OGH 2Ob50/94

OGH2Ob50/9416.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Sophie F*****, *****, ***** vertreten durch Dr.Gottfried Eisenberger und Dr.Jörg Herzog, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagten Parteien 1.) Johann M***** jun, *****und 2.) Austria *****Versicherungs AG,***** vertreten durch Dr.Christian Flick, Rechtsanwalt in Graz, wegen Zahlung von S 244.428 und Feststellung, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 13.Jänner 1994, GZ 6 R 187/93-52, womit infolge Berufung der zweitbeklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Graz vom 29.Juni 1993, GZ 21 Cg 141/91-45, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben und das angefochtene Urteil, das hinsichtlich

a) der Feststellung der Haftung der zweitbeklagten Parteien für drei Viertel aller Schäden, die die Klägerin in Hinkunft auf Grund des Unfalles erleiden wird, der sich am 15.November 1990 in G*****, L*****straße, ereignet hat, wobei die Haftung auf die Haftpflichtversicherungssumme des mit Johann M***** *****,***** bezüglich des PKW Mercedes mit dem amtlichen Kennzeichen ***** abgeschlossenen Haftpflichtversicherungsvertrages beschränkt ist;

b) des Zuspruches eines Betrages von S 171.832 samt 4 % Zinsen aus S

85.582 vom 20.12.1990 bis 26.4.1992 und S 171.832 seit 27.4.1992;

c) hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zahlung von S 96 samt 4 % Zinsen seit 27.4.1992 und

d) hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zahlung von S 6.750 samt 4 % Zinsen aus S 3.000 vom 20.12.1990 bis 26.4.1992 und aus S

6.750 seit 27.4.1992

als Teilurteil in Rechtskraft erwachsen ist, im übrigen aufgehoben; zugleich wird auch das Urteil des Erstgerichtes in diesem Umfang aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind als weitere Verfahrenskosten zu behandeln.

Text

Begründung

Am 15.11.1990 ereignete sich in G***** ein Verkehrsunfall, an welchem die Klägerin und ihr Gatte Josef F***** im Zuge des Überquerens der L*****straße durch den vom Erstbeklagten - hinsichtlich dessen das Verfahren gemäß § 7 KO unterbrochen ist - gelenkten, bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW niedergestoßen und schwer verletzt wurde. Mit der Behauptung des Alleinverschuldens des Johann M***** ***** und unter Berücksichtigung einer Akontozahlung der Beklagten von S 45.668 begehrt die Klägerin S 244.428 (richtig: 244.332) und die Feststellung der Haftung der Beklagten für die Zukunft. Die Klägerin begehrt Schmerzengeld von S 250.000 und macht an Nebenforderungen S 13.000 geltend. Weiters begehrt sie die Zahlung von S 27.000 sA mit der Begründung, ihrem Ehegatten stünde eine Schmerzengeldforderung in dieser Höhe zu, er habe diese Forderung an sie abgetreten.

Zur Begründung des Schadenersatzanspruches brachte die Klägerin vor, Johann M***** ***** habe sie und ihren Gatten erstmals wahrgenommen, als sie bereits die Mitte des rechten Fahrstreifens erreicht hatten. Zufolge Einhaltung einer wesentlich überhöhten Geschwindigkeit von 60 km/h sei es ihm nicht gelungen, seinen PKW unfallverhindernd anzuhalten. Überdies hätte er die Möglichkeit gehabt, nach rechts auszuweichen.

Die beklagte Partei bestritt und wendete ein, das Alleinverschulden am Unfall treffe die Klägerin selbst. Johann M***** ***** habe weder eine unfallskausal überhöhte Geschwindigkeit eingehalten, noch seien ihm eine Reaktionsverspätung oder ein Beobachtungsfehler anzulasten. Vielmehr hätte die Klägerin Sicht auf den herannahenden PKW gehabt und diesen schuldhaft übersehen.

