OGH 10ObS95/94

OGH10ObS95/9426.4.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Edith Söllner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Martin Pohnitzer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Rudolf Sch*****, vertreten durch Dr.Gerhard Hiebler, Rechtsanwalt in Leoben, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Anton Rosicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9.Dezember 1993, GZ 8 Rs 68/93-31, womit das Urteil des Landesgerichtes Leoben als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 10.März 1993, GZ 21 Cgs 113/92-26, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten der Rekursbeantwortung sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Das Erstgericht erkannte das auf eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1.10.1991 gerichtete Klagebegehren als dem Grunde nach zu Recht bestehend und trug dem beklagten Versicherungsträger die Erbringung einer vorläufigen Zahlung auf.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen war der Kläger, der das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig. Infolge seines körperlichen und geistigen Zustandes ist seine Arbeitsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Ua sind ihm eine Verlegung des Wohnsitzes (Kapfenberg) und Wochenpendeln nicht mehr möglich. Auch Tagespendeln ist ihm nur möglich, wenn die tägliche Fahrbewegung eineinhalb Stunden nicht übersteigt. Der Kläger besitzt keine Lenkerberechtigung und keinen eigenen Pkw. Von seinem Wohnort bis zum Bahnhof Kapfenberg oder zur nächsten Obushaltestelle in Fahrtrichtung Bruck an der Mur benötigt er 20 Minuten, für eine Obusfahrt nach Bruck an der Mur einschließlich des Anmarschweges zur Haltestelle 30 Minuten. Die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit des Klägers reicht zwar nicht mehr zur weiteren Ausübung seiner bisherigen Beschäftigung als Werksarbeiter und Seiler, wohl aber für die eines Portiers aus.

Nach der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichtes könne der Kläger jedoch auf die letztgenannte Tätigkeit nicht verwiesen werden, weil es innerhalb der ihm erreichbaren Umgebung seines Wohnortes sicher nicht mindestens 100 Portierstellen gäbe. Der Kläger sei daher mangels eines für ihn ausreichenden Arbeitsmarktes invalid iS des § 255 Abs 3 ASVG.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge, hob das erstgerichtliche Urteil auf, trug dem Erstgericht eine neuerliche, nach Ergänzung des Verfahrens zu fällende Entscheidung auf und sprach aus, daß der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei.

Es erachtete zwar die Rechtsansicht der Berufungswerberin für unzutreffend, daß im Falle des Klägers auch dann ein ausreichender Arbeitsmarkt bestehe, wenn im von ihm durch Tagespendeln erreichbaren Umkreis seines Wohnortes nur ein verhältnismäßiger Teil der für den gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt geforderten mindestens 100 geeigneten Arbeitsstellen bestünde. Zur abschließenden Beurteilung, ob in diesem noch genauer zu umschreibenden Umkreis insbesondere dann, wenn dieser Graz einschließe, nicht ohnehin mindestens 100 vom Kläger ausfüllbare Arbeitsplätze vorhanden sind, sei aber eine Ergänzung des Verfahrens erforderlich.

Gegen den Beschluß des Berufungsgerichtes richtet sich der Rekurs der Beklagten. Sie macht unrichtige rechtliche Beurteilung geltend und beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und (in der Sache selbst erkennend) das Klagebegehren abzuweisen.

Der Kläger erstattete eine Rekursbeantwortung, in der er beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO iVm § 45 Abs 4 und § 47 Abs 2 ASGG zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

Nach der Rsp des erkennenden Senates haben bei der Beurteilung der Verweisbarkeit solche Tätigkeiten außer Betracht zu bleiben, die auf dem allgemeinen österreichischen Arbeitsmarkt nicht mehr oder fast nicht mehr vorkommen. Sind in Österreich in den der Arbeitsfähigkeit des Versicherten angemessenen Verweisungsberufen nicht wenigstens 100 Stellen vorhanden, kann nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarktes gesprochen und der Versicherte nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden (SSV-NF 6/4 = DRdA 1992, 367 mwN; SSV-NF 6/56 mwN; SSV-NF 7/37 mit Stellungnahme zur teilweise kritischen Besprechung der erstangeführten E durch Harrer in DRdA 1992, 368).

Es entspricht auch der stRsp des erkennenden Senates, daß es für die Beurteilung der Invalidität oder Berufsunfähigkeit in der Regel nicht auf den aktuellen Wohnort des Pensionswerbers und die in diesem oder von dort durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsplätze ankommt, sondern auf die Zahl der in ganz Österreich vorhandenen, weil ihm diese bei zumutbarem Wochenpendeln und zumutbarer Verlegung des Wohnsitzes zur Verfügung stehen. Ist einem Pensionswerber allerdings - wie dem Kläger - infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes nur mehr Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln möglich, dann stehen ihm nur mehr die seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplätze in seinem tatsächlichen Wohnort und in dessen durch Tagespendeln in zumutbarer Weise erreichbarem Umkreis zur Verfügung (SSV-NF 7/18 und 37 jeweils mwN).

Die von der Rsp genannte Mindestzahl von - offenen oder bestetzten (SSV-NF 6/56 mwN) - Stellen dient entgegen der Ansicht des Berufungsgerichtes nur dazu, auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt fast nicht mehr vorkommende Tätigkeiten als Verweisungsberufe auszuscheiden.

Einem Pensionswerber, dem infolge seines Gesundheitszustandes zwar nicht mehr der gesamte österreichische Arbeitsmarkt, wohl aber ein regionaler Arbeitsmarkt offensteht, müssen jedoch auf dem von ihm erreichbaren Teilarbeitsmarkt nicht mindestens 100 für ihn geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Diesbezüglich genügt es vielmehr, wenn es in der betreffenden Region für an sich zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von - offenen oder besetzten - Stellen gibt, die die Annahme rechtfertigen, daß ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen kann.

Dies kann nur dann verläßlich beantwortet werden, wenn die ungefähre Zahl der am regionalen Arbeitsmarkt vorhandenen Stellen bekannt ist.

Die gegenteilige Rechtsansicht der Rekurswerberin, die das Vorhandensein einer dem Verhältnis zwischen gesamtösterreichischem und Teilarbeitsmarkt entsprechenden Zahl von Arbeitsplätzen auf dem letztgenannten Arbeitsmarkt als ausreichend ansieht, oder gar nur darauf abstellen möchte, ob auf dem gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt mindestens 100 Stellen vorhanden sind, könnte unter Umständen dazu führen, daß Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nur in ihrem Wohnort und in dessen näherem Umkreis arbeiten können, auch dann nicht als invalid gelten würden, wenn sie vom regionalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wären.

Da sich der Sachverhalt auch nach der Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs als ergänzungsbedürftig erweist, ist dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Der Vorbehalt der Entscheidung über den Ersatz der Kosten der Rekursbeantwortung beruht auf dem nach § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 52 Abs 1 ZPO.

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