenen Interessen an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken. Die Frage nach dem Verschulden des Klägers im Zusammenhang mit dem Nachtrunk könne daher dahingestellt bleiben. Der Beweis für den behaupteten Ausschluß gemäß Art 3 III Z 7 AUVB 1979, nämlich daß eine alkoholbedingte Bewußtseinsstörung im Unfallszeitpunkt vorgelegen sei, sei der klagenden Partei nicht gelungen. Die Revision sei zuzulassen, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage fehle, ob der Nachtrunk auch in der Unfallversicherung eine Obliegenheitsverletzung darstelle und weil die Entscheidung der zweiten Instanz im Widerspruch zu der vom OGH in ZVR 1992/36 vertretenen Auffassung stehe, daß in der Unfallversicherung ähnliche Mitwirkungsobliegenheiten wie in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung bestünden.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Auf die vom Gericht zweiter Instanz behandelte und zur Begründung der Zulässigkeit der Revision herangezogene Rechtsfrage kommt es nicht an. Da sich der Kläger im Zeitpunkt des Nachtrunkes nach den erstgerichtlichen Feststellungen, die vom Gericht zweiter Instanz übernommen wurden, in einem posttraumatischen Dämmerzustand mit den vom Erstgericht näher beschriebenen Charakteristika befand, könnte ihm auch bei Bejahung eines rechtswidrigen Verstoßes gegen eine den Nachtrunk verbietende Obliegenheit weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 3 VersVG) an einer solchen Verletzung unterstellt werden. Dem Kläger ist demnach der Beweis gelungen, daß es an der begriffswesentlichen subjektiven Vorwerfbarkeit seiner Handlung fehlt.

Der Kläger litt nicht bloß an einem Unfallsschreck, sondern als Folge der von ihm erlittenen Kopfverletzung an einer dermaßen starken Beeinträchtigung seiner Bewußtseins- und Willensbildung, daß er als unzurechnungsfähig anzusehen war (SZ 47/44 ua). Der aktive Trinkvorgang des Klägers vermag im Gegensatz zur Ansicht der Revision nichts daran zu ändern, weil nach den Feststellungen der Untergerichte Personen im beschriebenen Zustand zwar in der Lage sind, komplexe Handlungen auszuführen, ihr Bewußtsein aber nur scheinbar klar und das Erinnerungsvermögen ausgeschaltet ist.

Im übrigen versucht die Revision mit ihren den Zustand des Klägers im Zeitpunkt des Nachtrunkes betreffenden Ausführungen im wesentlichen, die vom Berufungsgericht gebilligte Beweiswürdigung des Erstgerichtes in unzulässiger Weise zu bekämpfen. Die weiters in diesem Zusammenhang geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Das Gericht zweiter Instanz hat sich ausdrücklich mit der in der Berufung der beklagten Partei gegen das Ersturteil enthaltenen Beweis- und Mängelrüge auseinandergesetzt und die behaupteten Verfahrensmängel verneint. Derartige angebliche Mängel des Verfahrens können im Revisionsverfahren nicht neuerlich geltend gemacht werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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