Das Erstgericht gab dem Feststellungsbegehren und dem Zahlungsbegehren hinsichtlich eines Betrages von S 215.332 samt 4 % Zinsen aus S 129.332,58 vom 20.12.1990 bis 26.4.1992 und aus S

215.332 ab 27.4.1992 statt; das Mehrbegehren hinsichtlich eines Betrages von S 30.096 "samt Anhang" wurde abgewiesen.

Über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinausgehend wurden im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Die Unfallsstelle befindet sich im Stadtgebiet von G***** auf der L*****straße. Diese verläuft in einer weit gezogenen Linkskurve annähernd in Nord-Süd-Richtung. Sie weist auf der Höhe des Einganges des Hauses L*****straße 30 eine Gesamtasphaltbreite von elf Metern auf, wobei allerdings ein Streifen in der Breite von zwei Metern am westlichen Fahrbahnrand frisch asphaltiert ist und derzeit als Abstellfläche dient. Vom östlichen Asphaltrand bis zur Leitlinie ergibt sich ein östlicher Fahrstreifen von 4,70 m. Die Straße ist im Unfallsbereich gut ausgeleuchtet. Weder nördlich noch südlich der Unfallsstelle, also des Bereiches des Zuganges zum Haus Nr 30, ist ein Schutzweg im Sichtbereich. Die gegenseitige Sicht vom östlichen Fahrbahnrand (Asphaltrand) ergibt sich bis zur Position 190 m südlich des Hauseinganges Nr 30 bzw der Querungslinie. Dies bezogen auf die normale Fahrlinie eines PKW in der Mitte des östlichen Fahrstreifens. Man kann vom östlichen Fahrbahnrand demnach aus einer Position 190 m südlich der Querungslinie Lichter auftauchen sehen.

Das östliche Rinnsal ist kleinschlaggepflastert und hat eine Breite von einem Meter.

Der Unfall ereignete sich am 15.11.1990 um ca 19 Uhr auf der Höhe des Hauses Nr 30. Johann M***** lenkte seinen bei der zweitbeklagten Partei versicherten PKW auf der L*****straße in nördlicher Richtung. Auf der Höhe des Hauses L*****straße Nr 30 begannen die Klägerin und ihr Gatte nebeneinander vom östlichen Straßenrand die Fahrbahn der Straße in westlicher Richtung zu überqueren. Die Klägerin hatte damals einen Stock als Gehhilfe in ihrer linken Hand; rechts neben ihr ging ihr Gatte locker eingehängt. In der Folge stieß Johann M***** mit der Stirnseite des PKW gegen beide Fußgänger, die dadurch zu Sturz kamen. Dabei wurden die Klägerin schwer und ihr Gatte leicht verletzt.

Als die Klägerin und ihr Gatte die Liebenauer Hauptstraße in westlicher Richtung zu überqueren begannen, befand sich der PKW des Johann M***** noch 231,5 m (laut Urteil des Berufungsgerichtes richtig 196 m) südlich der Unfallsstelle, also außerhalb des Sichtbereiches der Fußgänger.

Die Unfallsstelle liegt im Stadtgebiet, es besteht eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h. Die Geschwindigkeit des PKW betrug 60 km/h. Die Klägerin und ihr Gatte überquerten die Fahrbahn mit einer Gehgeschwindigkeit von 1,33 km/h bzw 0,37 m pro Sekunde. Nach einer Gehzeit von 9,73 Sekunden hatten sie auf der Fahrbahn einen Weg von 3,6 m zurückgelegt. 9,73 Sekunden vor dem Unfall befand sich der PKW des Johann M***** noch 155 m südlich der Unfallsstelle. Hätte M***** ab dieser Marke eine Geschwindigkeit von 50 km/h eingehalten, so wäre er 3,5 Sekunden später zur Querungsstelle der Fußgänger gekommen. Bei einer Querungsgeschwindigkeit von 1,33 km/h hätten die Fußgänger in dieser Zeitdifferenz von 3,5 Sekunden einen Querungsgewinn von 1,3 m erzielt. Dadurch wären die Fußgänger gerade außerhalb der linken Fluchtlinie des PKW gekommen. Der PKW hatte eine Breite von 1786 mm. Auch bei einer Fahrlinienverlagerung von 1,20 bis 1,30 m nach rechts wäre Johann M***** noch immer am rechten Fahrstreifen gefahren und wäre dadurch ein Vorbeikommen hinter den beiden Fußgängern möglich gewesen. Dies gilt auch für die durch M***** eingehaltene Geschwindigkeit von 60 km/h.

