OGH 10ObS108/94

OGH10ObS108/9428.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska und Walter Benesch in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Maria S*****, vertreten durch Dr.Jörg Hobmeier und Dr.Hubertus Schumacher, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauerlände 3, 1092 Wien, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25.Jänner 1994, GZ 5 Rs 9/94-11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 6.Oktober 1993, GZ 44 Cgs 119/93v-6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei einen mit 2.716,80 S bestimmten Teil der Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 452,80 S USt) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 1.1.1915 geborene Klägerin bezieht von der beklagten Partei eine Pension. Die Klägerin ist noch rüstig. Es besteht ein gut eingestellter Bluthochdruck und ein kompensierter Kreislauf ohne cardiale Beschwerden. Vermutlich im Rahmen einer cerebrovaskulären Insuffizienz kommt es zu Schwindelanfällen mit Schwerpunkt in den Morgenstunden. Das Merk- und Konzentrationsvermögen ist gering reduziert, reicht aber für den Alltag noch aus. Es besteht ein Zustand nach Magenoperation vor 10 Jahren; der Ernährungszustand ist ausreichend. Bei Arbeiten über Kopf und beim Nackengriff links ist die Klägerin durch eine bestehende Schulterathrose mäßig schmerzhaft eingeschränkt.

Unter Berücksichtigung der bestehenden Leidenszustände kann sich die Klägerin noch allein aus- und ankleiden, die Nahrung zu sich nehmen und die Notdurft verrichten. Die tägliche Körperpflege und die Zubereitung der Mahlzeiten sind durch die schlechten sanitären Verhältnisse in der ehemaligen Flüchtlingsbaracke, in der die Klägerin wohnt, erschwert und sie benötigt hiefür einen überdurchschnittlichen Zeitaufwand. Sie hat in der Wohnküche zwar eine Spüle, jedoch ohne Wasserzufluß und Abfluß. Das benötigte Wasser muß vom Gang auf der gleichen Ebene geholt und das Abwasser ebenfalls eimerweise am Gangbecken oder im WC entsorgt werden. Der Gang und ein Raum mit WC und installierter Waschmaschine, aber ohne Waschbecken, wird gemeinschaftlich mit einer anderen Partei benützt. Zudem ist nur fließendes Kaltwasser vorhanden. Wenn die Klägerin warmes Wasser benötigt, muß sie dieses am Herd wärmen. Die Klägerin kann sich das Wasser in kleinen Portionen von drei bis vier Liter pro Eimer mehrmals am Tag holen und wieder ausleeren. Wenn die Klägerin den Autobus benützt, kann sie Nahrungsmittel und Medizin selbständig bis zu 2 kg einkaufen. Für Großeinkäufe benötigt sie fremde Hilfe. Die Manipulation mit Geld ist ihr möglich. Die notdürftige Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände ist ihr möglich. Hilfe benötigt sie jedoch beim gründlichen Wohnungsputz. Die Klägerin kann ihre Bett- und Leibwäsche in der Maschine waschen, aber große Wäschestücke nicht alleine aufhängen und bügeln. Die Beheizung des Wohnraumes erfolgt mit einem Holz-Kohle-Zusatzherd. Wenn man der Klägerin das Heizmaterial zum Ofen bringt, kann sie anheizen, zulegen und die Asche ausräumen. Für die Fortbewegung benötigt sie keine Hilfe. Die nächste Haltestelle des öffentlichen Verkehrsmittels befindet sich 300 m vom Haus entfernt, das nächste Lebensmittelgeschäft etwa 1,5 km und die Ordination des nächstgelegenen praktischen Arztes etwa 3 km.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 17.6.1993 wurde der Antrag der Klägerin vom 28.4.1993 auf Gewährung des Hilflosenzuschusses abgewiesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage mit dem Begehren, die beklagte Partei zur Gewährung des Hilflosenzuschusses ab Antragstag bzw des Pflegegeldes der Stufe 2 ab 1.7.1993 zu verpflichten. Aufgrund ihres Zustandes sei die Klägerin ab Antragstag hilflos im Sinne des § 105 a ASVG; die erforderlichen Hilfeleistungen erforderten einen Aufwand, der den Voraussetzungen der Stufe 2 des Pflegegeldes entspreche.