OGH 10ObS105/94

OGH10ObS105/9428.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Mag.Erich Deutsch und Dr.Robert Prohaska, in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Anna G*****, vertreten durch Dr.Emil Schreiner, Rechtsanwalt in Eisenstadt, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, wegen Pflegegeldes, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28.Februar 1994, GZ 32 Rs 167/93-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 31. August 1993, GZ 16 Cgs 1063/93i-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Beklagte hat der Klägerin binnen 14 Tagen die einschließlich 338,24 S Umsatzsteuer mit 2.029,44 S bestimmten halben Kosten der Revision zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 24.2.1993 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 22.12.1992 auf Hilflosenzuschuß (zur Erwerbsunfähigkeitspension) ab, weil sie nicht ständig der Wartung und Hilfe bedürfe.

Das zunächst auf Gewährung des Hilflosenzuschusses im gesetzlichen Ausmaß ab 22.12.1992 gerichtete Klagebegehren wurde in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 31.8.1993 auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 1 ab 1.7.1993 eingeschränkt und auf das in dieser Tagsatzung erörterte ärztliche Sachverständigengutachten gestützt.

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.

Das Erstgericht gab dem eingeschränkten Klagebegehren statt.

Nach den Feststellungen besteht bei der am 6.7.1923 geborenen Klägerin seit Antragstellung der im schriftlichen Gutachten der ärztlichen Sachverständigen ON 8 dargelegte körperliche Zustand, der im wesentlichen folgendermaßen wiedergegeben wurde: Herzleiden mit Ausgleichsstörungen (Stauungen an den Beinen und an der Leber) trotz Einnahme herzstützender und entwässernder Medikamente; eine - wahrscheinlich wegen mangelnden Diätverständnisses - nicht befriedigend eingestellte Zuckerkrankheit mit peripherer Durchblutungsstörung (fehlende Fußrückenpulse beidseits);

höhergradige Aufbrauchserscheinungen im Bereich des Stammes mit eingeschränkter Beweglichkeit und glaubhaften Beschwerden;

schmerzhafte Bewegungseinschränkung in beiden Schultergelenken;

endlagige Beugungsschmerzhaftigkeit der Hüft- und Kniegelenke. Die Klägerin ist aber mit Hilfe eines Stockes ausreichend gut gehfähig. Mit dem seit der Antragstellung bestehenden Gesundheitszustand kann sich die Klägerin überwiegend selbständig an- und auskleiden. (Im ärztlichen Gutachten, auf das im Ersturteil "zur Vermeidung von Wiederholungen" verwiesen wurde, führte die Sachverständige dazu aus, durch Einnahme entsprechender Medikamente (nicht stereoidaler Antirheumatika) wäre die schmerzhafte Einschränkung der Schultergelenke mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in kurzer Zeit soweit zu bessern, daß ein vollständiges An- und Auskleiden möglich wäre.) Die Klägerin kann sich allein waschen, selbständig essen, die Toilette aufsuchen, einen Wohnraum oberflächlich aufräumen, die persönliche (Leib)Wäsche waschen und Mahlzeiten zubereiten. Wegen der schlechten Herzleistung ist sie jedoch nicht imstande, Brennmaterial bereitzulegen, für die gründliche Wohnungsreinigung zu sorgen, die Großwäsche zu waschen, Einkäufe zu tätigen und ohne Hilfe und Aufsicht ein Wannenbad zu nehmen.

Unter diesen Umständen nahm das Erstgericht für jede Hilfsverrichtung einen fixen monatlichen Zeitwert von zehn Stunden und einen - nicht näher bezifferten - zusätzlichen Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit der teilweisen Behinderung beim An- und Auskleiden, insgesamt einen 50 Stunden monatlich übersteigenden Aufwand an.

In der Berufung rügte die Beklagte das Fehlen der sich aus dem ärztlichen Sachverständigengutachten ergebenden Feststellung, daß die schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Schultergelenke durch Einnahme entsprechender Medikamente in kurzer Zeit soweit zu bessern sei, daß ein vollständiges An- und Auskleiden möglich sein werde. Deshalb sei ein diesbezüglicher Betreuungsaufwand nicht zu berücksichtigen, so daß der durchschnittliche Pflegebedarf nicht mehr als 50 Stunden monatlich betrage.