Die Klägerin war zum Unfallszeitpunkt gehbehindert und konnte sich nur langsam und mit kleinen Schritten fortbewegen.

Das Erstgericht folgte in rechtlicher Hinsicht dem Standpunkt der Klägerin und führte aus, diese und ihr Gatte hätten die Fahrbahn zu überqueren begonnen als sich der von Johann M***** gelenkte PKW noch außerhalb ihres Sichtbereiches befand, sie hätten unter Berücksichtigung einer Gehbehinderung der Klägerin zumutbare Eile an den Tag gelegt. Das Alleinverschulden am Zustandekommen des Unfalls habe daher Johann M***** zu vertreten, der unmittelbar vor dem Unfall mit seinem PKW eine unzulässig überhöhte Geschwindigkeit von zumindest 60 km/h eingehalten und überdies eine zumutbare, unfallverhindernde Fahrlinienverlagerung von 1,2 bis 1,3 m nach rechts unterlassen habe. Das Erstgericht ermittelte das Schmerzengeld der Klägerin mit 220.000 S, jenes ihres Gatten mit 27.000 S, die Nebenforderungen wurden mit 13.000 S außer Streit gestellt. Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte unter Berücksichtigung der geleisteten Akontozahlung von S 45.668 zur Bezahlung eines Betrages von S 215.332 (richtig: S 214.332) und wies ein Mehrbegehren in der Höhe von S 30.096 ab.

Hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zahlung von S 96 samt 4 % Zinsen seit 27.4.1992 erwuchs die Entscheidung mangels Anfechtung in Rechtskraft.

Das im übrigen von beiden Teilen angerufene Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge, hingegen teilweise jener der Beklagten; die angefochtene Entscheidung wurde insgesamt dahingehend abgeändert, daß dem Feststellungsbegehren zu drei Vierteln stattgegeben und die beklagte Partei verpflichtet wurde, der Klägerin den Betrag von S 171.832 samt 4 % Zinsen aus S 85.582 vom 20.12.1990 bis 26.4.1992 und aus S 171.832 seit 27.4.1992 zu bezahlen; das Leistungsmehrbegehren auf Zahlung eines weiteren Betrages von S

72.500 sA sowie das Feststellungsmehrbegehren auf Feststellung der Haftung zu einem weiteren Viertel wurden abgewiesen.

Die ordentliche Revision wurde nicht für zulässig erklärt.

Das Berufungsgericht wies darauf hin, daß die Klägerin nach Überschreiten des ein Meter breiten Rigols in der Zeit von 2,7 Sekunden noch einen Weg bis zur Unfallsstelle von 3,6 m in einer Zeit von 9,73 Sekunden zurückzulegen hatte. Demnach befand sich zum Zeitpunkte des Betretens der Fahrbahn durch die Klägerin - 9,73 Sekunden vor dem Unfall - der von Johann M***** gelenkte PKW im Sichtbereich von 190 m, nämlich ca 155 m südlich der Unfallsstelle. Zu dem Zeitpunkt, als die Klägerin das Rigol betrat, befand sich das Fahrzeug 196 m südlich der Unfallsstelle und somit außerhalb des Sichtbereiches der Klägerin. Daraus folge, daß die Klägerin ein Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalles treffe. Gemäß § 76 Abs 6 StVO dürften Fußgänger im Ortsgebiet die Fahrbahn nämlich außerhalb von Kreuzungen nur dann überqueren, wenn die Verkehrslage ein sicheres Überqueren der Fahrbahn zweifellos zulasse. Entsprechend dem Gebot des § 76 Abs 4 lit b StVO müßten Fußgänger vor dem Betreten der Fahrbahn sorgfältig prüfen, ob sie die Straße noch vor dem Eintreffen von Fahrzeugen mit Sicherheit überqueren können. Diesen Anforderungen habe die Klägerin nicht entsprochen, weil sie bei gehöriger Aufmerksamkeit zum Zeitpunkte des Betretens der Fahrbahn leicht erkennen konnte, daß sie deren 4,7 m breiten Fahrstreifen, auf dem sich der von Johann M***** jun gelenkte PKW näherte, vor dessen Eintreffen nicht mehr gefahrlos überqueren könne. Die Klägerin habe es an der gebotenen Vorsicht und Aufmerksamkeit beim Überqueren der Fahrbahn fehlen lassen. Dies sei mit einem Viertel zu bewerten.