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei, der Klägerin ab 1.7.1993 Pflegegeld der Stufe 1 zu gewähren und wies das Mehrbegehren auf Leistung des Hilflosenzuschusses bis 30.6.1993, sowie des Pflegegeldes der Stufe 2 ab 1.7.1993 ab. Die Klägerin bedürfe nur für Großeinkäufe, den gründlichen Wohnungsputz und das Aufhängen und Bügeln großer Wäschestücke sowie beim Heizen fremder Hilfe. Es könne nicht davon ausgegangen werden, daß die Kosten für die Inanspruchnahme fremder Hilfe für diese Verrichtungen die Höhe des Hilflosenzuschusses erreiche, sodaß die Voraussetzungen für den Hilflosenzuschuß nicht erfüllt seien. Hinsichtlich des Begehrens auf Gewährung des Pflegegeldes ging das Erstgericht davon aus, daß die fixen Zeitwerte von je 10 Stunden für die in der Einstufungsverordnung zum Bundespflegegeldgesetz umschriebenen Hilfsverrichtungen schon dann zu berücksichtigen seien, wenn diese Verrichtungen vom Pflegebedürftigen nur zum Teil nicht selbst erledigt werden können. Demnach sei für den Einkauf, den Wohnungsputz, die Pflege der Wäsche und die Beheizung des Wohnraumes von einem Pflegebedarf im Ausmaß von 40 Stunden auszugehen. Darüber hinaus müsse die Klägerin kaltes Wasser zum Waschbecken transportieren, wenn sie heißes Wasser benötige, dieses vorerst am Herd erwärmen und das Abwasser wieder eimerweise entsorgen. Es sei der Klägerin unzumutbar, das für die Körperreinigung benötigte Wasser derart in "mehreren Angriffen" kleinweise herbeizutragen. Sie benötige daher auch Hilfe bei der täglichen Körperpflege. Ausgehend von dem dafür vorgesehenen Mindestwert von 2 x 25 Minuten täglich ergebe sich ein monatlicher Hilfsaufwand von 25 Stunden. Insgesamt bestehe daher ein Pflegebedarf von mehr als 50 Stunden monatlich, weshalb der Klägerin Pflegegeld der Stufe 1 gebühre.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und wies das Begehren der Klägerin zur Gänze ab. Es treffe nicht zu, daß die Klägerin für die tägliche Körperpflege fremder Hilfe bedürfe. Daran ändere auch nichts, daß die Klägerin das für das tägliche Waschen benötigte Wasser aus dem Gang in die Wohnung tragen und das Wasser jeweils in kleineren Mengen am Herd wärmen müsse. Im Hinblick auf die bescheidenen Wohnverhältnisse seien die Bedingungen, unter denen die Körperpflege zu verrichten sei, zwar umständlicher, die Klägerin könne aber die damit verbundenen Verrichtungen weiter allein besorgen, wenn sie jeweils nur kleinere Wassermengen trage. Daß damit ein erhöhter Aufwand an Zeit und Mühe verbunden sei, spreche nicht dagegen, daß die Klägerin imstande sei, diese Arbeiten selbst durchzuführen. Bei Wegfall dieses Pflegebedarfes werde aber die 50-Stundengrenze, die die Voraussetzung für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 bilde, nicht erreicht. Darüberhinaus gehe die Pauschalierung der Einstufungsverordnung davon aus, daß die mit einem fixen Zeitwert von jeweils 10 Stunden in Ansatz gebrachten Verrichtungen vom Pflegegeldwerber in einem bestimmten Mindestausmaß nicht verrichtet werden können. Der Ansatz der Verordnung könne nur dann zur Gänze herangezogen werden, wenn der bezeichnete Pflegebedarf täglich oder zumindest mehrmals wöchentlich anfalle. Da die Klägerin lediglich den Großputz der Wohnung nicht selbst durchführen könne, dieser aber nicht mehrmals wöchentlich anfalle, sei es auch nicht berechtigt, für diese Verrichtung einen Pflegebedarf von 10 Stunden zugrundezulegen. Ähnliches gelte für den Großeinkauf, weil die Klägerin kleinere Besorgungen bis zu einem Gewicht von 2 kg selbst ausführen könne; auch das Waschen der großen Wäsche sei nicht mehrmals wöchentlich erforderlich. Insgesamt ergebe sich, daß der Hilfsbedarf der Klägerin nicht 50 Stunden wöchentlich erreiche, so daß das Begehren auf Pflegegeld nicht berechtigt sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Urteil des Erstgerichtes wiederhergestellt werde.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Gemäß § 4 BPGG gebührt bei Zutreffen der Anspruchsvoraussetzungen Pflegegeld, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde. Gemäß § 4 Abs 2 besteht Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 50 Stunden beträgt. Der Anspruch auf Pflegegeld dieser Stufe hat daher zur Voraussetzung, daß das Bedürfnis nach Hilfe von dritter Seite im dargestellten Mindestausmaß besteht. Mit der aufgrund des § 4 Abs 5 BPGG erlassenen Einstufungsverordnung wurden Richtwerte für die Bemessung des Pflegebedarfes festgelegt. Gemäß § 3 dieser Verordnung ist Pflegebedarf insoweit nicht anzunehmen, als die notwendigen Verrichtungen vom Anspruchswerber durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel selbständig vorgenommen werden können oder könnten und ihm der Gebrauch dieser Hilfsmittel mit Rücksicht auf seinen physischen und psychischen Zustand zumutbar ist.