Das Berufungsgericht änderte das erstgerichtliche Urteil im klageabweisenden Sinn ab.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen seien die Hilfsverrichtungen der Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, der Pflege der Leib- und Bettwäsche sowie der Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial nur teilweise nötig, weil die Klägerin ihren Wohnraum oberflächlich aufräumen, die persönliche Wäsche waschen und die Beheizung des Wohnraumes - mit Ausnahme der Herbeischaffung des Heizmaterials - allein vornehmen könne. Deshalb seien - auf einen Monat bezogen - für die Hilfsverrichtungen nur 25 Stunden anzunehmen, und zwar:

1. für die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln etc 10 Stunden

2. für die Reinigung der Wohnung etc 5 Stunden

3. für die Pflege der Leib- und Bettwäsche 5 Stunden

4. für die Herbeischaffung von Heizmaterial 5 Stunden

Dazu kämen noch wenige Stunden für die teilweise Betreuung beim An- und Auskleiden. Deshalb betrage der Pflegebedarf durchschnittlich nicht mehr als 50 Stunden monatlich.

In der Revision macht die Klägerin unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt die Abänderung des Berufungsurteils im klagestattgebenden Sinn.

Die Beklagte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die nach § 46 Abs 3 ASGG zulässige Revision ist im Ergebnis nicht berechtigt.

Da die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und eine Pension nach dem Bauern-Sozialversicherungsgesetz bezieht, gehört sie zu dem Personenkreis, der Anspruch auf Pflegegeld nach Maßgabe der Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes BGBl 1993/110 (BPGG) hat (§ 3 Abs 1 Z 1 lit d leg cit). Das begehrte Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 würde ihr gebühren, wenn auf Grund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) durchschnittlich mehr als 50 Stunden monatlich betrüge und voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde (§ 4 Abs 1 und Abs 2 erster Halbsatz leg cit).

Durch § 4 Abs 5 BPGG ist der Bundesminister für Arbeit und Soziales ermächtigt, nach Anhörung des Bundesbehindertenbeirates nähere Bestimmungen für die Beurteilung des Pflegebedarfes durch Verordnung festzulegen, die ua insbesondere festlegen kann: 1. eine Definition der Begriffe "Betreuung" und "Hilfe", 2. Richtwerte für den zeitlichen Betreuungsaufwand, wobei verbindliche Mindestwerte zumindest für die tägliche Körperpflege, die Zubereitung und das Einnehmen von Mahlzeiten sowie für die Verrichtung der Notdurft festzulegen sind, 3. verbindliche Pauschalwerte für den Zeitaufwand der Hilfsverrichtungen, wobei der gesamte Zeitaufwand für alle Hilfsverrichtungen mit höchstens 50 Stunden pro Monat festgelegt werden darf.

Nach § 1 Abs 1 Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales über die Beurteilung des Pflegebedarfes nach dem Bundespflegegeldgesetz (Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz) BGBl 1993/314 (idF mit EinstV abgekürzt) sind unter Betreuung alle in relativ kurzer Folge notwendigen Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die vornehmlich den persönlichen Lebensbereich betreffen und ohne die der pflegebedürftige Mensch der Verwahrlosung ausgesetzt wäre. Zu den im Abs 1 genannten Verrichtungen zählen insbesondere solche beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege, der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, der Verrichtung der Notdurft, der Einnahme von Medikamenten und der Mobilitätshilfe im engeren Sinn (Abs 2). Bei der Feststellung des zeitlichen Betreuungsaufwandes für An- und Auskleiden ist - auf einen Tag bezogenen - von einem Richtwert von 2 x 20 Minuten auszugehen (Abs 3). Diese Richtwerte können daher im einzelnen Fall unter- und überschritten werden (sa Pfeil, Probleme des BPGG in DRdA 1993, 181/191). Für bestimmte Verrichtungen werden folgende zeitliche Mindestwerte festgelegt, zB für tägliche Körperpflege 2 x 25 Minuten. Abweichungen von diesen Zeitwerten sind nur dann zu berücksichtigen, wenn der tatsächliche Betreuungsaufwand diese Mindestwerte erheblich überschreitet (Abs 4).

