OGH 4Ob519/94

OGH4Ob519/9414.6.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Gamerith als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kodek, Dr.Niederreiter, Dr.Redl und Dr.Griß als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ernst D*****gesellschaft mbH, ***** vertreten durch Dr.Heinz Bauer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei Stadtgemeinde I*****, vertreten durch DDr.Hubert Fuchshuber, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen Vorlage einer Urkunde (Streitwert S 100.000,--), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Berufungsgericht vom 10.Dezember 1993, GZ 2a R 661/93-20, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 9.September 1993, GZ 15 C 1569/92t-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 5.433,60 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 905,60 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Vertrag vom 22.12.1976 übernahm die Klägerin von der Beklagten für die Dauer von 15 Jahren Liegenschaften im Ausmaß von rund 142.719 m2 zur Errichtung und zum Betrieb einer öffentlichen Abfallbeseitigungsanlage. Die Klägerin verpflichtete sich, sämtliche Anlagen, Wege, Leitungen und sonstigen Vorrichtungen auf ihre Kosten vorzunehmen und den Betrieb am 1.12.1976 aufzunehmen. Die Beklagte übernahm die Verpflichtung, die von der städtischen Müllabfuhr erfaßten Abfälle an die Klägerin abzuliefern, wogegen die Klägerin, diese Abfälle gegen Entgelt abzunehmen und auf eine Weise zu verarbeiten und zu deponieren hatte, welche den jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen und behördlichen Anordnungen entspricht. Das Vertragsverhältnis sollte nach Ablauf von 15 Jahren von selbst ohne Aufkündigung enden. Eine Ablöse der von der Klägerin getätigten Investitionen ist nur für den Fall der vorzeitigen Auflösung des Vertrages vorgesehen. Die Beklagte vertritt den Standpunkt, daß der Vertrag durch Zeitablauf am 31.12.1992 geendet habe. Darüber ist beim Erstgericht ein weiterer Rechtsstreit anhängig.

Im Hinblick auf allfällige Verhandlungen über die Ablöse der von der Klägerin getätigten Investitionen erteilte die Beklagte der Firma T***** GmbH den Auftrag zur Erstellung eines Gutachtens. Der Befundaufnahme wurden Leute der Klägerin beigezogen. Die Klägerin hat über diese Investitionen auch Unterlagen, wie Aufträge an Dritte und deren Schlußrechnungen, zur Verfügung gestellt; diese wurden bei der Erstattung des Gutachtens verwertet. Das Gutachten ist zwar nicht streng gegliedert, doch lassen sich die Ausführungen über die Befundaufnahme und über die Bewertung (das Gutachten) ieS. ohne weiteres voneinander trennen.

Die Klägerin begehrt, die Beklagte schuldig zu erkennen, ihr den die Befundaufnahme enthaltenden Teil des Gutachtens über die von der Klägerin aufgrund des Abfallbeseitungsvertrages vom 22.12.1976 getätigten und geprüften Investitionen vorzulegen, Einsicht zu gewähren und auf ihre Kosten Fotokopien anfertigen zu lassen. Die Beklagte habe den Vertrag am 31.12.1992 aufgelöst; über das im Vertrag eingeräumte Vorpachtrecht der Klägerin bestehe Streit. Deshalb hätten die Streitteile Ablöseverhandlungen eingeleitet. An der Erstellung des von der Beklagten eingeholten Gutachtens habe die Klägerin maßgeblich mitgewirkt. Ohne diese Informationen wäre das Gutachten nicht möglich gewesen. Die Beklagte habe der Klägerin die Mitwirkung an der Gutachtenserstellung ausdrücklich aufgetragen. Die Klägerin habe ein rechtliches Interesse an der Einsichtnahme in den Befundteil dieses Gutachtens, weil die Ergebnisse der Befundaufnahme Einfluß auf die Ablöseforderung hätten. Daß die Beklagte dieses Gutachten nur für sich zur internen Willensbildung erstatten habe lassen, treffe nicht zu.

Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Die Streitteile seien nicht in Ablöseverhandlungen getreten, weil die Klägerin bei dessen Beendigung durch Zeitablauf nach dem Vertrag gar keinen Anspruch auf eine Ablöse habe. Da die Beklagte das Gutachten nur für interne Zwecke erstellen habe lassen, liege eine gemeinschaftliche Urkunde iSd Art XLIII EGZPO nicht vor; die Klägerin habe demnach keinen Anspruch auf Einsichtnahme, und zwar auch nicht in den Befundteil dieses Gutachtens. Überdies verfolge die Klägerin mit dem Anspruch nur den Zweck, sich Beweismittel für einen gegen die Beklagte beabsichtigten Rechtsstreit zu verschaffen. Schließlich ließen sich die Teile des Gutachtens, die die Befundaufnahme enthielten, und die Teile, welche als Gutachten zu bezeichnen seien, nicht trennen. Sämtliche Angaben im Gutachten über den Umfang der von der Klägerin getätigten Investitionen seien der Klägerin bekannt und entsprächen den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen. Soweit die Klägerin Auskünfte für die Erstellung des Gutachtens erteilt habe, sei dies ohne rechtliche Verpflichtung geschehen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es beurteilte das von der Beklagten in Auftrag gegebene Gutachten als gemeinschaftliche Urkunde der Streitteile und leitete daraus ab, daß die Beklagte zur Vorlage verpflichtet sei.

Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil des Erstgerichtes und sprach aus, daß der Wert des Entscheidungsgegenstandes S 50.000,-- übersteige und die ordentliche Revision zulässig sei. Die Beklagte habe das Gutachten zwar vornehmlich im eigenen Interesse erstellen lassen. Die dafür erforderliche Befundaufnahme habe aber auch dazu gedient, im Interesse beider Parteien die für die Bewertung der Investitionen der Klägerin erforderlichen gemeinsamen und unstrittigen Grundlagen zu erheben. Der Befundteil des Gutachtens sei daher als gemeinschaftliche Urkunde zu qualifizieren. Auch ein rechtliches Interesse der Klägerin an der Urkundenvorlage sei zu bejahen. Ein solches werde von der Rechtsprechung zwar immer dann verneint, wenn sich der Anspruchsteller durch die Einsichtnahme in Urkunden Beweismittel für einen beabsichtigten Rechtsstreit, insbesondere gegen den Besitzer der Urkunde, sichern will; in einem solchen Fall sei er auf die Urkundenvorlage gemäß § 304 ZPO im Prozeß zu verweisen. Die Klägerin sei aber nach dem insoweit unstrittigen Vertragsinhalt zur Mitwirkung an der Erstellung der Befundaufnahme verpflichtet gewesen. Daraus ergebe sich aber auch ein schutzwürdiges Interesse an der Einsichtnahme in die Ergebnisse dieser Befundaufnahme.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen von der Beklagten erhobene Revision ist nicht berechtigt.

Die gerügte Mangelhaftigkeit liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

Gemäß Art XLIII EGZPO kann die Vorlage einer gemeinschaftlichen Urkunde (§ 304 ZPO) auch außerhalb eines anhängigen Rechtsstreites im Wege der Klage gefordert werden. Der Verpflichtungsgrund besteht ausschließlich in der Gemeinschaftlichkeit des Urkundeninhalts und nicht auch in dem weiteren - ebenfalls außerhalb eines Prozesses denkbaren - Fall des § 304 Abs 1 Z 2 ZPO, daß der Gegner nach bürgerlichem Recht zur Ausfolgung oder Vorlage der Urkunde verpflichtet ist (vgl SZ 56/117, SZ 61/208 und VR 1992, 403). Als gemeinschaftlich gilt eine Urkunde insbesondere für Personen, in deren Interesse sie errichtet ist oder deren gegenseitige Rechtsverhältnisse darin beurkundet sind; als gemeinschaftlich gelten auch die über ein Rechtsgeschäft zwischen den Beteiligten oder zwischen einem derselben und dem gemeinsamen Vermittler des Geschäftes gepflogenen schriftlichen Verhandlungen (§ 304 Abs 2 ZPO). Im Interesse beider Parteien ist eine Urkunde errichtet, wenn sie angefertigt wurde, um den Streitteilen als Beweismittel zu dienen oder ihre rechtlichen Beziehungen zu förden; maßgebend dafür ist nicht der Urkundeninhalt, sondern der Errichtungszweck (SZ 56/117). Nur dann, wenn der Anspruchsteller und der Besitzer der Urkunde nicht durch ein gemeinsames Rechtsverhältnis verbunden sind, kommt es bei der Beurteilung der Gemeinschaftlichkeit auf den Inhalt der Urkunde an (SZ 61/208).