Hier steht fest, daß die Wohnung der Klägerin nicht dem allgemein üblichen Standard entspricht; die Klägerin hat kein Fließwasser in der Wohnung, sondern muß dieses bei der Wasserleitung am Gang in derselben Ebene entnehmen. Es ist entbehrlich, auf die Frage einzugehen, ob für die Frage des Pflegebedürfnisses von Verhältnissen auszugehen ist, die dem allgemeinen Standard entsprechen oder ob auf die konkreten Verhältnisse im Einzelfall abzustellen ist, auch wenn diese unter dem üblichen Standard liegen. Fest steht nämlich, daß die Klägerin auch unter den Bedingungen, unter denen sie lebt, die Körperreinigung allein durchführen kann. Sie muß zwar das Wasser in kleineren Mengen zutragen und wieder entsorgen sowie das Wasser auf dem Herd wärmen, doch rechtfertigt die Umständlichkeit der Verrichtungen noch nicht die Annahme eines Pflegebedarfes. Wie dargestellt mutet die Einstufungsverordnung dem Pflegegeldwerber die Verwendung einfacher Hilfsmittel zum Ausgleich bestehender Behinderungen zu. Nichts anderes ist aber die Verwendung kleinerer Gefäße bzw nur teilweise gefüllter Gefäße zum Zu- und Abtransport von Wasser. Dagegen, daß die Klägerin diese Tätigkeiten in der dargestellten Form allein verrichten kann, bestehen nach den Feststellungen keinerlei Bedenken. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß das Zutragen von Wasser in einzelnen Teilmengen unzumutbar wäre. Zutreffend ist daher das Berufungsgericht zum Ergebnis gelangt, daß die Klägerin für die Körperpflege keiner Hilfe von dritter Seite bedarf.

Es verbleibt sohin ein Pflegebedarf für das Herbeischaffen des Heizmaterials, für das Einkaufen, die Pflege der großen Wäsche und die gründliche Reinigung der Wohnung. Für jede dieser Hilfsverrichtungen ist gemäß § 2 Abs 2 Einstufungsverordnung ein fixer Zeitwert von 10 Stunden anzunehmen. Insgesamt ergibt sich daher ein Zeitwert von 40 Stunden für den erforderlichen Pflegeaufwand der Klägerin. Dieser Wert liegt unter der Mindestgrenze, die das Gesetz für den Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1 normiert. Es erübrigt sich daher ein Eingehen auf die vom Berufungsgericht behandelte Frage, ob in Fällen, in denen der Pflegegeldwerber jeweils nur einen Teil der in § 2 Abs 2 Einstufungsverordnung genannten Verrichtungen nicht selbst besorgen kann, eine Kürzung des in § 2 Abs 3 genannten Zeitwertes vorzunehmen ist. Selbst wenn der gesamte dort bezeichnete Zeitwert in Anschlag gebracht wird, besteht das erhobene Begehren nicht zu Recht, weshalb der Revision der Erfolg zu versagen war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zum Bundespflegegeldgesetz liegt bisher nicht vor. Die erstmalige Auseinandersetzung mit den Problemen der neuen Gesetzesmaterie in der Revision ist mit rechtlichen Schwierigkeiten verbunden, die ungeachtet des Unterliegens der Klägerin den Zuspruch der halben Kosten des Revisionsverfahrens rechtfertigen.

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