Unter Hilfe sind aufschiebbare Verrichtungen anderer Personen zu verstehen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen und zur Sicherung der Existenz erforderlich sind (§ 2 Abs 1 EinstV). Hilfsverrichtungen sind die Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, die Pflege der Leib- und Bettwäsche, die Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial und die Mobilitätshilfe im weiteren Sinn (Abs 2). Für jede Hilfsverrichtung ist ein - auf einen Monat bezogener - fixer Zeitwert von 10 Stunden anzunehmen (Abs 3).

Ob die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes, daß von den im § 2 Abs 3 EinstV für jede Hilfsverrichtung festgelegten fixen Zeitwerten abgegangen werden könne, der dargestellten Rechtslage widerspricht, kann hier aus folgenden Gründen unerörtert bleiben:

Selbst dann, wenn man iS der Revisionsausführungen für jede der folgenden Hilfsverrichtungen: 1. Herbeischaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, 2. Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände, 3. Pflege der Leib- und Bettwäsche und 4. Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial einen - auf den Monat bezogenen - fixen Zeitwert von zehn Stunden annähme, ergäbe sich für diese Hilfsverrichtungen insgesamt nur ein Zeitaufwand von 40 Stunden pro Monat.

Ein Hilfsbedarf im Zusammenhang mit der Mobilitätshilfe iwS wurde vom Berufungsgericht mit Recht nicht angenommen. Die Revisionsbehauptung, daß das (ärztliche) Sachverständigengutachten "im Rahmen der notwendigen Pflege" auch auf die Mobilitätshilfe "im weiteren Bereich" hinweise, ist unrichtig. Nach dem vom Erstgericht festgestellten Inhalt dieses Gutachtens ist die Klägerin vielmehr mit Hilfe eines Stockes ausreichend gut gehfähig. Daß sie keine Einkäufe tätigen kann, steht damit nicht im Widerspruch. Diese Einschränkung ist nämlich nicht durch eine Gehbehinderung, sondern dadurch bedingt, daß die Klägerin infolge der schlechten Herzleistung beim Gehen keine Lasten tragen kann.

Da die Klägerin im Zusammenhang mit der Mobilitätshilfe iwS keine Hilfe benötigt, ist der gesamte Zeitaufwand für notwendige Hilfsverrichtungen mit höchstens 40 Stunden pro Monat anzusetzen.

Dazu kommt noch der zeitliche Betreuungsaufwand beim An- und Auskleiden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Klägerin infolge der schmerzhaften Bewegungseinschränkung der Schultergelenke hinsichtlich des An- und Auskleidens (nur) beim Überkopfziehen von Kleidungsstücken geholfen werden muß. Selbst wenn die Klägerin täglich auch Kleidungsstücke trüge, die nur auf diese Weise an- und ausgezogen werden könnten, müßte ihr nur beim An- und Ausziehen eines Teiles ihrer Bekleidung geholfen werden. Dazu wären nur einige kurze Handgriffe erforderlich, für die - auf den Tag bezogen - ein Richtwert von 2 x 20 Minuten weit überhöht wäre. Selbst die Revision spricht in diesem Zusammenhang nur von einem geringen Bedarf von wenigen Minuten täglich. Tatsächlich sind 2 x 5 Minuten pro Tag ausreichend. Daraus ergibt sich ein durchschnittlicher monatlicher zeitlicher Betreuungsaufwand von 5 Stunden.

Schließlich ist noch der zeitliche Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit zwei Wannenvollbädern pro Woche zu berücksichtigen. Diese Wannenbäder zählen zwar nicht zur täglichen Körperpflege iS des § 1 Abs 4 EinstV. In Anlehnung an den in der zit Bestimmung festgelegten zeitlichen Mindestwert kann jedoch für ein Wannenbad ein Zeitwert von etwa 25 Minuten angenommen werden. Daraus ergibt sich ein weiterer zeitlicher Betreuungsaufwand von 3,5 bis 4 Stunden monatlich.

Der gesamte Pflegebedarf beträgt daher höchstens 49 Stunden pro Monat (9 Stunden Betreuungsaufwand + 40 Stunden Aufwand für Hilfsverrichtungen). Die Klägerin hat somit nicht einmal Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 1 (§ 4 Abs 2 BPGG).

Das im Ergebnis richtige Berufungsurteil ist daher zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b und Abs 2 ASGG.

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