Ungeachtet des Umstandes, daß es hier die Beklagte war, die den Auftrag zur Erstellung des Gutachtens über die Investitionen der Klägerin erteilt hat, womit sie (auch) eine Grundlage für ihre interne Willensbildung bei den Ablöseverhandlungen mit der Klägerin ermitteln wollte, ist dennoch anzunehmen, daß die Urkunde im Interesse beider Parteien errichtet wurde. Die Streitteile sind durch einen Vertrag verbunden, welcher die Klägerin zur Errichtung bestimmter Anlagen und Einrichtungen auf den von der Beklagten zur Verfügung gestellten Grundstücken, die Beklagte aber im Fall der vorzeitigen Auflösung des auf bestimmte Zeit abgeschlossenen Vertrages zur Ablöse dieser Aufwendungen verpflichtete. Die Beklagte hat die Klägerin bei der Erstellung des Gutachtens beigezogen. Unbestrittenermaßen hat die Klägerin durch ihre Mitwirkung an der Befundaufnahme und die Vorlage von Urkunden über ihre Investitionen einen entscheidenden Beitrag zum Zustandekommen des Gutachtens geleistet. Zweck der Erstellung eines solchen Gutachtens konnte demnach nur sein, den Interessen beider Parteien als Beweismittel zu dienen oder ihre rechtlichen Beziehungen zu fördern bzw zu ordnen.

Von der Frage, ob die Klägerin aufgrund der Vertragslage tatsächlich Anspruch auf Ablöse ihrer Investitionen hat, hängt die Beurteilung des Gutachtens als gemeinschaftliche Urkunde nicht ab. Nach der Rechtsprechung ist ein Interesse beider Parteien nicht nur dann anzunehmen, wenn beide Parteien zur Mitwirkung an der Errichtung der Urkunde vertraglich verpflichtet waren. In der Entscheidung VR 1992, 403 wurde zwar das schutzwürdige Interesse an der Urkundenvorlage des Befundteiles eines Gutachtens bejaht, weil dort der Kläger gegenüber der Beklagten vertraglich verpflichtet war, sich (zum Zwecke der Erstellung eines Gutachtens) durch einen Arzt untersuchen zu lassen, doch schließt dies ein anderes gemeinsames Interesse an der Errichtung einer Urkunde nicht aus. Ein gemeinsames Interesse der Parteien an der Urkundenerrichtung liegt insbesondere schon dann vor, wenn sie angefertigt wurde, um die rechtlichen Beziehungen der Streitteile zu fördern (SZ 56/117). Die Frage, ob die Klägerin gemäß Punkt VIII.2. des Abfallbeseitigungsvertrages verpflichtet war, zum Zwecke der Erstellung des Gutachtens in ihre Geschäftsunterlagen Einsicht zu gewähren und die erforderlichen Aufschlüsse zu geben, muß daher nicht geprüft werden.

Gemäß Art XLIII EGZPO muß der Kläger neben den besprochenen Voraussetzungen der Vorlagepflicht des Gegners auch ein eigenes privatrechtliches Interesse an der Urkundenvorlage behaupten und beweisen (SZ 23/363; SZ 56/117; SZ 61/208; VR 1992, 403; Fasching II 99). Es trifft zwar zu, daß das Bestehen eines rechtlichen Interesses in Lehre und Rechtsprechung (SZ 61/208 mwN) immer dann verneint wird, wenn sich der Anspruchsteller durch die Einsichtnahme in Urkunden Beweismittel für einen beabsichtigten Rechtsstreit, insbesondere gegen den Besitzer der Urkunde, sichern will, weil er in diesem Fall auf die - im Rahmen eines anhängigen Verfahrens zu beantragende - Urkundenvorlage gemäß § 304 ZPO zu verweisen ist. Wurde aber die Urkunde - wie hier - schon deshalb im Interesse beider Parteien errichtet, um ihre rechtlichen Beziehungen zu fördern, dann ist das rechtliche Interesse der Klägerin an der Urkundenvorlage schon deshalb zu bejahen, weil sie sich dadurch Gewißheit darüber verschaffen kann, ob alle für die Beurteilung des strittigen Ablöseanspruches heranzuziehenden Daten bei der Errichtung der Urkunde berücksichtigt wurden. Eine Urkundenvorlage aus einem solchen Grund dient dann nicht mehr bloß der Vorbereitung eines Prozesses; sie kann vielmehr dazu beitragen, einen (weiteren) Prozeß zu verhindern.

Mit Recht haben daher die Vorinstanzen die begehrte Urkundenvorlage aufgetragen. Somit war der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO.

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