Der Klägerin stünde aber, entgegen der vom Erstgericht vertretenen Ansicht, ein Schmerzengeld von 250.000 S zu, woraus sich eine Gesamtforderung der Klägerin von 290.000 S errechne; drei Viertel hievon ergeben S 217.500, abzüglich bezahlter S 45.668 verbleibe ein der Klägerin zustehender Betrag von S 171.832.

Während der klagsstattgebende Teil dieser Entscheidung in Rechtskraft erwachsen ist, erhob die Klägerin gegen die Klagsabweisung Revision mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß auch ihrem Leistungsbegehren auf Zahlung eines weiteren Betrages von S 72.500 sowie dem Feststellungsmehrbegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, dem Rechtsmittel der Klägerin keine Folge zu geben.

Hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zahlung von S 6.750 samt 4 % Zinsen aus S 3.000 vom 20.12.1990 bis 26.4.1992 und aus S 6.750 seit 27.4.1992 wurde die außerordentliche Revision mit Beschluß des Obersten Gerichtshofes vom 24.3.1994 zurückgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Hinsichtlich des verbleibenden Teiles ist die Revision zulässig, weil das Berufungsgericht - wie im folgenden noch darzulegen sein wird - von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes abgewichen ist; sie ist im Sinne ihres Eventualantrages auf Aufhebung auch berechtigt.

Die Klägerin wendet sich in ihrem Rechtsmittel dagegen, daß das Berufungsgericht das Rigol nicht der Fahrbahn zuordnet. Diese Rechtsansicht sei verfehlt, weil jener Teil der Straße, der als Rigol ausgebildet sei, jederzeit von den Fahrzeugen befahren werden könne. Daraus folge, daß die Klägerin beim Betreten der Fahrbahn, also zu jenem Zeitpunkt, zu dem sie den Gehsteig verließ und auf das Rigol trat, das Beklagtenfahrzeug noch nicht sehen konnte. Überdies habe die Klägerin den Fahrzeugverkehr beim Überqueren der Straße nicht behindert, weil es dem Lenker des Beklagtenfahrzeuges leicht möglich gewesen wäre, durch eine geringfügige und nicht unvermittelte Verlangsamung seines Fahrzeuges den Unfall zu vermeiden. Eine Behinderung des Fahrzeugverkehrs im Sinne des § 76 StVO liege nur dann vor, wenn das Verhalten des Fußgängers auf der Fahrbahn den Kraftfahrer zu einer Vollbremsung nötige. Eine derartige Nötigung zu einer Vollbremsung sei im vorliegenden Fall aber niemals erfolgt. Daß der Lenker des Beklagtenfahrzeuges schließlich eine Vollbremsung durchgeführt habe sei ausschließlich Folge seiner groben Unaufmerksamkeit.

Diese Ausführungen sind teilweise richtig:

Zutreffend hat das Berufungsgericht auf die Bestimmung des § 76 Abs 4 lit b StVO verwiesen, wonach an Stellen, wo der Vekehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt wird, Fußgänger, wenn ein Schutzweg nicht vorhanden ist, erst dann auf die Fahrbahn treten dürfen, wenn sie sich vergewissert haben, daß sie hiebei andere Straßenbenützer nicht gefährden; gemäß § 76 Abs 5 StVO dürfen Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn den Fahrzeugverkehr nicht behindern; außerhalb eines Schutzweges dürfen sie die Fahrbahn nur an Kreuzungen überqueren, es sei denn, daß die Verkehrslage ein sicheres Überqueren der Fahrbahn auch an anderen Stellen zweifellos zuläßt (§ 76 Abs 6 StVO). Es entspricht daher ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, daß Fußgänger vor Betreten der Fahrbahn sorgfältig zu prüfen haben, ob sie diese noch vor Eintreffen eines herannahenden Fahrzeuges mit Sicherheit überqueren können (ZVR 1984/112; 2 Ob 29/85 jeweils mwN). Es ist zwar richtig, daß der Grundsatz, eine geringfügige Verminderung der Geschwindigkeit sei dem vorrangberechtigten Kraftfahrer zuzumuten, ohne daß deshalb ein Verstoß gegen § 19 Abs 7 StVO vorliege, auch auf das Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers anzuwenden ist (ZVR 1984/213 mwN). Doch ist damit für die Klägerin nichts gewonnen, weil eine geringfügige Verringerung der Geschwindigkeit - unter Berücksichtigung der dem Lenker des Beklagtenfahrzeuges einzuräumenden Reaktionszeit - nicht ausgereicht hätte, um den Unfall zu verhindern. Im übrigen mußte die Klägerin die Vorrangsituation in ihrer tatsächlichen Gestaltung akzeptieren; der Vorrang geht auch durch ein vorschriftswidriges Verhalten eines im Vorrang befindlichen Verkehrsteilnehmers, etwa durch Einhaltung einer überhöhten Geschwindigkeit, nicht verloren; vielmehr ist es Sache des Wartepflichtigen, sich darauf einzustellen (ZVR 1982/238 uva).

Es ist daher im vorliegenden Fall für die Entscheidung wesentlich, wo sich der östliche Fahrbahnrand befand. Rechnet man nämlich das ein Meter breite "Rigol" dazu, dann war das Beklagtenfahrzeug zu dem Zeitpunkt, da die Klägerin die Fahrbahn betrat, außerhalb ihrer Sichtweite, sodaß ihr ein Mitverschulden nicht angelastet werde kann. Rechnet man hingegen das "Rigol" nicht zur Fahrbahn, dann war das Beklagtenfahrzeug zum Zeitpunkte des Betretens der Fahrbahn in Sichtweite der Klägerin, sodaß sie ein Mitverschulden trifft. Auf Grund der Feststellungen der Vorinstanzen läßt sich diese Frage aber noch nicht abschließend beurteilen. Randteile einer Straße sind nämlich nur dann rechtlich nicht der Fahrbahn zuzuzählen, wenn die Absicht der Straßenverwaltung, derartige Randteile ausschließlich anderen Zwecken als dem Fahrzeugverkehr zu widmen, den Straßenbenutzern augenfällig wird, wie dies etwa durch verschiedene Oberflächenbeschaffenheit beim Straßenbankett zum Ausdruck kommt (ZVR 1983/207). Diesbezüglich stellte das Erstgericht lediglich fest, "das östliche Rinnsal ist kleinschlaggepflastert und hat eine Breite von einem Meter". Diese Feststellung läßt eine verläßliche Beurteilung, ob die von der Klägerin zurückgelegte Strecke von einem Meter schon der Fahrbahn zuzurechnen ist oder nicht, nicht zu. Die von der Klägerin selbst in ihrem Rechtsmittel verwendete Bezeichnung dieses Streifens als "Rigol" besagt nicht, daß für die Straßenbenutzer augenfällig war, daß dieser Randstreifen nicht dem Fahrzeugverkehr diente.

Im fortgesetzten Verfahren wird daher das Erstgericht genaue Feststellungen darüber zu treffen haben, wie dieser Randstreifen beschaffen war, ob eine Widmung ausschließlich zu anderen Zwecken als dem Fahrzeugverkehr augenfällig war. Erst nach ergänzenden Feststellungen in der aufgezeigten Richtung wird eine abschließende Beurteilung der Frage, ob die Klägerin ein Mitverschulden trifft, möglich sein.

Die angefochtene Entscheidung war daher insoweit, als sie nicht bereits in Rechtskraft erwachsen ist, aufzuheben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.

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